Zeit der Revanche

Neoliberalismus und Ethnisierung in Belgien

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Als im Dezember 2006 ein belgischer Sender im Fernsehen die Meldung verbreitete, dass Belgien auseinander gebrochen und der Monarch geflohen sei, war die Erschütterung vieler Bewohner groß. Auch als sich herausstellte, dass es sich um eine Satire handelte, waren die Menschen schwer zu beruhigen. Denn eine Spaltung Belgiens ist ein so realistisches Szenario, dass kaum jemand an einen Scherz glaubte, als die Sendung ausgestrahlt wurde. Mittlerweile haben auch Medien aus dem Ausland erkannt, dass das Beneluxland in einer großen Krise steckt und der Streit zwischen Flandern und Wallonien sogar zur Auflösung des Landes führen könnte.

Bisher schaffte es Belgien in der Regel nur dann in die Schlagzeilen, wenn es um mysteriöse Kriminalfälle oder um Angelegenheiten der EU geht. Dabei wurde oft vergessen, dass die Stadt Brüssel eine zentrale Rolle in dem nur vordergründig ethnischen Konflikt spielt, der Belgiens Innenpolitik zunehmend lähmt und dazu geführt hat, dass das Land fünf Monate nach den letzten Parlamentswahlen noch immer ohne Regierung ist.

Denn seit dem Wahltermin am 10. Juni hat der Streit um den institutionellen Umbau des Landes alle anderen innenpolitischen Fragen überlagert. Eine Zuspitzung erfuhr der Konflikt in der letzten Woche an einer von außen gesehen harmlosen Frage, der Teilung des Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde. Damit wollen die Flamen eine weitere "Französisierung" des Brüsseler Umlands verhindern. Der Beschluss würde aber bedeuten, dass etwa 150.000 frankophone Wähler künftig nicht mehr für wallonische Parteien stimmen könnten.

Da die flämische politische Mehrheit nun erstmals in der Geschichte Belgiens die wallonische Minderheit einfach überstimmt hat, statt einen Kompromiss zu suchen, haben sämtliche frankophonen Abgeordneten unter Protest den Parlamentssaal verlassen und mit einem Abbruch der Koalitionsverhandlungen gedroht. Der Monarch als Staatsoberhaupt hat sich nun in die Krise eingeschaltet und auf die Fortsetzung der Koalitionsverhandlungen gedrängt.

Unabhängig vom Ausgang des Konflikts wird am Beispiel Belgiens auch der negative Einfluss einer ethnisierenden Politik deutlich. So sind in Belgien seit den 1970er Jahren alle führenden Parteien nach Sprachzugehörigkeiten gespalten. Das betrifft nicht nur die Konservativen, auch die Sozialdemokraten und Grünen haben getrennte flämische und wallonische Parteien, die jeweils nur immer ihrer jeweiligen Klientel verantwortlich sind. Nur kleine linke Parteien haben sich dieser ethnisierenden Logik nicht gebeugt, sind aber weitgehend einflusslos.

Wallonischer Niedergang

Gerade an der belgischen Geschichte zeigt sich deutlich, wie die Streitereien um Sprachen und vermeintlich ethnische Benachteiligungen im Kern ökonomischer Natur sind. Nach der Staatsgründung Belgiens 1830 war Flandern der ärmere Landesteil. Französisch wurde Amtssprache, das Flämische als minderwertiger Dialekt verachtet. Im Lauf des 20. Jahrhunderts gelang es den Flamen, die volle Gleichberechtigung ihrer Sprache durchzusetzen. Seit den sechziger Jahren ist Flandern auch wirtschaftlich der stärkere Landesteil.

So wurde die Wallonie von der Krise in der Stahlindustrie schwer gebeutelt und hat seit Jahren mit einer Arbeitslosenquote von 15 bis 20 Prozent und entsprechender Armut zu kämpfen. Dagegen zählen die Flamen, nicht zuletzt wegen der riesigen Häfen in Antwerpen und Zeebrügge, zu den "Gewinnern der Globalisierung" und kontrollieren mittlerweile alle wichtigen belgischen Industriezweige und Unternehmen. Damit hat die flämische Bewegung eigentlich die Ziele, mit denen sie vor mehr als 160 Jahren antrat, durchgesetzt: Ihr ging es damals um die sprachliche Gleichberechtigung und um die Gleichberechtigung der flämischen Nation gegenüber dem in der Gründungsphase wirtschaftlich überlegenen mit Frankreich verbundenen Wallonien.

Flanderns Revanche

Doch wie das bei ethnisch kostümierten wirtschaftlichen Konflikten meistens der Fall ist, spielt das Argument der Gleichberechtigung nur solange eine Rolle, wie man sich in der unterlegenen Position wähnt. Seitdem Flandern zu Belgiens Wirtschaftslokomotive wurde, ist für die Protagonisten der flämischen Sache die Zeit der Revanche gekommen. Es sind nicht nur die offenen Rechtsextremisten des Vlaams Belang, die den wirtschaftlichen Verlierern deutlich machen, dass sie sie am liebsten ganz schnell loswerden wollen. Damit sind die Vorkämpfer der flämischen Sache im Grunde die Vollstrecker der neoliberalen Logik, derzufolge erfolgreiche Landesteile nicht für ihre ärmeren "Brüder und Schwestern" aufkommen wollen.

Diese Art von Wohlstandsnationalismus hat die Lega Nord in Italien vor ca. 15 Jahren auf die Spitze getrieben, als sie gegen die armen Süditaliener mit genau den rassistischen Stereotypen zu Felde zog, die seit einiger Zeit in Italien gegen Osteuropäer, vor allem gegen Rumänen, zu hören sind. Diese Art von Wohlstandsnationalismus spielte auch beim Auseinanderbrechen Jugoslawiens Anfang der 90er Jahre eine große Rolle. Nur gab es dort im Vergleich zu Belgien einen gewaltigen Unterschied: Der Wunsch nach der schnellen EU-Mitgliedschaft förderte die Separation. Schließlich war es mehr als nur Ideologie, dass Slowenen und auch Kroatien ohne den Rest des ehemaligen Jugoslawien die Chance hatten, schnell in die EU zu kommen. Selbst in der Westukraine gibt es einflussreiche Stimmen, die eine Trennung vom Osten mit dem Argument propagieren, dann vielleicht noch eine Chance auf eine EU-Mitgliedschaft zu haben.

EU als Einiger?

Im Falle Belgiens aber spielt die EU eine ganz andere Rolle und wurde sogar mehr als die Monarchie zur Hoffnung der Belgier, eine Spaltung des Landes verhindern zu können. Schließlich ist das Land Gründungsmitglied der EU und stellt mit Brüssel die EU-Hauptstadt. Dieser Status dürfte bei einer Spaltung des Landes verloren gehen. Das ist eine Frage des Prestiges. Schließlich ist die EU zur Zeit um die Einigung von 27 EU-Staaten bemüht. Da würde sich der Sitz in einem Land, das sich gerade spaltet, propagandistisch verheerend auswirken. So könnte die EU im Falle Belgiens tatsächlich jene konfliktdämpfende Wirkung einnehmen, die sie so gerne meist erfolglos auch in anderen Teilen der Welt einnehmen will. Sollte Brüssel nicht mehr europäische Hauptstadt sein, wäre dies nicht nur ein enormer Prestigeverlust, vielmehr würde das auch den Verlust vieler Arbeitsplätze bedeuten.

Allerdings ziehen diese Argumente nur, wenn die ökonomischen Fragen, die hinter dem Streit stehen, auch argumentativ den Ausschlag geben. Wie in anderen ethnisch kostümierten Konflikten bilden aber auch im Falle Belgiens nationalistische Argumente die Begleitmusik in der Auseinandersetzung. Sie können durchaus, wie sich immer zeigte, handlungsmächtig werden. Deswegen ist es noch nicht ausgemacht, welche Rolle der flämische Nationalismus in Zukunft spielen wird.

Wird er das Schicksal der norditalienischen Lega Nord erleben, die als Rechtsaußenpartei neuen Typs eine Randexistenz spielt, als besonders lauter Einpeitscher von Neoliberalismus und Rassismus auftritt, aber der Einheit Italiens nicht wirklich gefährlich werden kann, auch wenn sie noch so oft ein freies Norditalien fordert? Oder hat der flämische Nationalismus die Kraft, Belgien auseinander zu reißen und einen flämischen Staat zu propagieren, der dann auch ein neoliberales Modellprojekt wäre? Schließlich hat sich der innerbelgische Streit auch immer wieder an Sozialgesetzen entzündet, welche die flämischen Vertreter nicht mitzutragen bereit waren. Deswegen gibt es auch einen aber relativ schwachen Widerstand der belgischen Gewerkschaften.