Zerstört die Netzkultur den musikalischen Film?

Seite 3: Die Moroder-Methode: „Metropolis“ als Video-Clip

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Längst gibt es ältere und neuere Interpretationen eines Films: Eisensteins Revolutionsklassiker „Panzerkreuzer Potemkin“, wurde 1925 von Edmund Meisel, 2004 von Neil Tennant vertont, nicht ganz im hauseigenen Pet-Shop-Boys-Stil des Electro-Pop. Das darf nicht darüber hinweg täuschen, dass viele historische Beispiele der auslaufenden Stummfilmära durchaus keine Kassenknüller waren. „Metropolis“ war bild- und ausstattungsstilistisch ein epochaler Wegweiser, dramaturgisch eine lahme Ente und finanziell ein titanischer Flop.

Panzerkreuzer Potemkin

Giorgio Moroder (der tiroler Luis-Trenker-Neffe und Disco-Komponist von de Palmas „Scarface“ mit Al Pacino, „Flashdance“ und dem wegweisenden Video-Clip-Militär-Werbefilm „Top Gun“) verfolgte 1984 eine clevere Strategie. Er kehrte die Praxis der frühen Stummfilm-Musik um und passte den Film der neu komponierten Musik an. Er behandelte „Metropolis“ nicht als fertiges Werk sondern als visuelles Material, das von 210 auf 87 Minuten gekürzt und von ihm für Einzelsongs popularisiert und vermarktet wurde.

Der Erfolg seiner Bildschnitt-Song-Pakete gab ihm Recht. Stilistisch zwischen Art Deco, Expressionismus und Bauhaus drangen die Bilder von „Metropolis“ als Mythos der modernen Großstadt, als pseudoreligiöse Ikonen eines androgynen oder auch parafaschistischen Körperkultes schnell in den Pop-Diskurs der 80er Jahre und inspirierten Musik-Performances, Video-Clips und Filme, von „Madonna“ und „Queen“, über „Batman“ bis „Blade Runner“ (der ohne den Cop-Text der ersten Fassung im Directors Cut jetzt so romantisch-schwerfällig geworden ist, wie der alte „Metropolis“-Film) und „Terminator“.

Wenn man den Diskurs des mythisch-wortkargen, körperbetont-schwul-lesbischen und maschinell-verstörten Yuppie-Punk-Kinos der 80er Jahre zurückverfolgt, stößt man auf die reiche Figuren- und Formensprache des deutschen Stummfilms, die als ikonischer Zitatenschatz in aktuelle Medien- und Musikformate übernommen wurde, wobei man mit dem deutschen Abgrund spielte, nicht aber mit der deutschen Ausführlichkeit.

Die totale Tonpartitur – ein Missverständnis zwischen Komponist und Regisseur

Es sieht also so aus, als sei die totale Tonpartitur eines Filmes aus einer kompositorischen Hand eines der größten Missverständnisse in der Theorie und Praxis der Filmmusik, es sei denn der Komponist ist in der Lage, über seinen eigenen stilistischen Schatten zu springen. In den 20er Jahren reizt der Maßstab eines Orchesters in einem „Lichtspieltheater“ dazu, ein gesellschaftliches Ereignis von Format zu schaffen. Kinobesuch im Abendkleid und mit Frack und Zylinder – im Pop-Corn-Zeitalter undenkbar.

Aber diese Art von Musik als durchgehend homogener Sprache, die die technisch und ästhetisch noch „anfälligen“ Bilder und Bildabfolgen in einem künstlerisch „höheren“ Medium vereinheitlicht und verklärt, ist ein Missverständnis, sowohl für den Stummfilm als auch für den Tonfilm. Wenn sich die Impulse einer eigenständigen Kunst über die bisherige Massenware hinaus regten, war der Stummfilm oft auch stolz auf den Verzicht des Tons, um eine eigene Bildsprache zu entwickeln, irgendwo zwischen theatralisch inszenierter, dokumentarisch-sachlicher und künstlerisch expressiver Fotografie.

Epochale Regisseure wie DeMille, Alfred Hitchcock und Fritz Lang haben davon gleich mehrere cineastische Leben gezehrt. Aber auch der Tonfilm ist keineswegs an der totalen Musikpartitur interessiert gewesen. Der Tonfilm ist sogleich darauf aus, verschiedene Quellen der hörbaren Welt zu verwerten, neben den Stimmen der Schauspieler oder Synchronsprecher gerade die eingesetzten natürlichen und künstlichen Töne und Geräusche. Die erste Fassung von Hitchcocks „The Man Who Knew Too Much“ kommt fast ohne Musik aus, bis auf wenige dramaturgische Gelenkstellen, in denen sie meist O-Ton-Funktion hat.

Der totale Einsatz von Musik erweckte schon in den News Reels, in den Wochenschauen der 30er und 40er Jahre unter der pathetischen Stimme des Berichterstatters einen höchst ideologischen und nervigen Eindruck, und das eben nicht nur auf der Seite des angehenden Nazideutschlands. Bei den Werken des späten Stummfilms wie des frühen Tonfilms mutet er oft wie eine lästige Glasur an (Max Steiner für „Vom Winde verweht“, 1939), die man hier und da absprengen möchte.