Zehn Fragen zur Zukunft des Fernsehens

Seite 3: 7. Die Erkundung der anthropologischen Dimension fehlt noch immer

Obwohl man nach 70 Jahren Erfahrung seit Einführung des Fernsehens – in Deutschland Anfang der 1950er-Jahre – sagen kann, dass das Fernsehen ein frühes Beispiel der Digitalisierung der Gefühle am Schnittpunkt zwischen "Neuen Medien" und "Körpertechnologien" war und bis heute geblieben ist, bleiben die anthropologischen Tiefen- und Langzeitwirkungen wie die sogenannte "Fernseherinnerung" noch immer weitgehend unerforscht.

"Fernseherinnerung" besteht – zumindest theoretisch – darin, dass viele Menschen seit den 1960er und 1970er-Jahren täglich mehrere Stunden ferngesehen haben. Dabei haben sie inzwischen so viel künstliche Fernseherlebnisse angesammelt, dass diese in der unbewussten Erinnerung mutmaßlich in das personale Erfahrungsgedächtnis eingegangen sind.

Sie können deshalb von den realen Erfahrungen des eigenen Lebens nur mehr unklar differenziert werden, je mehr Zeit vergeht. Mit anderen Worten: Gerade wegen seiner Passivität reicht die Wirkung des über das Fernsehen einfließenden Imaginären tief in die menschliche Psyche.

Diese versucht stets – wie oben erwähnt –, das Aufgenommene von der Passivität in die Aktivität zu bringen. Das löst Verarbeitungsprozesse in der Erinnerung unter Gesichtspunkten des Vergleichs und der Integration aus, wodurch reale und Fernseherinnerungen in ein gewisses Kontinuum verbunden werden.

Manche halten das für eine Verfälschung des menschlichen Lebens; andere nur für eine Variante dessen, was seit Erfindung von Kunst und Buchdruck ohnehin auch mittels anderer Medien vor sich geht.

Doch eine Aufarbeitung dieser Problematik durch das Fernsehen selbst, etwa mit Methoden der modernen Gehirnforschung, Psychologie (Achtsamkeit) und Anthropologie sowie der Berücksichtigung etwaiger Resultate bei künftigen Programmgestaltungen ist nach wie vor weitgehend Fehlanzeige – obwohl die Bedeutung dieser Dimension für Humanität und Humanismus auf der Hand liegt.

8. Die Fernsehkritik ist ausgestorben

Mit der Filmkritik ist auch die Fernsehkritik ausgestorben. Ein Wim Wenders, Werner Herzog oder Jean-Luc Godard, die kritisch, aber für das breite Publikum Bildermedien sowohl in Film wie Fernsehprogramm analysieren, sind längst Vergangenheit.

Die Medien stellen sich in den Dienst von Werbung und Hypes; oder sie schließen sich der kollektivistisch verstandenen Erziehungsfunktion des Fernsehens an, die eher Engagement als Selbstkritik verlangt. Mangels Kritik steigen Selbstüberschätzung und Hybris der "Gestalter".

9. Personenkult entfaltet sich nicht nur hinter, sondern auch vor der Kamera

Proportional zur Steigerung des Individualismus wächst der Status von Einzelpersonen in Programmen. Warum macht zum Beispiel Harald Lesch seit Kurzem auch noch Sendungen zu Historie und Politik, wenn er doch ein (hervorragender) Physiker, Astronom und Naturphilosoph ist?

Interdisziplinarität ist gut, legitimiert aber nicht die grenzenlose Ausweitung von Rollen und Kompetenzzuschreibungen nach Bekanntheitsgraden. Personalisierte Hybris-Formate, und seien sie auch noch so interessant, diskreditieren jene vor und hinter der Kamera.

10. Der wichtigste Grund: die Schnittstelle Technologie-Mensch selbst

Fast alle Fernsehsender stellen ihre Sendungen inzwischen auch im Internet bereit. Das ist umgekehrt für Internet-Produktionen hinsichtlich Fernsehpräsenz kaum möglich: sie schaffen es nur als Zitate ins Fernsehbild.

Das Fernsehen bleibt trotzdem ein eindimensionales und in seinem Angebot schmales Medium, das nur in eine Richtung geht. Das Internet dagegen ist interaktiv, und der Konsument kann sich die Inhalte selber aussuchen. Anders ausgedrückt: Das Fernsehen funktioniert – auf die Zeit des Betrachters bezogen – diachron, das Internet synchron.

Obgleich sich auch im Internet Blasen bilden und paradoxerweise sogar ab einer gewissen Konnektivitätsstufe fast notgedrungen Zerfall und Polarisierung eintritt sowie Manipulation mittels Algorithmen weitverbreitet ist, geschieht dies auf einem zeitgemäßeren Komplexitätsniveau. Algorithmen spielen im Fernsehen noch eine untergeordnete Rolle – im Internet die bestimmende.

Im Internet schneiden Algorithmen längst Suchinhalte auf den Einzelnen zu, und das funktioniert: die Inhalte interessieren genau dieses Individuum dann im Durchschnitt auch tatsächlich. Sie funktionieren in Effizienz und Breite, auch wenn sie gleichzeitig mittels Verstärkung ausrichten, zum Teil auch radikalisieren – und, wie etwa die chinesischen Reihungs- und Bewertungsalgorithmen, kapillar Ideologie über nationale Grenzen hinaus an den Nutzer herantransportieren im Dienst autoritärer Regime.

Trotzdem ist das Internet in seiner heutigen Wirklichkeit der Brecht'schen Radiotheorie näher als das Fernsehen: mittels technischer Prothesen ungefiltert sinnlich direkt an Ereignissen teilhaben zu können. Deshalb sprechen Kommentatoren inzwischen davon, dass Brecht aus heutiger Sicht das Radio – und indirekt auch das Fernsehen – zum Internet machen wollte.

Die Komplexität des Mediums Internet ist mittlerweile auch im Bildvermittlungs- und Bildübermittlungsbereich eine viel realitätsnähere als die des Mediums Fernsehen, das sozusagen wie in Großvaters Zeiten vorgefilterte Inhalte vorsetzt – und zwar notgedrungen ohne Einflussmöglichkeit des Einzelnen, und über den Kamm geschnitten in einem Einheitsformat.

Roland Benedikter, geboren 1965, ist Soziologe und Politikwissenschaftler.