Z.B. George Floyd

Seite 3: III. Eine neue antirassistische Protestbewegung und ihre Resonanz

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Dagegen geht eine neue Antirassismus-Bewegung seit sechs Jahren unter der Parole "Black lives matter!" auf die Straße und bringt es dieses Jahr sogar zu den größten Protesten der amerikanischen Geschichte. Die Parole selbst sorgt seit Jahren für viel Irritation und Ärger: An deren Anhänger ergeht immer wieder die empörte Aufforderung, doch gefälligst "All lives matter!" auf ihr Panier zu schreiben, um den schönen egalitären Prinzipien des Landes statt einer erneuten rassistischen Spaltung das Wort zu reden.

Die Aufforderung weisen die Demonstranten entschieden zurück - nicht nur deswegen, weil sie oft genug als Zurückweisung der Behauptung gemeint ist, es gäbe überhaupt den Rassismus, gegen den sie antreten, sondern auch und vor allem deswegen: Angesichts der Lage ist die weitere Beteuerung der offiziellen, egalitären Moral für sie nicht nur ein Hohn, sondern bringt aus ihrer Sicht das ganze Problem auf den Punkt.

Die Schwarzen sind und bleiben "die anderen" im amerikanischen Schmelztiegel, geächtet, angefeindet und ausgeschlossen

Denn hinter der Gleichberechtigung und der offiziellen Moral eines farbenblinden Egalitarismus erblickt die Protestbewegung - Belege sammeln die Schwarzen seit mehr als einem halben Jahrhundert - eine Feindschaft, die seit den Tagen der Segregation wenig von ihrer Schärfe verloren, stattdessen neue, egalitäre Gewänder bekommen hat.

Die Bewegung verweist dabei auf alles, was mit Gleichberechtigung und Egalitarismus offenbar zusammengeht: auf Lebensbedingungen, die so elend und so segregiert sind wie zu Zeiten der offiziellen Rassendiskriminierung in den Südstaaten; auf "mass incarceration" und ein "prison-industrial complex", durch die die Schwarzen massenhaft ins Gefängnis geschickt und als Bürger zweiter Klasse ausgespuckt werden; auf polizeiliche und private Schikanen und mörderische Gewalt, der sie zahlreich zum Opfer fallen. Der entnimmt die Bewegung, dass die Schwarzen von der Staatsgewalt und von der weißen Mehrheit nach wie vor als gefährliche Fremde im eigenen Land behandelt werden; und dass die Weißen, die sie nicht verachten, großteils unbeteiligt und gleichgültig zuschauen.

Zwar gibt es immer wieder Wellen der Empörung über Fälle von rassistischer Polizeigewalt, die auf Handys festgehalten werden und dann "viral" gehen, doch mit deren Verlauf hat die Community genügend ernüchternde Erfahrungen gesammelt: Polizeiliche und private Täter werden in der Regel freigesprochen oder nur geringfügig bestraft, die öffentliche Empörung legt sich schnell wieder, mündet allenfalls in ein folgenloses Bedauern - nach dem Motto: furchtbar, was denen mal wieder passiert ist. In den moralischen Kreis des nationalen "Wir" sind die Schwarzen trotz aller offiziellen Beteuerungen des Gegenteils nie aufgenommen worden. Und bei allen Ausnahmen, die zitiert werden, um das ewige amerikanische Rassenproblem für erledigt zu erklären - "Hat nicht ein Schwarzer sogar zwei Amtszeiten im Weißen Haus verbracht?" -, bleibt es dabei: Die Schwarzen sind und bleiben "die anderen" im amerikanischen Schmelztiegel, geächtet, angefeindet und ausgeschlossen.

Das trotzige Beharren der Bewegung darauf, dass der Wert schwarzen Lebens doch endlich etwas zu zählen habe, ist insoweit Ausdruck sowohl einer drastischen Lage als auch einer Desillusionierung. Wo die Feindschaft der Staatsgewalt und der Bevölkerung feststeht, kann es beim Beharren auf gleichen Rechten und den universellen Werten der Konkurrenz nicht bleiben: Ihre rechtliche Gleichstellung und ihre offizielle Aufnahme in den Kreis der vollwertigen Amerikaner schließen ihre praktische Anerkennung als gleichermaßen wertvolle Mitglieder des Gemeinwesens nicht nur nicht ein, sondern sind bloß die Form, in der die Feindschaft gegen sie perpetuiert wird. Daher: So sicher die Protestierenden sein mögen, dass sie die rechtlichen und offiziellen moralischen Prinzipien der Nation auf ihrer Seite haben, und so sehr sie auch "wahre Gleichheit" als Ziel ausgeben, so wenig wollen sie ihren Protest bloß als ein nochmaliges Ersuchen um Gleichberechtigung und als eine wieder mal aufgewärmte Beschwörung des Egalitarismus verstanden haben.

Diese Nation soll vielmehr ihren Rassismus endlich einsehen und das moralische Unrecht anerkennen, das Amerikas Schwarze erleiden, statt das alles mit Beteuerungen ihrer "eigentlichen" egalitären Unschuld abzustreiten und alles, was diesem Prinzip widerspricht, den berühmten "faulen Äpfeln" anzulasten. Wenn die Bewegung dafür auf die Straße geht, dann entsprechend rabiat; der Empörung über die Schäden, die dabei dem Eigentum ihrer unternehmerischen Nachbarn - "in ihren eigenen Vierteln!" - angetan werden, hält sie entgegen: Die Schwarzen werden ja offensichtlich nicht als Teil dieses freien und gleichen Gemeinwesens akzeptiert; dessen Ordnung erfahren sie zum größten Teil nur als Feindschaft gegen sie; Gründe für Gehorsam haben sie somit keine.

Der schwarze Nationalismus als Reaktion auf den weißen Nationalismus

Wie flächendeckend und institutionell verankert diese rassistische Feindschaft ist, wie verwoben mit dem ökonomischen, politischen und sittlichen "way of life" in den USA - das fällt politisch bewussten Schwarzen nicht zum ersten Mal auf. Vor gut 50 Jahren ist diese Überzeugung der Ausgangspunkt für eine "black power"-Bewegung, die es beim gewaltfreien, verfassungstreuen Ethos der von Martin Luther King angeführten Bürgerrechtsbewegung, bei deren Appellen an die Regierung in Washington, die soeben beschlossene Gleichberechtigung und Integration wirklich ernst zu nehmen und beherzt durchzusetzen, nicht belassen will.

Das zeugt in ihren Augen zwar von höchst ehrenwerten Motiven, aber eben auch von einer hoffnungslos idealistischen Ignoranz gegen die Feindschaft und Gewalt der regierenden wie regierten weißen Rassisten. Stattdessen besinnt sich diese Fraktion auf eine gewaltsame Offensive gegen die etablierten Autoritäten eines Landes, das das ihre offenbar nicht ist: Sie ruft zu einer Übernahme der von den Weißen monopolisierten Macht auf, und zwar "by the ballot or by the bullet" (Malcolm X).11

Sie reagiert auf den weißen Nationalismus ihrer Gegner mit einem eigenen, schwarzen Nationalismus, der aus der kollektiven Anfeindung der Schwarzen eine eigene, positive rassische Identität drechselt; die ist zwar - bis hin zur Kopie des rassistischen Kampfspruchs "white power!" - nach dem weißen Rassismus modelliert, soll aber ein guter sein, weil von den Opfern gegen die Bösen gepflegt. Die praktische Aktivität dieser Bewegung besteht zum großen Teil darin, ihren schwarzen "Brüdern und Schwestern" beizubiegen, dass sie nicht nur Opfer eines weißen Rassismus, sondern Mitglieder einer stolzen Rasse und eines verhinderten Volkes sind; dass ihr Volk und dessen Gedeihen vor ihren eigenen Berechnungen zu kommen haben; und dass ihr bisheriges Zaudern, gegen die weißen Machtstrukturen anzutreten, auf Volksverrat hinausläuft.

Dieser schwarz-nationalistische Befreiungswille ist schließlich auch der wesentliche Gehalt des Antikapitalismus, den manche Vertreter dieser Bewegung auch noch pflegen: Der ist gewissermaßen das ökonomische Pendant zum politischen Programm, die gesellschaftliche Macht für eine wahrhaft selbstbestimmte schwarze Community zu erobern.

Von einem solchen Kampf ist die "Black lives matter!"-Bewegung, die in der gleichen Ernüchterung ihren Ausgangspunkt hat, weit entfernt. Sie überführt die desillusionierte, militante, schwarz-nationalistische Offensive in eine aufrührerische Defensive:

Den Kampf gegen die amerikanische Staatsgewalt hat sie gegen eine Forderung eingetauscht, die für noch mehr Irritation als die "spalterische" Hauptparole sorgt: "Defund the police!", manchmal sogar "Abolish the police!"12 Die Parole bezieht sich auf die Erfahrung, dass die amerikanische Polizei gegenüber der schwarzen Community innerhalb und außerhalb ihrer Wohnviertel zunehmend wie eine Besatzungsmacht gegenüber einer von Feinden durchsetzten Bevölkerung auftritt - militärisch bewaffnet und mit der Lizenz, Jagd auf alles zu machen, was ihr verdächtig vorkommt. Dagegen setzt die Bewegung nicht den bewaffneten Kampf, sondern eine Forderung nach Abrüstung, nach einem Rückzug von der Front.

Mit dieser Forderung wird beim Staat auf einen fundamentalen Standpunktwechsel gedrungen - auch und gerade gegenüber dem Drogenkonsum und dem Verbrechen, denen er den Krieg erklärt hat und die die Schwarzen in ihren Vierteln durchaus auch beklagen. Das soll er nicht länger als ein Problem behandeln, das die Schwarzen sind, sondern als eines, das sie haben: als Fälle von beschädigter Volksgesundheit statt einer beschädigten Ordnung; als Erkennungsmerkmal nicht einer gefährlichen, kriminellen Community, sondern armer, perspektivloser, also gefährdeter Mitbürger.13

Die produktive kapitalistische Benutzung der Armut, die dann keine mehr ist

Einen solchen Perspektivwechsel - darauf verweist die Bewegung immer wieder - hat es in der Geschichte des amerikanischen Staates durchaus schon einmal gegeben, nämlich bei der Gründung des amerikanischen Sozialstaates vor einem knappen Jahrhundert. Mit dem berühmten "New Deal" sollte der damaligen amerikanischen Arbeiterklasse ermöglicht werden, von ihrer ausgiebigen Benutzung durch das amerikanische Kapital auch tatsächlich leben zu können - womit sich auch der praktische Bezug des Staates auf das Elend und die Unordnung unter den damals verachteten Iren und Italienern änderte.

Und auch heute plädiert der sozialdemokratische, für amerikanische Verhältnisse weit links stehende Flügel der demokratischen Partei für eine sozialstaatliche Reform nach diesem Muster - auch und gerade als Lösung, zumindest als Linderung der Lage in den schwarzen Ghettos. Mit dieser denkbar affirmativen, mit aller humanitären Selbstverständlichkeit geforderten Gleichung, wonach kapitalistische Armut nur als Schrei nach der Betreuung durch den kapitalistischen Staat zu verstehen ist, verlangt die "Black lives matter!"-Bewegung also gewiss nicht das Unmögliche.

Was sie dabei gegen sich hat, ist allerdings nicht wenig: nicht nur den breiten politischen Konsens im Lande, dass man dem ehernen amerikanischen Grundsatz bloß nicht zu nahe treten darf, wonach der gute Amerikaner für sich selbst sorgt, mit seinem Elend also selbst zurechtkommt, sondern auch den ganzen objektiven Stand des amerikanischen Kapitalismus. Der hat mit der subproletarischen Existenz eines Großteils der schwarzen Bevölkerung einfach kein Problem: Wie die armen Schwarzen mit ihrer Überflüssigkeit oder ihrer geringfügigen Beschäftigung und mit allen Folgen davon zurechtkommen oder eben auch nicht - das bereitet der Nation wirklich nur das Problem, das die Ordnungswächter in ihm sehen und mit dem sie auf ihre Art durchaus klarkommen.

Gleiches gilt übrigens auch für ihre weißen Klassenbrüder, deren viel beklagter Abstieg aus der "middle class" im Problembewusstsein der Öffentlichkeit vor allem deswegen mehr Raum einnimmt, weil der aktuelle Präsident sich auf sie für alles beruft, was er unter der Losung "America first!" beschließt. Was die Bewegung daraus folgert, ist eine Parole, die zur Abwechslung keine Irritation auslöst: "Jobs!" Kein Wunder, ist das doch die Lösung aller Feindschaften in dem freiesten Land der Erde, erst recht in Zeiten von "America first!": die produktive kapitalistische Benutzung der Armut, die dann keine mehr ist.

Angesichts dessen ist es seltsam ironisch, dass es der amerikanischen Öffentlichkeit wie ein großer Zynismus vorgekommen ist, als Trump mitten im Niederschlagen der Proteste verkündet, die positive Entwicklung der nationalen Beschäftigungszahlen würde dem im Himmel verweilenden George Floyd gewiss ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Zumindest in der Frage, in der sich wirklich alle guten Amerikaner einig sind, auch die sozial gesinnten "Black lives matter!"-Protagonisten, trifft Trump ins Schwarze.

Auch vom "black power"-Nationalismus hat die Bewegung ihren Antirassismus getrennt. Mit ihrer neuen Losung hat sie allerdings auch den Rassismus, gegen den sie antritt, von dem freiheitlichen Nationalismus geistig abgetrennt, dem er überhaupt entspringt. Der politische und patriotische Gehalt der Unmoral, die sie anprangert, wird so in ein moralisches Defizit, in eine inhumane Gleichgültigkeit aufgelöst. Zwar ist die moralische Anerkennung, die die Bewegung damit verlangt, sicher nicht so bescheiden gedacht; sie will dabei gewiss auf mehr hinaus als das billige Bekenntnis, das sie dem Wortlaut nach einfordert: die Zustimmung zur denkbar bescheidenen Überzeugung, dass schwarzes Leben nicht einfach egal ist.

So viel steht allerdings fest: Die vielen unverhofften Anhänger, die die Bewegung dieses Jahr auf die Straße begleiten und ihr öffentlichkeitswirksam moralisch die Daumen drücken, nehmen die Bewegung beim Wort - und führen ihr so vor, welchen affirmativen Gehalt ihre inzwischen weltweit millionenfach geteilte und mitgeteilte Marschparole wirklich hat. Was überhaupt nicht heißt, dass die Bewegung mit ihrer Parole nichts bewirkt hätte. Im Gegenteil: Abertausende weiße Amerikaner gehen mit auf die Straße, bilden vielerorts sogar die Mehrheit der Demonstranten, was bei den protestierenden Schwarzen den nicht unbegründeten Verdacht schürt, dass die erfreuliche aktuelle Resonanz - im gewaltigen Kontrast zu den gleichen Protesten vor fünf Jahren - sich weniger einer Einsicht in den "strukturellen Rassismus" gegen Schwarze als vielmehr der Empörung über die singuläre Unanständigkeit des blonden Ekels im Weißen Haus verdankt.

Daneben stürzen sich Millionen weiße Amerikaner in eine moralpsychologische Nabelschau, suchen nach dem inneren Rassisten, den sie in sich unwissentlich beheimatet haben, und bescheren dabei den Verlegern von antirassistischen Selbsthilfebüchern unverhoffte Umsätze. Wo sie es können, überfallen sie befreundete wie wildfremde Schwarze mit Bekenntnissen ihres Mitgefühls und ihrer eigenen Mitschuld aufgrund ihres "weißen Privilegs" - identifizieren sich höchstpersönlich mit ihrer Rasse, um es dann lauthals zu bedauern.

Derweil überbieten sich die Herren des Kommerzes im äußerst lukrativen Massensportsegment in Respektbekundungen für die Community, aus deren ärmlichen Verhältnissen sie so viele lohnende Figuren herausfischen und aufs Feld schicken. Und eine echte politische Wirkung gibt es auch noch: Eingefleischte "law and order"-Politiker aus der demokratischen Partei, die auf "Defund the police!" im besten Fall sehr ambivalente Antworten geben, knien sich beim eigenen Fotoshooting hin - auffällig statuenhaft, zwar ohne Bibel, dafür mit afrikanischen Tüchern um den Hals - und unterschreiben die Anklage, um sie an den faulen Apfel im Weißen Haus weiterzureichen. Als dessen passenden Ersatz bringen sie so ihre Partei und ihren Kandidaten ins Spiel - eine halbschwarze Vize-Kandidatin mit "law and order"-Vita hat sich auch schon gefunden. In den Korridoren der demokratischen Politik ist die Bewegung angekommen.

Peter Decker ist Redakteur der politischen Vierteljahreszeitschrift GegenStandpunkt, in dessen aktueller Ausgabe dieser Artikel ebenfalls erscheint. Weitere Infos unter gegenstandpunkt.com.

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