Zombie-Viren: Kommt die nächste Pandemie aus dem Permafrost?
Im schmelzenden Permafrost tauen uralte Mikroben wieder auf. Die Folgen für Ökosysteme sind unabsehbar. Forschende sehen aber noch eine größere Gefahr.
Meldungen über den besorgniserregenden Zustand von Eisschilden, Gletschern und Permafrost überschlagen sich. Die bislang ungebremste Erderwärmung sorgt nicht nur für steigende Meeresspiegel, gegen die in unseren Breiten vorerst noch Küstenschutzmaßnahmen helfen.
Während der Untergang wichtiger Hafenstädte den heute Lebenden wohl erspart bleibt, scheint eine andere Gefahr weniger berechenbar: Immer mehr "zeitreisende" Krankheitserreger, die sich rund um den Erdball verbreiten könnten, werden aus tauendem Eis freigesetzt.
Vor Kurzem gelang es einem internationalen Forschungsteam an der Universität Marseille, Viren, die jahrtausendelang vom Permafrost konserviert waren, zu reaktivieren. Ihre Untersuchungsergebnisse veröffentlichten sie vor einem Jahr in einer Preprint-Studie.
Das Team um Jean-Marie Alempic fand 13 "neue", bislang unbekannte Viren, die aus sieben verschiedenen alten sibirischen Permafrostproben isoliert wurden, davon eine aus dem Lena-Fluss und eine aus dem Kryosol von Kamtschatka. Diese Viren können Amöben der Gattung Acanthamoeba castellanii infizieren, welche im Boden und Süßwasser vorkommen und im Menschen, aber auch in Tieren Infektionen auslösen. Die Forscher nutzten die Amöbe als Köder für die Viren. Ergebnis: Alle dreizehn Viren waren infektiös und befielen die Amöben.
Permafrostböden sind wie eine natürliche Kühltruhe, erklärt Guido Grosse. Der Leiter der Sektion Permafrostforschung am Alfred-Wegener-Institut, war an der Gewinnung der Bodenproben aus Sibirien beteiligt, die in Marseille untersucht wurden.
Oft bestehen die arktischen Eisschichten schon seit der letzten Eiszeit. In einigen Regionen könne man sogar noch Überreste von Mammuts finden - neben Knochen auch konservierte Haare, Fleisch und Blut. Im Gegensatz zu tropischen oder gemäßigten Klimazonen wird das organische Material im gefrorenen Boden nicht zersetzt. Bakterien, die für den Verfallsprozess sorgen, werden erst aktiv, wenn der Permafrost taut.
Viren für die Forschung bei Minus 80 Grad zu lagern, sei eine gängige Methode, erklärt Albert Osterhaus, Direktor des Research Center for Emerging Infections and Zoonoses an der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Allerdings können sich eingefrorene Viren, die wieder auftauen, sehr leicht vermehren.
Unklar ist allerdings, wie lange die Viren infektiös bleiben, sobald sie den Bedingungen in der Natur ausgesetzt sind. Die Risiken, die vom Tauen des Permafrosts ausgehen, müssten weiter erforscht werden, sind sich die Wissenschaftler einig.
Digitale Berechnung der Risiken von Viren-Invasionen
Weltweit schmelzen Eisschilde, Gletscher und Permafrost. Niemand weiß, was das auftauende Eis an Viren und Bakterien freigeben wird und wie sich diese auf die Umwelt auswirken werden.
In einer aktuellen Studie berechneten Wissenschaftler von der Universität Helsinki in Finnland und der Flinders University in Australien die ökologischen Risiken, die entstehen könnten, wenn uralte Mikroben auf die moderne Welt treffen.
Um sich der realen Situation so genau wie möglich anzunähern, nutzte das Team um Giovanni Strona und Corey Bradshaw eine von der Michigan State University entwickelte Softwareplattform für künstliches Leben, die die Evolution komplexer Gemeinschaften virtueller Mikroorganismen simuliert.
Damit ließen sie digitale Krankheitserreger aus der Vergangenheit in Gemeinschaften von bakterienähnlichen Wirten eindringen und verglichen deren Auswirkungen auf die Vielfalt der Wirtsbakterien mit denen in Gemeinschaften, in denen keine Invasionen stattfanden.
Ergebnis: Einige der virtuell erzeugten Krankheitserreger waren in der Lage, in einer modernen Welt zu überleben und sich weiterzuentwickeln. Etwa drei Prozent konnten sich in ihrer neuen Umgebung durchsetzen und etablierte Gemeinschaften verdrängen. Bei rund einem Prozent gab es unvorhersehbare Ergebnisse – manche verursachten das Aussterben von bis zu einem Drittel der Wirtsarten, während andere die Vielfalt um bis zu zwölf Prozent erhöhten. Dies reiche aus, um irreversible Schäden zu verursachen, sind die Autoren überzeugt.
Ausbrechende Mikroben könnten Artenschwund befördern
Angesichts der schieren Anzahl alter Mikroben, die regelmäßig in moderne Gemeinschaften freigesetzt würden, stellen diese Ausbrüche eine erhebliche Gefahr dar. Zwar sei das Risiko eines Ausbruchs gering, doch in den wenigen Fällen, in denen eindringende hartnäckige Krankheitserreger dominant werden, könnte dies das Leben auf diesem Planeten erheblich gefährden, warnen die Wissenschaftler.
Natürlich gebe es grundlegende Unterschiede zwischen der digitalen und der echten Welt. Allerdings entspricht die Länge der Simulationen ungefähr zwei bis vier Millionen Generationen mikrobieller Evolution. Nicht zu vergessen, dass lebensfähige Bakterien aus 750.000 Jahre altem Gletschereis geborgen wurden und dass natürliche mikrobielle Populationen in der Regel kurze Generationszeiten haben.
Allerdings seien die Daten zu den tatsächlich im Eis konservierten Mikroben noch zu spärlich, als dass man eine gesicherte Aussagen machen könnte, räumen die Forschenden ein.
Bakterien und Viren aus der chinesischen Hochebene
Bereits vor 20 Jahren wurden in der Guliya-Eiskappe des Qinghai-Tibet-Plateaus in Westchina Bakterien aus vierzehn Isolaten wiederbelebt. Das Eis, das die unteren 18 Meter eines rund 300 Meter langen Eiskerns bildet, ist über 750 000 Jahre alt und damit das älteste bisher bekannte Gletschereis.
Ebenfalls auf der tibetischen Hochebene, auf dem sogenannten Dach der Welt, fanden Forscher der Ohio State University 2021 in Eisproben eines Gletschers zahlreiche unbekannte Viren. Einige davon waren beinahe 15.000 Jahre alt. Die Ergebnisse veröffentlichten sie im Juli 2021 im amerikanischen Fachjournal "Microbiome".
Die Eisproben hatte das Forschungsteam bereits im Jahr 2015 am Guliya-Gletscher, der sich gut 6.000 Meter über dem Meeresspiegel erstreckt, bei Eisbohrungen entnommen. Analysen der genetischen Codes ergaben nun, dass 28 der 33 gefundenen Viren, die tiefgefroren hunderte bis tausende von Jahren im Gletschereis überdauert haben, neu und bislang völlig unbekannt sind.
"Diese Viren haben Signaturen von Genen, die ihnen helfen, Zellen in kalter Umgebung zu infizieren, erklärt Matthew Sullivan, Co-Autor der Studie, den Ohio State News. Zwar gingen die die Forscher nicht davon aus, dass die gefundenen Bakterien in diesem Fall den Menschen gefährlich werden können, doch warnen sie vor dem rasante Abschmelzen der Gletscher, wodurch Viren und Bakterien in noch tiefer gelegenen Eisschichten freigesetzt werden könnten.
Tiere als Wirte und Überträger von Virenkrankheiten
Wenn bis zu 120.000 Jahre alte pathogene Mikroorganismen auftauen, von denen einige mit aktuellen bakteriellen Erregern verwandt, könnten diese zum Beispiel Krankheiten bei Tieren auslösen. Beispiele sind der Milzbranderreger Bacillus anthracis, Streptokokken oder auch Staphylokokken. Bacillus-Sporen etwa könnten 2016 ein Milzbrand-Ausbruch unter Rentieren in Westsibirien verursacht haben, glauben die Wissenschaftler.
Infolge von überdurchschnittlich heißen Sommern konnten diese aus dem tauenden Permafrost entweichen. Die bakterielle Erkrankung soll in Nordsibirien auch unter Menschen ausgebrochen sein.
Welche Gefahr von im Permafrost eingefrorenen Mikroben ausgehen kann, zeigt sich in einer Studie von 2017, in der belgische Biologen in einem 700 Jahre alten Karibu-Kot Viren fanden, die sie im Labor wiederbeleben konnten. Ähnlich wie 2014 in Frankreich, als französische Forscher ein seit 30.000 Jahren eingefrorenes Riesenvirus unter Laborbedingungen wieder zum Leben erweckten.
Die Gefahr durch Viren, die in Jahrtausende alten, eingefrorenen Tierkadavern konserviert sind, schätzt der Veterinärmediziner Osterhaus insgesamt als eher gering ein – im Vergleich zu jüngeren, menschlichen Leichen aus dem Gletschereis: Diese Krankheitserreger könnten bereits Menschen und nicht nur spezifisch Tiere oder Amöben befallen.
Als deutlich größere Gefahr erachtet der Virologe den Kontakt zu heute lebenden Wildtieren. So gehen viele Experten gehen davon aus, dass etwa das Coronavirus SARS-CoV-2 von Fledermäusen auf den Menschen übergesprungen ist, vermutlich über einen Zwischenwirt
Während das Eis zunehmend taut, werden manche Regionen in der Arktis verstärkt besiedelt, zum Teil auch, um Rohstoffe abzubauen. Zwar ist unklar, wie viele verschiedene Viren und Bakterien im Eis schlummern. Doch das Risiko, dass Menschen mit aufgetauten Krankheitserregern in Kontakt kommen, steigt.