Paradoxerweise können Gesellschaften ab einer gewissen Konnektivität zerfallen
Wissenschaftler glauben mit einem Gesellschaftsmodell belegen zu können, dass mit steigender Konnektivität ab einem Kipppunkt die Fragmentierung in feindliche Blasen zunimmt
In Seuchenzeiten wie der Coronavirus-Pandemie sollen die Menschen weiter auseinanderrücken und sich selbst möglichst vor den Mitmenschen isolieren, um nicht angesteckt zu werden und die anderen zu schützen. Naher Kontakt sollte vermieden werden, die Menschen sind, abgesehen von der Arbeit, wenn sie dies nicht online machen können, zurückgeworfen auf die Familie oder die Singleexistenz - und das in Zeiten, in denen die Polarisierung die Gesellschaft sowieso schon weiterfragmentiert, während seit langer Zeit der Trend zu Rumpffamilien und Versingelung herrscht und sich die Einsamkeit ausbreitet.
Zwar haben das Internet oder die sogenannten sozialen Netzwerke den Zusammenhang von Menschen über die Telekommunikation enorm gesteigert, gleichzeitig aber dazu beigetragen, dass die Kontakte im realen Raum weniger und auch weniger dauerhaft wurden. Umgekehrt ist es gleichzeitig richtig, dass die schrumpfenden Kontakte im realen Raum das Bedürfnis nach Kommunikation und Interaktion im virtuellen Raum verstärkt haben, was wiederum auf die Weise zurückwirkt, wie Zusammenleben stattfindet.
Schon früh war beobachtet worden, dass Online-Kommunikation abweichende und minoritäre Positionen stärkt, weil sich Einzelne hier sehr viel leichter als im realen Raum mit Gleichgesinnten treffen und ihre Haltung bestätigen oder radikalisieren können (Die soziale Utopie des Neoliberalismus). Das führt zu einer Homogenisierung oder Balkanisierung - heutzutage: Blasen genannt - , die es auch im realen Raum gibt, wenn beispielsweise Einkommen, Herkunft oder Hautfarbe darüber entscheidet, wo man unter Gleichgestellten wohnt.
Von der Notwendigkeit der Fragmentierung durch zu starke Konnektivität
Ein Wissenschaftlerteam des Center for Medical Statistics, Informatics and Intelligent Systems der Medizinischen Universität Wien ist davon ausgegangen, dass sich in den meisten Ländern der Zusammenhang zwischen den Menschen und gleichzeitig die Fragmentierung in "kleine isolierte Gruppen" verstärkt hat. Sie haben versucht, in einer Gesellschaftssimulation zu zeigen, in der die Dynamik der individuellen Meinungsbildung mit dem sozialen Gleichgewicht verbunden ist, wie eine Fragmentierung beim Überschreiten einer Schwelle des gesellschaftlichen Zusammenhangs eintritt. Dem mathematischen Modell liegen Phasenübergänge in einem ungeordneten magnetischen System oder Spin-Gläser zugrunde. Ihre Studie ist im Journal of The Royal Society Interface erschienen.
Die Wissenschaftler räumen ein, dass sie ein sehr einfaches Modell benutzen, in dem Individuen in Netzwerken verankert sind, positive oder negative Beziehungen zu anderen und eine Meinung haben, die dichotom, also Ja oder Nein, Trump oder Biden, ist. Negative Beziehungen erzeugen Stress und werden vermieden und homophile mit Gleichgesinnten gesucht. Es herrscht eine "soziale Temperatur", durch die sich Meinungen und Verbindungen langsamer oder schneller verändern, wobei die Tendenz vorherrscht, soziale Spannungen zu vermeiden. Dazu werden zufällige Entscheidungen eingebaut. Als fragmentiert gilt eine Gesellschaft, in der viele Gruppen intern harmonieren, aber feindlich gegenüber anderen Gruppen sind, es "positive Cluster" oder "Echokammern" gibt. Eine zusammenhängende Gesellschaft kennt hingegen eine "gewisse Dichte von positiven Beziehungen auch zwischen Gruppen, so dass jemand von einer Gruppe zu einer anderen 'reisen' kann." Es gibt also wenige Blasen und viele offene Netzwerke, deren Mitglieder sich nicht feindlich gegenüberstehen.
Die Wissenschaftler glauben, mit ihrem stark vereinfachten Gesellschaftsmodell belegen zu können, dass paradoxerweise mit steigender Konnektivität ab einem Kipppunkt die Fragmentierung zunimmt. Sie gehen sogar so weit, dass ab einer bestimmten Konnektivität Fragmentierung eintreten muss. Das glauben sie, beobachten zu können und führen dies vor allem auf das Internet, die sozialen Netzwerke und die mobile Kommunikation zurück. "Vor wenigen Jahrzehnten", so macht der Komplexitätsforscher und Leiter der Studie Stefan Thurner plausibel, "mussten wir unsere Telefonverbindung noch mit anderen Haushalten teilen. Dann hatte jeder Haushalt eine Leitung und dann jede Person ihr Telefon. Heute verbinden uns Smartphones mit Menschen auf der ganzen Welt zu jeder Zeit - und gleichzeitig durch viele Kanäle."
Aber daraus ergibt sich keine Völkerverständigung, wie man immer mal wieder mit jeder neuen Technik glaubte, sondern die Globalisierung kippt um nicht nur in Regionalisierung und homogene Gruppen, sondern auch in Netzwerke, die sich voneinander abkoppeln und abschotten. Die Individuen besitzen positive Verbindungen in ihren Clustern, die Homogenität und Uniformität verstärken, und haben negative Verbindungen zu anderen Gruppen außerhalb. Wenn alle in Blasen leben, um den sozialen Stress zu mindern, wächst die Abgrenzung zu anderen, Absprachen und Kompromisse werden nicht mehr möglich. Die USA sind ein Beispiel für die Theorie.
Treiber der Fragmentierung ist letztlich die Suche nach Gleichgesinnten und damit nach Aufrechterhaltung der sozialen Kohäsion. Durch von außen einwirkende starke Einflüsse wie eine Religion oder eine nationalistische Ideologie könne aber auch wieder, so die Wissenschaftler, ein Übergang von einer fragmentierten zu einer utopischen oder faschistischen Gesellschaft entstehen. Nach ihrer Theorie könnte aber auch ein Herunterfahren der Konnektivität, also auch eine andere Nutzung der Telekommunikationsmittel, die gesellschaftliche Temperatur herunterfahren und einen größeren Zusammenhang herstellen.
Aber dem Modell fehlen eben viele gesellschaftliche Parameter wie Nationen, Ethnien, unterschiedliche Kulturen und Sprachen, soziale Schichten etc., die ein permanentes Pendeln zwischen Abgrenzung, Bekämpfung und Kohäsion auf regionaler, nationaler und erst recht auf globaler Ebene, um einigermaßen realitätsnah erklären zu können, ob und wie eine durch Technik verdichtete Konnektivität die Fragmentierung fördert, auch wenn dies einleuchtend erscheint.