Wortwaffen im Einsatz: Wie die Normierung unserer Sprache den Diskurs vergiftet

Frau liegt erschöpft am Boden

Bild: Oscar Keys / unsplash

Moralischer Status wird zum gesellschaftlichen Ballast. Viele leiden an Empörungserschöpfung. Was dagegen unternommen werden kann. (Teil 2 und Schluss)

In seinem neuen Buch "Moralspektakel" analysiert der Berliner Philosoph Philipp Hübl, wie moralische Haltungen in der modernen Gesellschaft zunehmend als Statussymbole genutzt werden.

Er zeigt, wie sich öffentliche Debatten von sachlichen Diskussionen zu einem moralischen Wettrüsten entwickelt haben, bei dem es mehr um Selbstdarstellung als um tatsächliche Problemlösungen geht.

Grassierende Normierung der Sprache

Eine Attacke Philipp Hübls gilt der grassierenden Normierung unserer Sprache: Das Moralspektakel erkenne man geradezu an solchen immer neuen "Buzzwords", leeren, bestenfalls vagen Schlagworten wie "Mikroaggressionen", "Gaslighting", "Fatshaming", "Whataboutism", "Victim Blaming", "heteronormativ" oder "PoC". Dies sei Bullshit aus dem Wörterbuch des Gutmenschen, so der Philosoph.

Seiner Auffassung nach dienten die Wörter der modischen "inklusiven Sprache" manchmal auch einfach als Waffen.

Wie ein Schwert kann man sie im Duell zücken, entweder um sie als Hieb- und Stichwaffen einzusetzen oder um Angriffe von anderen zu parieren.

Philipp Hübl

Solche Begriffe würden oft nur halb verstanden: Zum Beispiel sind "Mikroaggressionen" in der Forschung eigentlich etwas ganz anderes, als sie in den sozialen Medien verwendet werden. Es handelt sich eben um Aggressionen, die niemandem bewusst sind und nur von Dritten beurteilt werden können.

Die Folge von alldem:

"Viele leiden an Empörungserschöpfung: Sie sind so überfordert damit, dass sich andere ständig über irgendetwas aufregen, dass sie mit ihrer eigenen Empörung gar nicht mehr hinterherkommen."

Kein linkes Phänomen

Ein gutes Beispiel für das Moralspektakel und dessen Abgehobenheit von gesellschaftlichen Realitäten ist die deutsche Debatte um Antirassismus.

Antirassismus ist in Deutschland vor allem ein moralisches Ereignis in dem es um die Selbstdarstellung von Unternehmen, Parteien, und sozialen Gruppen in den Diversity-Kampagnen geht.

Man sieht dies daran, dass es in den Werbekampagnen, von der Deutschen Bahn bis zu Mercedes, fast nur um schwarze Deutsche geht – vermutlich weil hier der Rassismus bzw. Antirassismus besonders sichtbar ist – nicht aber um asiatische Deutsche oder Deutsche aus lateinamerikanischen Ländern oder Ländern des arabischen Kulturraums.

Als ob dies irgendetwas mit der deutschen Wirklichkeit zu tun hätte. Hier erkennt man die völlig unkritische Übernahme des US-amerikanischen Rassismus-Diskurses auf die deutschen Verhältnisse. Die schwarze deutsche Community ist eher marginal im Vergleich zu anderen Gruppen und bestimmt nicht die einzige, die hierzulande von Rassismus betroffen ist.

Das Moralspektakel sei übrigens, so betont Hübl, kein linkes Phänomen:

Moralische Reinheit ist zwar am linken Rand deutlich verbreiteter als in anderen politischen Lagern, doch da im Kulturkampf alle erfolgreichen Manöver kopiert werden, kann man Hypersensibilisierung überall beobachten.

Neurechte Aktivisten zum Beispiel schüren die Angst vor der "frühkindlichen Sexualisierung" und bekommen schon dann einen Schluckauf, wenn in Aufklärungsbüchern für Schüler von homosexuellem Geschlechtsverkehr die Rede ist.

Philipp Hübl

Im moralischen Volksgericht

Wenn man danach fragen möchte, woher die neuen Werte und die seltsame Lust an moralischer und politischer Korrektheit denn nun eigentlich kommt, und nicht wie Hübl in den 1990er-Jahren, sondern wie der Autor dieser Zeilen schon in den 1980ern studiert hat, dann kennt man das vieles davon auch schon aus anderen Zusammenhängen.

Blicken wir beispielsweise auf Karl Heinz Bohrer und seine Aufsätze über Politik, Ästhetik und Moral im Merkur oder blickt man auf Richard Herzingers Buch "Die Tyrannei des Gemeinsinns", wo der Autor bereits 1997 "das Regiment der Spaßverderber" und "die Angst vor dem laisser-faire" beschrieben hat.

Im neuen moralischen Volksgericht der Moderne geben "Schrödingers Werturteile" den Ton an: Geschützt durch "Taktiken der Selbstimmunisierung" richten unprivilegierte, auch vom Bildungsprivileg befreite Menschen über "die Eliten".

Wie in stalinistischen Schauprozessen ist man in jedem Fall schuldig, egal ob man das eine sagt, oder sein Gegenteil. Einfach qua Zugehörigkeit. Denn:

Wer als Weißer nichts zur Black-Lives-Matter-Bewegung gesagt hat, hat sich schuldig gemacht: Schweigen ist Gewalt. Doch wer etwas gesagt hat, hat sich auch schuldig gemacht, denn er hat den Opfern den Raum genommen, von sich zu erzählen: Sprechen ist Gewalt. ...

Wer nicht anerkennt, dass Frauen Opfer des Patriarchats sind, ist ein Sexist. Doch wer Frauen als Opfer ansieht, spricht ihnen ihre Selbstbestimmung ab und ist ebenfalls ein Sexist.

Wer annimmt, dass Gewalt gleichzeitig im Sprechen und Schweigen besteht und dass Gruppen gleichzeitig Opfer und selbstermächtigt sind, fällt eine besondere Form von Werturteilen, die man Schrödingers Werturteile nennen kann.

Philipp Hübl

Die wichtigsten Wortwaffen

Hübl hat ein ausgezeichnetes Buch geschrieben – in der Grundhaltung, in der Vielzahl der Belege, ihrer Genauigkeit und ihres Niveaus.

Die allerbesten Passagen sind jene, in denen er "Buzzwords" des Gegenwartsdiskurses aufzählt und auseinandernimmt oder die wichtigsten Wortwaffen benennt und analysiert: "toxische Männlichkeit", "Mansplaining", "Trauma", "Community", "Narrativ".

Man kann damit moralische Vorwürfe formulieren, ohne sie empirisch belegen zu müssen, während das lateinische Edelsubstantiv gleichzeitig suggeriert, man habe eine echte Theorie zur Hand –, und "Diversität" – "das stärkste Zauberwort von allen (...) inzwischen ist das Zauberwort "Diversität" zum Progressivitätsmarker der kreativen Klasse geworden.

Es geht nur noch selten darum, Minderheiten vor Nachteilen zu schützen, sondern vornehmlich darum, im Wettbewerb zwischen Unternehmen und Institutionen seine Offenheit zu demonstrieren. (...) Doch statt auf Chancengleichheit, also auf den Input in das Karrieresystem, achten auch sie auf Gleichheit im Output, weil sich der ungleiche Endzustand besser eignet, um ein Moralspektakel aufzuführen.

Schon gar nicht geht es den Diversitätsbefürwortern um viewpoint diversity, also um eine Vielfalt von Meinungen und politischen Positionen. Im Gegenteil, mehrere Untersuchungen legen nahe, dass sich gerade die Hochgebildeten, die mehrheitlich progressive Akademiker sind, am wenigsten offen und tolerant gegenüber anderen politischen Meinungen zeigen und am stärksten zu einem moralischen "Absolutismus" neigen.

Sie sind also in Bezug auf Werte und Normen keine Fallibilisten, die davon ausgehen, dass sie sich in ihren Annahmen auch irren könnten.

Philipp Hübl

Hübl fordert die Abkehr von dieser Einschüchterungskultur und der ihr zugrundeliegenden Identitätspolitik. Er plädiert für weniger Bauchgefühl und mehr Empirie, für Fakten, moralische Bescheidenheit und "Diskussionskultur".

Das "Moralspektakel" sei verlockend, schade aber Politik und Gesellschaft. Hübls Plädoyer für Vernunft und Universalismus wird das Moralspektakel kurzfristig zwar nicht zum Verschwinden bringen. Aber es ist eine wirkungsvolle Schutzimpfung gegen den Wort- und Gedankensalat der schrecklichen Vereinfacher auf allen Seiten.

Philipp Hübl: "Moralspektakel. Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht"; Siedler Verlag, München 2024.

Philipp Hübl: "Bullshit-Resistenz. Wie wir uns vor Lügen, Fake News und Verschwörungstheorien schützen können", (ursprünglich Berlin 2018, jetzt in zweiter veränderter Auflage) München 2024.

Philipp Hübl: "Die aufgeregte Gesellschaft: Wie Emotionen unsere Moral prägen und die Polarisierung verstärken, C. Bertelsmann Verlag, München 2019.

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