Zehn Sekunden zwischen Heiratsantrag und Vergewaltigung
Seite 4: Ruinierte Existenzen
Dix verliert die Kontrolle, weil an dem Tisch im "Paul’s", an dem er Verlobung feiern will, mehrere Themenstränge des Films zusammenlaufen. Er ist wütend über den von Mel begangenen Vertrauensbruch (Freundschaft). Er fürchtet, dass Brodie sein Drehbuch nicht gefallen könnte, weil er zu stark von der Vorlage abgewichen ist (Kunst vs. Kommerz). Laurels Verhalten erklärt er sich damit, dass sie zurück zu Mr. Baker will (Eifersucht). Das Resultat ist einer dieser Momente, in denen die ohnmächtige Frustration in Form von Gewalt aus Dix herausbricht.
Er schlägt Mel ins Gesicht, beschädigt ihm die Brille und folgt ihm auf die Toilette, wo er in quälender Hilflosigkeit versucht, sich zu entschuldigen und es wieder gutzumachen. Allein dabei zuschauen zu müssen ist schon ganz fürchterlich. Schließlich reichen sich die beiden die Hände, ohne dass man sich vorstellen könnte, dass das, was durch den Schlag zerbrochen ist, so bald wieder zu kitten wäre, wenn überhaupt. Dann bringt Barnes die Nachricht, dass der Produzent vom Drehbuch begeistert ist. Ein paar Minuten früher hätte das noch viel bedeutet. Inzwischen ist Laurel aus dem Lokal verschwunden, weil sie der Schlag in der Überzeugung bestärkt hat, Dix verlassen zu müssen.
Am Anfang und am Ende der desaströsen Verlobungsfeier im "Paul’s" kann man sehen, wie genau der Film gearbeitet ist. In der ersten Einstellung sitzt Fran, die nicht eingeladen ist, im Vordergrund an einem Tisch. Kaum haben die Gäste Platz genommen drängt sie sich dazu und plaudert aus, dass Mel das Drehbuch an Brodie weitergegeben hat. Das bringt den Stein ins Rollen. In Gestalt von Fran, mit der Dix früher ein Verhältnis hatte und der er, Lochners Akten zufolge, bei einem Streit die Nase gebrochen hat, meldet sich seine Vergangenheit zurück, die wie ein Schatten über der Gegenwart liegt.
Im Hollywood, in dem der Film gedreht wurde, war das Gefühl nicht viel anders. Dort lag der Schatten einer Vergangenheit über den Filmemachern, in der die mit dubiosen Listen und Dossiers hantierenden Hexenjäger nach belastendem Material stöberten. Am Ende der Verlobungsfeier ruft Brub (auch nicht eingeladen) an. Der echte Mörder hat sich bei einem Suizidversuch in die Brust geschossen und ein Geständnis abgelegt. Weil Dix schon gegangen ist sehen wir Brub und seinen Chef, Captain Lochner, im Krankenhaus.
Dix und Laurel, sagt Brub, seien durch die polizeilichen Untersuchungen (und durch Lochners Verdächtigungen) einem enormen Druck ausgesetzt gewesen: "Das hätte ihr Leben ruinieren können." Wohl wahr. Falsch ist nur der Konjunktiv. In Hollywood (und nicht nur da) hatte der McCarthyismus bereits erste Existenzen ruiniert, als In a Lonely Place in den Kinos anlief. Weil der Zweck die Mittel heiligte wie bei Lochners Ermittlungen blieben auch Unschuldige auf der Strecke. Der Film erzählt das in Form einer Liebesgeschichte und erinnert uns regelmäßig daran, dass die Liebe genauso an inneren wie an äußeren, gesellschaftlichen Zwängen scheitert.
Liebe als räumliches Verhältnis
Wie immer bei Nicholas Ray ist das Scheitern der mit so vielen Hoffnungen eingegangen Beziehung räumlich nachzuvollziehen. Man kann da sehen, dass er die Villa Primavera, in der er früher selbst gewohnt hatte, nicht aus Narzissmus nachbauen ließ, sondern weil ihm die Beverly Patio Apartmens, wie die Wohnanlage im Film heißt, dabei helfen, die Geschichte in Bildern und räumlichen Verhältnissen zu erzählen und nicht nur in Dialogen, wie es weniger begabte Regisseure machen.
Die erste Begegnung zwischen Dix und Laurel findet auf neutralem Boden statt, im Innenhof der Patio Apartments und in der Nacht. Anschließend sind beide in ihren Wohnungen, über den Hof hinweg treffen sich ihre Blicke. Am frühen Morgen, wieder auf neutralem, jetzt aber bereits ideologisch aufgeladenem Boden (in Lochners Büro), intensiviert sich die Beziehung, erkennbar am Blickkontakt. Am Vormittag kommt Laurel unter einem Vorwand in Dix’ Wohnung und signalisiert ihm ihr Interesse. Von ihr geht die Initiative aus. Um das visuell zu betonen zeigt uns Ray, wie sie den Hof zwischen den beiden Apartments überquert, bevor sie bei Dix klingelt.
In der folgenden Nacht geht Dix über den Hof, klopft bei Laurel und wird eingelassen. Laurel spricht aus, was vorher nur zu sehen war: "Ich bin interessiert." Am Vormittag hat sie Dix’ Versuch, sie zu küssen, abgewehrt. Jetzt erlaubt sie es. Danach verbringen sie die Nacht zusammen. Dix und Laurel sind zwei erwachsene, ungebundene Menschen, die einvernehmlichen Sex haben. 1950 durfte man so etwas in amerikanischen Kinos nicht sehen. Nicht einmal das Schlafzimmer oder wenigstens die Tür hätte Ray zeigen dürfen. Stattdessen führt er vor, wie man dem Publikum von Dingen berichtet, die laut Production Code verboten waren.
Ein probates Mittel waren spiegelbildliche Szenen und suggestive Auslassungen. Nach Sonnenaufgang klingelt Laurel bei Dix, geht in die Wohnung. Die Schlafzimmertür steht offen. Das Bett sieht aus wie nach einer wilden Liebesnacht (oder, aus Lochners Perspektive: nach verbotenem Sex und Lustmord). Laurel und Dix küssen sich nicht. Nach Sonnenuntergang klopft Dix bei Laurel, geht in die Wohnung. Sie küssen sich, im Wohnzimmer. Was fehlt sind Bett und Schlafzimmer.
Der Zuschauer ist aufgerufen, die Leerstelle mit eigenen Ideen zur Intimität von Frau und Mann zu füllen oder einfach Dix’ zerwühltes Bett gedanklich in das Schlafzimmer von Laurel zu transportieren. Hier ist wieder Rays feine Ironie am Werk. Da, wo wir das Bett sehen dürfen, zeugt es von der unruhig und allein verbrachten Nacht eines einsamen Mannes. Nur die schmutzige Phantasie des Betrachters macht es zu etwas anderem. Da, wo es nach dem Willen der Zensoren nicht einmal erahnt werden sollte, in der den Kuss beschließenden Abblende, kommt es zum Geschlechtsverkehr.
Captain Lochner, der selbstgerechte Oberpolizist, ist ein Bruder im Geiste von Joe Breen, dem erzkonservativen Hüter des Production Code, der im Zusammenspiel mit Funktionären eines reaktionären Christentums darüber wachte, dass es im amerikanischen Film nicht zu sexuellen Handlungen außerhalb der Ehe kam (und bei Verheirateten nicht ohne Zeugungsabsicht). Rays Inszenierung ist ein Akt des Widerstands gegen einen der Infantilisierung des Publikums Vorschub leistenden Moralkodex.
Man kann das Ganze auch sportlich nehmen. Nicht alle, die in der Production Code Administration ihr Geld verdienten, waren Dummköpfe. Manche Zensoren wussten genau, was vor sich ging und lieferten sich einen Wettkampf mit Regisseuren und Produzenten. Ins Kino kamen mitunter Filme, bei denen verbissen darüber gefeilscht worden war, wie lang die Abblende nach dem Kuss des Liebespaares sein durfte. In einer Kultur der Prüderie, in der das Verdrängte mit aller Macht wiederkehrte, konnte es vermutlich nicht ausbleiben, dass man begann, einen Zusammenhang zwischen der Länge der Abblende und dem in ihr verborgenen Geschlechtsverkehr (sowie der Qualität des von den Liebenden erlebten Orgasmus) zu sehen.
Freiheit für christliche Fundamentalisten und Geisteskranke
Die Liebesbeziehung zwischen Dix und Laurel endet, wo sie angefangen hat: in den Patio Apartments. Dix geht wieder durch den Innenhof und von da zu Laurels Wohnung. Jetzt klopft er nicht mehr, sondern prügelt wütend gegen die Tür. Laurel lässt ihn schließlich ein, dies aber nicht mehr freiwillig wie damals, als sie zum ersten Mal mit ihm schlief. Dix würde andernfalls die Tür eintreten. Jetzt dringt er in Laurels Schlafzimmer ein. Das sind Bilder von einer Vergewaltigung, dargestellt als Grenzverletzung. Über den Production Code und die Kultur, die ihn hervorgebracht hat, sagt das eine ganze Menge.
Das Schlafzimmer verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Gewalt und unterdrückter Sexualität. Doch an der Oberfläche ist es eine mörderische Wut, die Dix in das Zimmer treibt. Das war erlaubt, solange es mit Strafe verbunden war. Verboten war hingegen das Betreten des Schlafzimmers zum Zweck der liebevollen Vereinigung zweier Körper. Das liegt ganz auf der Linie der aktuellen US-Administration. Die Fundamentalisten, mit denen sich Trump aus wahltaktischen Gründen eingelassen hat, würden gern einen neuen Code einführen, um den Amerikanern die moralische Orientierung zurückzugeben, die ihnen von den '68ern weggenommen wurde.
Entsprechende Bestrebungen gibt es seit den 1990ern, als Kardinal Roger M. Mahony, damals Erzbischof von Los Angeles, den Geschäftsmann Dennis Jarrard an die Spitze einer mit Priestern, Nonnen, Erziehern und Psychologen besetzten Kommission berief, die sich mit Obszönität und Pornographie in den Medien beschäftigen sollte und alsbald einen neuen Moralkodex forderte, um eine an christlichen Werten und den Zehn Geboten ausgerichtete Unterhaltung durchzusetzen. Einer von Jarrards Mitstreitern war Ted Baehr, Herausgeber von Movieguide.
Movieguide untersucht Filme nicht nur auf Sex und Gewalt, sondern auch auf Satanismus, Homosexualität und Marxismus. Das erinnert doch sehr an die alte McCarthyisten-Methode, diese Kategorien in einen Topf zu werfen, zu kriminalisieren und zu Kristallisationspunkten für Ressentiments gegen andere Lebensentwürfe zu machen. Wenn ich es richtig verstanden habe sind Bettszenen genauso schädlich wie lange Küsse und Tänze, bei denen die Brüste der Damen in Bewegung geraten. Das muss aufhören, sagt Dr. Baehr, der selbstverständlich auch schon bei Dr. Dobson, einem der spirituellen Berater von Donald Trump, in dessen Sendung Family Talk zu Gast war.
Trump mag ein unsicherer Kantonist sein. Der zielstrebige Mike Pence ist es weniger. Trumps Vize startete seine Politkarriere mit der Forderung, Ehebruch unter Strafe zu stellen und beherrscht wie Dobson und Baehr die Rhetorik der Fundamentalisten, die unermüdlich darüber lamentieren, dass eine falsch verstandene Meinungsfreiheit Menschen diskriminiere, die an lange erprobte und für gut befundene christliche Werte glauben. Die Zensur kleidet sich da in das Gewand der freien Religionsausübung für strenggläubige Christen.
Seit Trump im Weißen Haus sitzt und Dekrete unterschreibt dürfen Amerikaner, die wegen einer physischen Erkrankung für nicht geschäftsfähig erklärt wurden, wieder eine Waffe haben. Der Präsident löste damit ein der National Rifle Association gegebenes Versprechen ein (die NRA unterstützte seinen Wahlkampf mit geschätzten 30 Millionen Dollar). Ganz gegen seine sonstige Art wollte Trump dies in der Öffentlichkeit nicht mit großer Geste als Erfolg präsentieren, weil er weiß, wie heikel die Entscheidung ist. Das überließ er seinem Vize, dem Verteidiger der amerikanischen Freiheitsrechte.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.