Zehn Fragen zur Zukunft des Fernsehens
Seite 2: 4. Die Inhalte des Fernsehens sind überholt
- Zehn Fragen zur Zukunft des Fernsehens
- 4. Die Inhalte des Fernsehens sind überholt
- 7. Die Erkundung der anthropologischen Dimension fehlt noch immer
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Die Überholtheit des Fernsehens zeigt sich, auf der grundlegendsten Ebene, an seinen Inhalten. Laut Studien von 2021 bezieht sich rund 50 Prozent des fiktionalen Fernsehkonsums in Deutschland auf Kriminalsendungen. Das heißt: auf ein "Fern-Sehen", wo es um Mord und Totschlag als massenhaft und industriell produziertes Faszinosum geht.
Hier dient Fernsehen – zumindest so weit man das gemäß klassischen soziologischen Kriterien der "Imaginationspolitiken" (Imaginal Politics) analysieren kann – als eine voyeuristische Kompensationsfunktion für gelangweilte Angestellte und Bürokraten, die, so das Narrativ, den ganzen Tag identitäts- und sinnfreie Tätigkeiten ausüben und in ihrer eigenen Wahrnehmung dabei nichts Nennenswertes erleben.
Sie fühlen sich angeblich leer dahintreiben in einer allzu friedlichen Gesellschaft, in der nichts geschieht, kommen zum Ausgleich nach Hause und konsumieren Mord und Totschlag auf allen Kanälen stundenlang, um die ansonsten unerträgliche Adrenalinferne zu kompensieren.
Die friedliche europäische Gesellschaft – und in dieser Form wohl nur sie! – braucht, so diese Analyse, den Massenkonsum von Gewalt im Fernsehen, weil sie ihn in der Realität nicht hat. Aber dieses Narrativ könnte man auch ganz anders erzählen.
Dass so viel Kriminalfilme gezeigt werden, beweist in Wirklichkeit eher, dass das Fernsehen den Strukturwandel von Wirtschaft und Gesellschaft nicht begriffen und so auch nicht aufgegriffen hat – und inzwischen Jahre hinter ihm her hinkt. Denn die Angestellten- und Bürokratiegesellschaft, die angeblich all diese Kriminalfilme zum Ausgleich benötigt, gibt es so bereits nicht mehr. Und es gibt sie mit jedem Jahr weniger. Genauso wenig wie die europäische Sphäre gewalt- und umbruchfrei bleibt, siehe die neuen Kriege in Europas Osten.
Die deutschsprachigen Gesellschaften bestehen schon lange nicht mehr aus Angestelltengesellschaften oder – sexistisch ausgedrückt – sogenannten "Hausfrauen"-Kulturen, die Mord und Totschlag zum Ausgleich im Psycho- und Aufmerksamkeitshaushalt benötigen. Europa befindet sich vielmehr bereits im Transformationsprozess in eine Gesellschaft, die auf breiter Ebene Digitalisierung und Automatisierung und als Folge davon eine fortschreitende Freistellung von "passiven" Angestellten vornimmt.
Viele sich wiederholende Arbeiten werden überflüssig, während individuelle Kreativität ins Zentrum tritt. Das Fernsehen dagegen tut mit seiner Flut an passiv konsumierbarer Gewalt so, als würden wir noch in der Gesellschaft der 1980er oder 1990er-Jahre leben.
Diese Widersprüche sieht man zum Beispiel am Fernsehen einer – nach eigener Einschätzung – weitgehend gewaltlosen Gesellschaft wie Österreich, wo ein Großteil der Bürger im Gefolge der Ukraine-Invasion Russlands angab, das eigene Land auf gar keinen Fall gegen eine Aggression verteidigen zu wollen, aber zugleich leidenschaftlich Kriminalserien ansieht. Diese dienen wohl dazu, den tagsüber durchaus anstrengenden Friedens-Idealismus abends zu kompensieren.
In den USA dagegen ist die Flut an Krimis wohl eher eine Art Verarbeitung und zugleich Verharmlosung tatsächlich real bestehender Gewalt – worin ein Kulturunterschied gegenüber Europa bestehen dürfte.
5. Durchzappen macht zum Darwinisten
Insgesamt fallen beim Durchzappen aktueller Fernsehprogramme die kruden Kanten einer Hobbes'schen Welt im Fernsehen auf: Es geht – neben Sex, der zum Crime gehört – vor allem ums Umbringen, Essen, Kaufen. "Warum hast du ihn umgebracht", wird im Fernsehen zur Alltagsfrage, so wie: "Warum hast du dies gekauft und nicht etwas anderes?"
Das kontrastiert heftig mit der in vielen Programmen bis zum Überdruss gepredigten Hilfs- und politischen Korrektheitsgestik, die sich so überbemüht moralisch gibt. Deshalb auch der große Erfolg des Zapping-Programms Blob – di tutto, di piú des Fernseh-Vordenkers Enrico Ghezzi auf dem Kanal des italienischen Staatsfernsehens RAI3: in der zwischen anderen Programmen laufenden, im Fernsehprogramm oft unangekündigten Reihe werden Durchzappungen quer durch nationweit empfangbare Programme gezeigt.
Im Durchzappen, das dem Zuschauer kommentar- und schnittlos abgenommen wird, entsteht eine Art Freak-Show aus Assoziationen, gegenseitigen Verweisen, Absurditäten, gegenseitigen Außerkraftsetzungen und Widersprüchen, in der willkürliche Bildfetzen und die dazugehörigen Ton- und Musikbrüche die Monstrosität der Fernsehinhalte offenbaren, wodurch sich deren Inhalte gegenseitig selbst kommentieren.
Ziel ist ein realistischerer, humanerer Blick auf die Fernsehinhalte und ihre manipulative Propaganda, die nicht notgedrungen auf politische Botschaften zielt, sondern vor allem sich selbst promotet, was durch Einschaltquoten belohnt und durch darauf beruhende Werbeschaltungen bezahlt wird.
Blob zeigt, dass das Fernsehbild zum darwinistischen Selbstzweck geworden ist, unabhängig von seinem Sinn. Die Fernsehenden in Italien genießen diese Selbstreflexion: nicht zufällig ist Blob eines der am längsten laufenden Formate Europas. Die Sendung läuft seit 1989 – dem Jahr des Falls der Berliner Mauer, als das Fernsehen mangels Internet für kurze Zeit den (aus späterer Sicht illusionären) Status einer vielleicht wirklich möglichen Brecht’schen Realprothese erlangte.
6. Fernsehen pflegt in Bilderlogik Suggestionskultur als Struktursinn
Die Werbekultur des Fernsehens hat sich längst aus ihren Nischen befreit. Sie ist zum Teil der allgemeinen Bilderlogiken geworden, die das Fernsehen durchziehen. Wenn zum Beispiel in der Autowerbung Autos stets durch leere, glitzernde Stadtlandschaften und unberührte Natur fahren, die sich regelrecht darüber freut, dann überträgt sich diese Suggestionskultur inzwischen längst auf Dokumentarfilme.
So etwa, wenn in Tierfilmen Natur als unberührt und "natürlich" (natura naturans) behauptet wird, gleichzeitig aber in jedem Augenblick jede kleinste Bewegung eines Tiers oder Blatts im Wind aus nächster, unnatürlicher Nähe mit einem Flüstern kommentiert wird, um ihm "Sinn" zu geben.
Da verwundert es nicht, dass die Verführung zur Erklärung natürlicher Realitäten auch in die Faktenreports überschwappt. So etwa, wenn erst unter dem Deckmantel der "Illustration" die Wasserdampfwolken über Atomkraftwerken in ZDF-Nachrichtensendungen dunkel eingefärbt werden, um die Botschaft der Gefahr zu verdeutlichen – und nach Kritik daran das Bild einfach umgedreht und Atomkraftwerke vom selben Sender als wahres Naturidyll präsentiert werden.
Die Art und Weise dieser Logik führt dazu, im Sinn einer Werbe-Mentalität die Realität zu verfälschen. Es lässt die Darstellung über ihr Subjekt siegen, weil sie über dieses hinausgeht. Fazit? Der indirekte Einfluss der Bilderlogiken der Werbung bleibt nicht ohne Folgen für den Rest des Fernsehens.