Zahl der im Land lebenden Muslime wird oft grotesk überschätzt
Nach einer internationalen Umfrage wird auch der künftige Zuzug von Muslimen überhöht wahrgenommen, auch sonst weichen Vorstellungen oft weit von der Wirklichkeit ab
Gestern veröffentlichte das Bundesamt für Migration (BAMF) den Migrationsbericht 2015. Danach gab es insgesamt 2,14 Millionen Zuzüge (2014: 1.464.724), während 997.551 Menschen Deutschland verließen, darunter 859.278 Ausländer. Der Wanderungsüberschuss lag bei 1.139.000 Menschen, etwa doppelt so viel wie 2014. Die Zahl der Einreisen lag bei 890.000, was Deutschland in Europa zum Zielland Nummer eins machte. 442.000 haben erstmals einen Asylantrag gestellt. Hauptherkunftsländer der Asylsuchenden waren Syrien, Albanien, Kosovo und Afghanistan. Bei den Zuzügen insgesamt kamen die meisten Menschen aus Syrien, gefolgt von Rumänien, Polen, Afghanistan, Bulgarien und Italien. Der Frauenanteil liegt sowohl bei den Zuzügen und Ausreisen bei etwa einem Drittel.
Von einer Überschwemmung durch Muslime lässt sich also nicht sprechen. Das BAMF-Forschungszentrum hat dazu auch eine Hochrechnung der Muslime durchgeführt, die in Deutschland Ende 2015 lebten. Zwischen 4,4 und 4,7 Millionen sollen es sein, so dass sie einen Anteil von 5,4 bis 5,7 Prozent an der Gesamtbevölkerung haben. Pädagogisch werden die Leser belehrt, dass das 5 bis 6 Personen in einer Gruppe von 100 Menschen seien. Allerdings sind in den letzten vier Jahren rund 1,2 Million Menschen muslimischen Glaubens nach Deutschland zugezogen, was den Anteil der türkischen Muslime von mehr als 67 Prozent 2011 auf 50 Prozent zurückgehen ließ.
Interessant in diesem Kontext ist eine Umfrage, die Ipsos in 40 Ländern zwischen Ende September und Anfang November durchgeführt hat. Eine der Haupterkenntnisse ist, dass die Menschen in Europa in der Regel die Zahl der Muslime, die in ihren Ländern lebt, weit überschätzen, ebenso gehen sie davon aus, dass der Anteil mit einer unglaublichen Geschwindigkeit zunimmt. Das könnte eine Folge der wachsenden Ausländerablehnung und vor allem der Anti-Islam-Einstellung sein, aber auch der Grund für eine wachsende Angst vor "Überflutung" und der Sorge vor einem Identitätsverlust. Wahrscheinlich bedingt sich beides gegenseitig und führt zur Einmauerungs- und Festungsmentalität.
Gefragt, wie viele Menschen in einer Gruppe von 100 in ihrem Land Muslime sind, sagten die Deutschen durchschnittlich 21, was heißt, dass manche die Zahl deutlich höher schätzen. Damit überschätzen die Deutschen die wirkliche Zahl um das Vierfache. Unter den 40 Staaten liegt Deutschland an fünfter Stelle. An erster Stelle haben die Franzosen ein falsches Wirklichkeistbild. Sie glauben, dass mit 31 Personen schon fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung Muslime sind, dabei sind es 7,5. Man muss davon ausgehen, dass vor allem der Front National und andere Rechtskonservative oder Rechtsnationale hier überzeugende Arbeit geleistet haben, so dass hier viele Menschen offenbar sich nicht mehr wirklich selbst umschauen. Auch in Südafrika, den Philippinen und Italien weicht Wirklichkeit von Vorstellung deutlich ab.
Auch in Belgien, den USA, Russland und Kanada ist die Abweichung groß, wie fast durchweg in den europäischen Ländern. Nur dort, wo man wie in Polen, Ungarn oder der Tschechischen Republik Zuwanderung abwehrt, ist die Einschätzung zwar auch noch überhöht, aber doch schon realistischer. In der Tschechische Republik glauben die Menschen etwa, unter 100 Personen würden 3 Muslime sein, in Wirklichkeit sind es weniger als 0,1.
Die Frage, wie viele Muslime im Land bis 2020 sein werden, führt zu ebensolchen grotesken Überschätzungen wie Vorhersagen auf wissenschaftlicher Basis. Die können freilich in die Irre gehen, da 2015 wohl niemand mit einer derart hohen Zuwanderung nach Europa gerechnet hat und man je nach Annahmen auch weiterhin von einer steigenden Zuwanderung ausgehen könnte. In Deutschland glauben die Menschen nach der Umfrage, dass bis 2020 von 100 Personen 31 Muslime sein werden, nach der Vorhersage würden es 8,5 sein. Wieder sind die Franzosen am meisten der Panik verfallen, hier geht man von 40 Muslimen aus, vorhergesagt sind 8,3.
Südafrika, Belgien, Kanada und Italien liegen vor Deutschland, die USA kommen aber gleich danach. Hier schätzen die Menschen, es würden 21 pro 100 sein, nach der Vorhersage wären es 1,1. Das zeigt, wie leicht die Menschen zu beeinflussen sind und dass Trump hier auf ein "richtiges" Pferd gesetzt hat. Tschechen und Japaner haben die geringsten Abweichungen, allerdings übertreffen die Erwartungen hier auch bei Weitem die Vorhersagen. Die liegen bei 0,2, die Japaner gehen von 6, die Tschechen von 4 aus, was heißt, die Japaner überschätzen die Zahl um das Dreißigfache, die Tschechen um das Zwanzigfache. So gesehen sind die Deutschen viel realistischer, wenn sie mit weniger als dem Vierfachen danebenlangen, während die Amerikaner sich um das Zwanzigfache verschätzen.
Nur Russen und Serben glaubten mehrheitlich an einen Wahlsieg von Trump
Man kann davon ausgehen, dass in den Ländern, wo die Fehleinschätzungen besonders hoch sind, die Menschen auch leichter durch Angst- und Übertreibungskampagnen beeinflusst werden können bzw. sich die Angst weiter nach oben schraubt. Daher ist mittlerweile auch Deutschland ein Land, in dem antimuslimische Projektionen gedeihen und entsprechende Bewegungen und Parteien, die auf die Ängste zielen, weiter Erfolge erzielen können, so lange eine nüchterne und realistischere Wahrnehmung keine Chance gegenüber der Vorstellung hat. Diese ist mächtiger, weil emotional aufgeladener, weswegen die kühlere Aufklärung oft den Kürzeren zieht.
Bekannt ist auch, dass Menschen gerne an Vorstellungen festhalten, auch wenn allgemein bekannt ist, dass sie nicht stimmen. Das war etwa der Fall bei den irakischen Massenvernichtungswaffen, als die Bush-Regierung mit Unterstützung der Geheimdienste und der Blair-Regierung sowie zu Beginn auch der Mainstreammedien gute Arbeit beim Lügen und Verbreiten von Fake News leistete, aber viele Amerikaner noch Jahre danach an der Überzeugung festhielten, dass es diese gibt, obgleich die Regierung selbst einräumen musste, dass man keine gefunden hat. Geradezu grotesk ist, dass die Bush-Regierung dem Hussein-Regime Lug und Trug vorwarf, während sie genau das selbst mit großem Aufwand machte, um einen Kriegsgrund zu fabrizieren (Kognitive Immunität vor Informationsflut).
Überschätzt wird auch, wenn nach dem Anteil der ärmsten 70 Prozent am gesamten Haushaltsreichtum gefragt wird, am stärksten in Indien, aber auch in den USA gehen die Menschen davon aus, dass die Menschen reicher sind, als dies der Wirklichkeit entspricht. Das hat natürlich auch politische Konsequenzen. Realistischer ist man da in den europäischen Ländern. Die Deutschen liegen hier im Mittelfeld und glauben der Anteil liege bei 27 Prozent, während er in Wirklichkeit bei 12 Prozent liegt.
Nicht nur die Meinungsforscher haben sich bei der Vorhersage der Präsidentschaftswahl in den USA geirrt, sondern auch die meisten Menschen. Nur in Russland und Serbien hatte eine Mehrheit geglaubt, dass Trump das Rennen gewinnen wird (wussten die von der angeblich russischen Beeinflussung?). Ansonsten glaubten oder hofften große Mehrheiten, dass Clinton gewinnen wird, und räumten Trump praktisch keine Chance ein, in Deutschland sahen gerade einmal 14 Prozent einen Erfolg von Trump voraus.
Auch in anderen Einschätzungen liegen viele Menschen falsch. So gehen alle Befragten in den 40 Ländern davon aus, dass die Menschen weniger glücklich seien, als Umfragen ergeben, in denen Menschen sagen sollten, wie sie sich selbst einschätzen. Hier ist die Abweichung bei den Südkoreanern am höchsten, unter den Europäern verschätzen sich die Polen und die Ungarn am stärksten. Interessant ist auch das Ergebnis der Frage, wie groß der Anteil der Menschen im Land sei, der Homosexualität verwerflich findet. In den meisten westlichen Ländern wird dies weit überschätzt. Die Deutschen glauben, 33 Prozent ihrer Landsleute würden Homosexualität verwerflich finden, in Wirklichkeit sagten dies in Umfragen 8 Prozent. Unterschätzt wird dies hingegen in Indonesien, Südafrika oder Indien. Ähnlich sieht bei der Frage nach der Akzeptanz von außerehelichem Sex aus. Besonders unterschätzt wird dies in China, Indonesien und der Türkei. Die Türken schätzen, dass 72 Prozent ihrer Landsleute außerehelichen Sex ablehnen, es sind allerdings 91 Prozent.
Fies ist der von Ipsos über alle Fragen/Antworten erstellte Index der Ignoranz. Am weitesten neben der Wirklichkeit liegen Inder, Chinesen, Taiwanesen und Südafrikaner, die US-Amerikaner liegen an fünfter Stelle des Unwissens, die Russen, die ja unter der verfälschenden Glocke der Staatsmedien narkotisiert leben sollen, kommen erst an 14. Stelle. Die Deutschen hingegen sind trotz (oder wegen?) Lügenpresse einigermaßen nach diesem Index korrekter und kommen auf Platz 34. Südkoreaner, Briten und Niederländer haben am genauesten geantwortet.