Wissenschaftliches Wissen in der Öffentlichkeit

Seite 3: Nur Einzelfälle?

Wie gesagt, solche Mängel widerlegen nicht das Wissenschaftssystem als Ganzes. Verteidiger des Status quo tun das gerne als "bedauerliche Einzelfälle" ab. Meine eigenen Recherchen deuten aber darauf hin, dass Probleme gar nicht so selten sind, wie man das wünschen würde.

Und damit, um auf die Arbeit der Kölner Sozialpsychologen zurückzukommen, ist mit dem schlichten Hinweis auf das Gutachtersystem eine Chance vertan. Korrekt ist, dass wissenschaftliche Arbeiten weder vor noch nach dem Peer Review die Wahrheit für sich gepachtet haben. Das System basiert letztlich auf der einerseits oft profitorientierten (nämlich auf Seite der Editors) und andererseits meist ehrenamtlichen (bei den Gutachtern) Tätigkeit vieler Menschen.

Dass auch das Vier-Augen-Prinzip die großen Forschungsskandale der jüngeren Zeit nicht verhindern konnte, sollte uns vorsichtig stimmen. Praktisch haben die Peer Reviewer oft gar nicht Sicht auf die Originaldaten. Und wenn sie sie hätten, würde ihnen meist schlicht die Zeit fehlen, die vorliegende Arbeit wirklich von A bis Z nachzuvollziehen.

Ein Andachtspunkt ist auch das Thema "Replikation". Wissenschaftliche Daten sollen sich prinzipiell bei Wiederholung derselben Verfahrensschritte mehr oder weniger identisch bestätigen lassen. Wirklich gemacht wird das in der Praxis aber selten – vor allem darum, weil die Journals immer nur Neues wollen. Wird es doch einmal probiert, dann ist die Ernüchterung oft groß; oder findet man heraus, dass für eine vollständige Wiederholung wichtige Angaben fehlen.

Wissenschaft für Demokratie

Wissenschaft ist eine kulturelle Errungenschaft. Immer wieder werfen Bürgerinnen und Bürger – die mit ihren Steuern immerhin dafür bezahlen – die Frage auf, was ihr Nutzen sein soll. In einem demokratischen Rechtsstaat leisten wir uns eine ganze Reihe von Institutionen, man denke auch an Polizei und Justiz oder das Gesundheitswesen, für die diese Frage wahrscheinlich leichter zu beantworten ist.

Kurz gesagt lässt sich aber zumindest aufzeigen, dass Gesellschaften, in denen es keine freie Wissenschaft mehr gibt, meist ein jähes Ende nehmen: Sie werden autoritär, autokratisch, am Ende vielleicht gar totalitär und vernachlässigen andere wichtige Bereiche einer gesunden Gesellschaft (wie Bildung und Sozialwesen) zum Erreichen eines einzigen, allem Anderen übergeordneten Ziels (mit militärischen und geheimpolizeilichen Mitteln).

Besonders gerne wirft man Sozial-, Geisteswissenschaftlern und Philosophen vor, unnütze "Schwurbelei" zu betreiben. Interessanterweise sind aber bis heute Karl Marx (als Historiker und Philosoph) und Sigmund Freud (als Psychologe, obwohl eigentlich Arzt) die meistzitierten Wissenschaftler aller Zeiten. Und gemäß dem allseits fetischisierten quantitativen System ist das doch der schlagende Beweis für ihre Exzellenz! (An einer genaueren und besseren Antwort versucht sich Literaturprofessor Nuccio Ordine.)

Keine Wahrheitsgarantie

Der demokratische Rechtsstaat kann, soll und muss sich eine freie Wissenschaft leisten. In diesem Essay haben wir gesehen, dass der Verweis auf das Gutachtersystem aber keine Garantie für die Wahrheit ist. Die Vorveröffentlichungen haben zwar Nachteile – aber sicher auch Vorteile. Das gilt insbesondere dann, wenn die Gesellschaft und ihre Institutionen nicht jahrelang auf Antworten warten kann.

Kürzlich verwies ich auf eine wiederkehrende Befragung des Rathenau Instituts in Den Haag zum Vertrauen in die Wissenschaft (neben anderen Institutionen). Dieses stieg während der Coronapandemie – jedenfalls hier in den Niederlanden – sogar leicht. Allerdings beklagten Bürgerinnen und Bürger die Vielstimmigkeit aus der Forschungswelt. Widersprüchliche Antworten konnten sie schwerer einordnen.

Das ist dann eine Frage, die wir uns alle stellen sollten: Wollen wir lieber einfache "Wahrheiten", die sich schnell als falsch herausstellen können? Oder sehen wir der Komplexität der Welt ins Auge und erkennen wir an, dass die Wissenschaft eine wesentliche Wissensquelle ist – aber sich auch einmal irren kann?

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.