Zahlen statt Hysterie: Was Russland wirklich kann – und was nicht

Manöver lettischer Soldaten an der Nähe der russischen Grenze, Juni 2024.

Manöver lettischer Soldaten an der Nähe der russischen Grenze, Juni 2024. Bild: Radowitz / Shutterstock.com

Russland bedroht Europa – diese Angst sitzt tief. Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Was also steht hinter den Warnungen vor einer Expansion? (Teil 2 und Schluss)

Im ersten Teil der Analyse konnten wir schon sehen, wie die Gespräche zwischen den USA und Russland sowie Trumps Diplomatie-Push für die Ukraine Entsetzen in Europa auslöste. Warum wehren sich die Europäer derart vehement gegen Enspannungspolitik?

Russland kennt keine Grenzen

Das Argument ist seit drei Jahren immer das gleiche, warum man nicht mit Putin verhandeln könne: Russland sei nicht zu trauen und wolle Europa an sich reißen. Dieses Argument ist in den Köpfen derart fest verankert, dass niemand mehr die offensichtlichen Widersprüche und Fehlannahmen in der Anti-Russland-Rhetorik erkennen kann, obwohl sie offen zutage liegen.

In seiner Fernsehansprache am Mittwochabend warnte der französische Präsident Emmanuel Macron, dass die russische Aggression "keine Grenzen kenne", sie nicht bei der Ukraine halt mache und eine direkte Bedrohung für Frankreich darstelle. Es müsse weitergekämpft werden, bis die Ukraine eine solide Basis für Verhandlungen errungen habe.

Schon rund um den Londoner Gipfel am letzten Wochenende hatte Macron erklärt, dass, wenn Putin nicht aufgehalten werde, er "mit Sicherheit nach Moldawien und vielleicht sogar weiter nach Rumänien vorrücken" wird."

Erst die Ukraine, dann Europa

Der Eurasien-Experte Anatol Lieven vom Quincy Institute in den USA fragt, woher Macron das mit "Sicherheit" wisse. "Hat Putin das gesagt? Hat er nicht wiederholt gesagt, dass dies ‚völliger Unsinn‘ sei, und entspricht dies nicht dem offensichtlichen Gleichgewicht zwischen russischen Risiken und Verlusten gegenüber möglichen Gewinnen?"

Sicherlich habe die russische Invasion in der Ukraine den Glauben an territoriale Ambitionen Russlands und Feindseligkeit gegenüber dem Westen genährt, so Lieven. Aber die These vom russischen Expansionismus sei nicht haltbar und in sich wiedersprüchlich.

So wird z.B. einerseits behauptet, dass Moskau eine Obsession mit der Ukraine habe, während andererseits das gerade nicht für die Nato-Staaten wie Polen, Rumänien oder gar Westeuropa zutrifft, die Putin angeblich einnehmen will.

Was Russland in der Ukraine will

Was die Absicht angeht, verweist der Friedensforscher Ingar Solty darauf, dass Russland im Krieg keine strategischen Ziele jenseits der Ukraine verfolge. Putin wollte zu Beginn des Krieges den rohstoffreichen Donbass annektieren, eine Landbrücke zur 2014 eingegliederten Krim errichten und einen "Regime Change" in Kiew erzielen, um zu garantieren, dass die Ukraine neutral bleibt und nicht zu einem Außenposten der Nato und der USA wird.

Solty macht dabei deutlich, dass die Truppenstärke die Kriegsziele Moskaus unterstreiche. Russland habe 190.000 Soldaten in die Ukraine gesendet, in ein Land mit 44 Millionen Einwohnern und der doppelten Größe von Deutschland.

Zum Vergleich: 1939 marschierte Nazi-Deutschland mit 1,5 Millionen Soldaten in Polen ein (das vergleichsweise kleiner und bevölkerungsärmer war und viel schlechter verteidigt wurde), unterstützt durch Luftangriffe von fast 900 Bombern und mehr als 400 Kampfflugzeugen. Als Deutschland seinen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion begann, setzte es drei Millionen Soldaten ein, die größte Invasionstruppe, die jemals in der Weltgeschichte aufgestellt wurde, die jedoch glücklicherweise bald ihre Ziele verfehlte.

Papiertiger Russland vs. allmächtiger Hegemon

Auch wird von denen, die Russland einen Eroberungsfeldzug unterstellen, nicht zwischen Absicht und Fähigkeit unterschieden. Das führt dann zu absurden Annahmen.

So hört man in Schleife insbesondere in Europa, dass die Ukraine nur noch diese oder jene Waffe brauche, um den Sieg über Russland zu erringen. Das russische Militär stehe danach kurz vor dem Zusammenbruch. Russland wird in diesem Narrativ zum Papiertiger erklärt.

Andererseits erhebt man Russland gleichzeitig zur ultimativen militärischen Bedrohung für Europa und die Welt. Obwohl das russische Militär nicht einmal fähig war, Kiew und andere Städte direkt an der russischen Grenze einzunehmen, von einer mutigen ukrainischen de facto Bürgerwehr zurückgeschlagen wurde und keine wesentlichen weiteren Eroberungen seit drei Jahren jenseits der Kontaktlinie in der Ostukraine machen konnte, soll es auf dem Sprung sein, Richtung Westen zu marschieren und sich Europa Stück für Stück einzuverleiben.

Der Nazi-Vergleich

Solty bringt die substanzlose Hysterie auf den Punkt. Anstatt sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, sei es leichter …

das Holocaust-relativierende Narrativ, Putin sei wie Adolf Hitler, sein Krieg in der Ukraine sei ein "Vernichtungskrieg" (wie der Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Berthold Kohler, den Vernichtungskrieg Nazi-Deutschlands im Osten relativierte, in dem in weniger als vier Jahren siebenundzwanzig Millionen Sowjets getötet wurden), zu übernehmen und fortzuführen; dass Russland plant, in Europa einzumarschieren; und dass Russland Polen erobern und auf das Brandenburger Tor in Berlin marschieren wird, wie die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (eine Grüne) voraussagt, wenn Europa nicht bis 2029 "kriegsfähig" und "auf einen Krieg mit Russland vorbereitet" wird und sich in einen autoritären Garnisonsstaat verwandelt.

Den Kampf um die Ostukraine mit Europa unter der Naziherrschaft und dem 2. Weltkrieg in eins zu blenden, um Diplomatie weiter zu diskreditieren und zu blockieren, ist nicht nur verantwortungslos, sondern auch falsch – in Hinsicht auf die Dimension der Eroberung unter Hitler; die offensichtliche Nazi-Ambition endloser Landnahme bei gleichzeitiger Verweigerung jeglicher Gespräche; die militärischen Fähigkeiten des deutschen Heeres und die Tatsache, dass Hitler bei der Invasion der Alliierten, um den Weltkrieg zu beenden, eben keine Atomwaffen besaß.

Verglichen mit Hitler-Deutschland, aber auch der Nato, ist Russland tatsächlich ein Papiertiger. Nur ein Beispiel: Um allein Moldawien zu erreichen, müssten die Russen zuerst die Südostukraine einnehmen. Aber nicht einmal Odessa ist für die russischen Streitkräfte seit drei Jahren unerbittlicher Mobilisierung und blutigem Aderlass in Reichweite.

Kräfteverhältnis Europa vs. Russland

Russland kann zudem auf allen Gebieten nicht mit Europa oder der Nato mithalten. Die Militärausgaben liegen in Russland nach riesigen Sprüngen in den letzten Kriegsjahren nun bei 140 Milliarden Dollar. Die Ausgaben der EU-Staaten (ohne Großbritannien) liegen weit darüber, bei 313 Milliarden Dollar.

Die Nato-Staaten geben insgesamt 1.341 Milliarden Dollar fürs Militär aus, fast das Zehnfache, davon sind 916 Milliarden von den USA. Gleichzeitig besitzen Großbritannien und Frankreich Atomwaffen, während in Deutschland US-Nuklearbomben jederzeit einsatzfähig sind (nukleare Teilhabe).

Russland hat 143 Millionen Einwohner, die EU ohne Großbritannien 450 Millionen – was die Mobilisierungsfähigkeit Russlands weit in den Schatten stellt. Das östliche Schwellenland hat zudem, trotz seiner riesigen Rohstoffvorkommen und einer relativ großen Bevölkerung, eine daran gemessen mickrige jährliche Wirtschaftsleistung von rund zwei Billionen Dollar. Allein Deutschlands BIP liegt bei dem Doppelten, bei vier Billionen, für die EU-Staaten sind es 17 Billionen.

Wer also sagt, dass Russland weiter expandieren und Nato-Staaten militärisch einnehmen will, wenn die Truppen in der Ukraine nicht geschlagen und in Europa massiv aufgerüstet wird, der lebt in einer Phantasiewelt. Europa ist Russland bereits jetzt in allen Punkten weit überlegen. Moskaus Machtreichweite ist extrem begrenzt, ganz zu schweigen von der nicht vorhandenen strategischen Ambition.

Die absurde "Mad-Man"-Theorie

Vor allem unterstellen die Expansionsvertreter, dass die russische Führung suizidal-irrational veranlagt ist (also die Realität komplett ausblendet) und die eigene Zerstörung wie die der ganzen Welt in einem (atomaren) Schlagabtausch mit der Nato anvisiert. Denn das wäre die Folge eines russischen Feldzugs gegen das Bündnis.

Diese "Mad-Man"-Annahme (Putin ist ein unberechenbarer Psychopath, der zu allem fähig ist), unterfüttert mit "Putin-gleich-Hitler"-Vergleichen, verträgt sich aber nicht mit den Attacken auf diejenigen, die auf die Welt- und Atomkriegsgefahr im Ukraine-Krieg verweisen. Das wird als "Putin-Propaganda" abgetan, um die vom Westen ermöglichte Ukraine-Kriegseskalation von Kritik abzuschirmen.

Jetzt wird demgegenüber unterstellt, dass Putin nicht irrational handeln würde, wenn die Nato ihn in die Enge drängte und die russischen Truppen aus der Ukraine vertriebe – was ja das Ziel von Kiew sowie seinen militärischen Unterstützern ist. Nun geht man davon aus, dass die russische Führung nicht auf Eskalation um jeden Preis setzen würde (z.B. mit Angriffen auf Nato-Einrichtungen oder dem Einsatz taktischer Nuklearwaffen), sondern rational handelt und Putin friedlich seine Koffer packt.

Russland mit solch absurden, sich selbst widersprechenden Unterstellungen zu dämonisieren, um die sicherlich kriminelle Invasion zu einem Auftakt für einen Angriff auf ganz Europa zu stilisieren und den Kontinent gegen Russland massiv aufzurüsten, ist fatal.

Europäer sollten den USA folgen

Die Europäer sollten endlich die Realität zur Kenntnis zu nehmen und eine Chance darin sehen, dass die USA endlich wieder mit Moskau reden, und mithelfen, die Lage zu entspannen und Verhandlungen voranzutreiben.

Die Lösung wird, wie immer sie aussieht, Ungerechtigkeiten für die Ukraine in sich bergen und den Aggressor in gewisser Weise belohnen. Aber das ist kein Appeasement, sondern der einzige realistische Weg, die Gefahren zu bannen, den Konflikt zu entschärfen und das sinnlose Sterben zu beenden.

Durch die Neuausrichtung der Ukraine-Politik im Zuge der US-Regierung unter Trump hat sich die Verhandlungsposition, wie schon angedeutet, bereits verschoben und ein Fenster für Diplomatie geöffnet. Die Ukraine ist jetzt bereit zu Verhandlungen mit Russland und verlangt nicht mehr die vollkommene Kapitulation von Moskau.

Es gibt keine absoluten Sicherheitsgarantien

Beim Streit mit Trump und Vance wurde darüber hinaus klar, wo der aktuelle Streitpunkt liegt. Selenskyj, wie auch die "Koalition der Willigen" in der EU, verlangen absolute Sicherheitsgarantien für die Ukraine, dass Russland nie mehr in die Ukraine eindringen kann.

Es wird gefordert, dass westliche Truppen auch aus Nato-Staaten als Friedensarmee auf ukrainischem Boden stationiert werden. Das ist aber schlicht nicht umsetzbar und wurde von Moskau wiederholt abgelehnt. Daher wird es richtigerweise von der Trump-Regierung als unrealistisch eingestuft. Denn es würde für Russland einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine gleichkommen.

Schließlich war es gerade die Verhinderung einer möglichen Nato-Mitgliedschaft der Ukraine, für die Russland in den Krieg gezogen ist. Diesen Vorschlag nun als Bedingung für Verhandlungen einzubringen, ist daher entweder unbrauchbar oder ein Versuch, die Verhandlungen weiter zu boykottieren.

Bedingungen für Frieden

Das Quincy Institute hat in einer aktuellen Studie drei Bedingungen für einen nachhaltigen Frieden aufgelistet, die Russland akzeptieren könnte:

1. Weitere Unterstützung der Ukraine, wenn es um Verteidigungswaffen geht, aber keine Langstreckenraketen, die tief in Russland eindringen könnten.

2. Stationierung von Friedenstruppen der Vereinten Nationen, deren Soldaten aus Ländern des Globalen Südens kommen sollten, die Putin als "globale Mehrheit" bezeichnet. Es würde der Ukraine dadurch Sicherheit garantieren. Denn Russland würde kaum das Risiko eingehen, auf Streitkräfte aus den befreundeten Brics-Staaten Brasilien, Indien, China und Südafrika zu schießen und sie zu töten.

3. Die Friedensregelung muss die Bedürfnisse von der Ukraine und Russland in Verhandlungen vermitteln und Kompromisse diplomatisch erarbeiten. Der Glaube der Europäer, Russland einen Frieden aufzuzwingen, der nicht mit Moskau verhandelt wird, ist zum Scheitern verurteilt.

Der langjährige UN-Berater Jeffrey D. Sachs verweist zudem darauf, dass man an die Friedernsvereinbarung von März 2022 zwischen Russland und der Ukraine, das sogenannte Istanbul Communique, anknüpfen könnte. Darüber hinaus müsste ein ständiger Dialog und Diplomatie zwischen Russland und den USA, aber auch mit Europa eingerichtet werden, wie Zachary Paikin und Thomas Graham vom Better Order Project erklären. Mit einem Krisenkonsultationsmechanismus könnte die internationale wie europäische Sicherheitsarchitektur wieder stabilisiert werden.

800 Milliarden für Kriegstüchtigkeit

Die Europäer sind bisher nicht bereit, die gangbaren Wege zu einer diplomatischen Beendigung des Kriegs anzuerkennen. Bei Gesprächen in Brüssel am Donnerstag wurde im Angesicht der US-amerikanisch-russischen Gespräche hingegen ein massives EU-Aufrüstungsprogramm angekündigt im Wert von 800 Milliarden Euro, um Russland die Stirn zu bieten.

Dafür sollen selbst die ansonsten ehernen Grenzen fürs Schuldenmachen aufgeweicht werden. In Deutschland will man ebenfalls die Schuldenbremse, allerdings nur für Aufrüstung, aufheben, um mehr Geld fürs Militär ausgeben zu können. CDU/CSU und SPD haben sich dabei auf die Einrichtung eines Sondervermögen in Höhe von 500 Milliarden Euro geeinigt, dass insbesondere der Bundeswehr zufließen soll.

Im Rüstungsrausch

Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) spricht gleichzeitig davon, dass sich die Militärausgaben in den nächsten Jahren verdoppeln müssten auf drei Prozent des BIP. Das wären dann 100 Milliarden Euro jedes Jahr für Panzer, Kampjets, Waffen und Soldaten, weil Russland angeblich Deutschland und Europa bedroht.

Innerhalb der Nato benötige man für die "Kriegstüchtigkeit" in Zukunft nicht mehr zwei, sondern 3,6 Prozent des BIP von jedem Nato-Bündnisstaat, so der Verteidigungsminister. Wen wundert es, dass die Aktien von Rüstungskonzernen wie Rheinmetall, die seit dem Ukraine-Krieg immer neue Rekordhöhen erreicht haben, "kein Halten mehr" kennen, seit Europa den "Rüstungsturbo" endgültig eingeschaltet hat.

Wie Entspannungspolitik entsorgt wird

Statt auf Diplomatie, Deeskalation, die Errichtung einer inklusiven Sicherheitsarchitektur für ganz Europa, setzt die EU auf "full metal jacket". Es scheint so, als ob Aufrüstungs- und Kriegshardliner die Konfliktsituation nutzen können, um die Reste von Entspannungspolitik auf dem Kontinent zu entsorgen und Europa zu einem aggressiven Player auf der Weltbühne aufzubauen. Es sind die Träume von militarisierten Geopolitikern, die nun in Erfüllung gehen.

Dass sich die EU von den USA abnabeln wollen, ist ein an sich zu begrüßender Schritt. Aber doch nicht, um eine Kopie der US-Militärmaschine mit konfrontativer Ausrichtung auf dem Kontinent zu errichten. Es ist erschreckend zu sehen, wie wenig Einspruch in der breiteren Öffentlichkeit gegen diesen historischen Vorgang in Deutschland und Europa zu vernehmen ist.

Der erste Teil der Analyse ist: "Verkehrte Welt: Die USA wollen Entspannung, die Europäer Krieg". Darin wird gezeigt, wie die Diplomatie-Blockade anhält, obwohl das schwere Folgen nach sich zieht.