Zerstörte Lebensfreude
Seite 3: Rückschritt wird als Fortschritt gefeiert
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In der Diskussion über den fundamentalen Islam, insbesondere über die Verschleierung, höre ich immer wieder: "Unsere Großmütter trugen auch ein Kopftuch."
Stimmt, meine Großmütter trugen auch Kopftuch. Beide. Aber nicht als religiöses Zeichen, denn dann wären sie Nonnen geworden und nicht meine Großmütter, schon gar nicht als Markenzeichen des religiös-politischen Fundamentalismus mit Weltmacht-Ambitionen und auch nicht als Zeichen der (Selbst)Unterwerfung. Sondern sie trugen es als Schutz gegen Wind und Wetter, wie es auch heute viele Frauen überall auf der Welt tun.
Meine Mutter und meine Tanten trugen Kopftuch. Ebenfalls als Wetterschutz, aber auch, weil es als "mondän" galt. Die bereits erwähnten US-Schauspielerinnen trugen sie, es kennzeichnete Damen mit Stil, also benutzten meine Mutter und meine Tanten bunte Tücher, wenn sie sich schick machen wollten.
Auch mir wurde als Kind ein Kopftuch umgebunden, sobald ich das Haus verließ. Später, selbst Mutter, habe ich verstanden, wie wichtig dieser Schutz gerade für Kleinkinder ist.
Meine Großmütter trugen also beide Kopftuch. Meine Großmütter haben beide zwei Weltkriege erlebt, den Ersten Weltkrieg selbst als Kind, den Zweiten Weltkrieg als Mutter. Die eine war allein mit zwei kleinen Töchtern und ziemlich auf sich selbst gestellt, die andere war Mutter sieben eigener Söhne plus zweier Stieftöchter. Als der jüngste Sohn - mein Vater - eingeschult wurde, musste der Älteste als Flakhelfer in den Krieg ziehen. Mit 16 Jahren gehörte er unfreiwillig zu des "Führers letztem Aufgebot".
Ob meine Großmütter sich den Mann selbst aussuchen durften, mit dem sie bis zu dessen Tod zusammenlebten und mit dem sie Kinder bekamen, oder aus irgendwelchen Erwägungen, die mit ihnen als Person nichts zu tun hatten, mit diesem verheiratet wurden, weiß ich nicht. Was ich aber weiß, ist, dass zu Zeiten als unsere Großmütter Kopftuch trugen, Zwangsheiraten durchaus üblich waren. "Arrangierte Ehen" ist das wohlklingendere Wort dafür.
Als meine Großmütter heirateten und auch später, als meine Mutter und meine Tanten Kopftuch trugen, durften sie kein eigenes Konto besitzen, durften ohne Zustimmung des Vaters, später des Ehemannes, nicht berufstätig sein und keinen Führerschein machen. Das galt bis 1977 - ein Jahr, nachdem ich selbst meine Berufsausbildung begonnen habe.
Meine Großmütter, meine Mutter und Tanten und auch die jungen die Frauen meiner Generation mussten, wenn sie ungewollt schwanger wurden und das Kind nicht austragen wollten, es sich von Quacksalbern auf dem Küchentisch in Hinterzimmern heruntergekommener Etablissements "wegmachen" lassen. Erst 1992 verabschiedete der Bundestag die sogenannten "Fristenlösung", nach der ein Schwangerschaftsabbruch in den ersten 12 Wochen straffrei ist.
Bis 1975 hatten Mütter kein Sorgerecht für ihre Kinder, auch nicht nach der Scheidung. Dieses wurde automatisch dem Vater zugesprochen, obwohl die Kinder zu fast 100% bei der Mutter lebten. Ledige Mütter galten als "gefallene Mädchen".
Bis 1997, da waren unsere Großmütter bereits verstorben, unsere Mütter trugen schon lange keine Kopftücher mehr und die Frauen meiner Generation bereits wieder geschieden, war Vergewaltigung in der Ehe kein Straftatbestand, sondern die "ehelichen Pflichten", zu denen auch der "Beischlaf" gehörte, waren gesetzlich festgeschrieben.
Unsere Großmütter trugen also Kopftuch. Jede, die dieses Argument in die Kopftuch-Debatte wirft, sollte sich überlegen, ob sie wirklich das, was unsere Großmütter und die Frauen ihrer Generation sonst noch (er)trugen, Frauen und Mädchen, die das Pech haben, in streng muslimische Gesellschaften oder Familien hineingeboren zu werden, zumuten möchten.
Geschweige denn, ob sie das als Zukunftsmodell für die gesamte Gesellschaft erachten. Wie gesagt, wir sollten nicht so tun, als ob unsere Gesellschaft perfekt wäre, aber wir sollten aufhören, so zu tun, als ob wir nichts zu verlieren hätten.