Zuhause, allein und anonym
Eine Befragung über die Auswirkungen der Internetbenutzung konstatiert wachsende Vereinsamung und Ausdehnung der Arbeitszeit
Mit jedem neuen Medium entstehen auch wieder alte Ängste. Medien verändern, wie Menschen miteinander kommunizieren und umgehen, was man aus der Perspektive des Verlustes oder der der Bereicherung bzw. eines positiven Wandels sehen kann. Schon beim Aufkommen des Buchdrucks und dann der Romane wurde von manchen ein Rückzug aus der Gesellschaft und eine Vereinsamung prognostiziert. Gleich ob bei Telefon, Radio oder Fernsehen, standen sich stets die Befürworter und die Bedenkenträger gegenüber. Das ist beim Internet, dessen schnellstmögliche und umfassende Durchsetzung mittlerweile zu einer der primären Angelegenheiten der Regierungen als Standortsicherung avanciert ist, natürlich nicht anders. Eine breit angelegte Befragung der Stanford University unter der Leitung von Norman Nie, Direktor des Institute for the Quantitative Study of Society und Vorsitzender von InterSurvey, und Lutz Erbring von der FU Berlin kommt jetzt zu dem Ergebnis, dass die Internetnutzung die Menschen sozial isoliert und überdies zu einer Ausdehnung der Arbeitszeit führt.
Das Ergebnis der Befragung von über 4000 Menschen in 2700 amerikanischen Haushalten wird den Befürwortern der Vernetzung nicht gerade willkommen sein. "Wir bewegen uns von einer Welt, in der man alle seine Nachbarn kennt, seine Freunde trifft und jeden Tag vielen verschiedenen Menschen begegnet, zu einer funktionalen Welt, in der die Interaktion aus der Entfernung stattfindet", kommentiert Nie die Studie. Je mehr die Menschen ihre Zeit im Internet verbringen, desto weniger Zeit haben sie für den Kontakt mit "wirklichen" Menschen. Immer mehr würden alleine und anonym Zuhause sein.
Schon 1998 kam eine Befragung der Carnegie Mellon University zu einem ähnlichen Ergebnis. Menschen, die das Internet für längere Zeit benutzen, würden sich depressiver und einsamer fühlen (Macht uns das Netz einsam und depressiv?). Nie kritisiert, dass man sich bislang zu wenig um die psychologischen und emotionalen Auswirkungen des neuen Mediums gekümmert habe. Die Entwicklung verlaufe so ähnlich wie bei der Einführung der Autos, die zu einer unkontrollierten Suburbanisierung geführt habe, oder wie des Fernsehens, das zum Niedergang der politischen Parteien beigetragen habe.
Die repräsentative Befragung, die im Dezember 1999 durchgeführt wurde, stellt freilich auch banalere Dinge fest. 55 Prozent der Befragten hatten Zuhause oder im Büro einen Internetzugang, und 43 Prozent der Haushalte waren online. Zwei Drittel der Befragten benutzen das Internet noch immer weniger als 5 Stunden in der Woche. Bei diesen habe sich das Verhalten kaum geändert. Doch je länger die Menschen Zugang zum Internet hatten, desto mehr Zeit würden sie auch in ihm verbringen, was bei 20 Prozent der Befragten der Fall war, die länger als 5 Stunden in der Woche online sind. Das geht zunächst offenbar auf Kosten der herkömmlichen Massenmedien. 60 Prozent der regelmäßigen Internetbenutzer sagten, sie würden weniger Zeit vor dem Fernseher verbringen, ein Drittel sagte, dass ihre Lektüre von Zeitungen abgenommen habe. Durch die Möglichkeiten des Interneteinkaufs würden die regelmäßigen Nutzer - 25 Prozent der Befragten - aber auch weniger in Geschäften einkaufen gehen, sich mit Freunden oder Bekannten treffen oder überhaupt ausgehen. Und ein Viertel der regelmäßigen Internetnutzer, die als Angestellte beschäftigt sind, gaben an, dass sie mehr Zeit mit der Arbeit Zuhause verbringen, während die Büroarbeitszeit nicht weniger wurde, was nur bei 4 Prozent der Fall sei.
Das ist Anlass für Nie, einen schnellen Seitenhieb auf Ford zu machen. Das Unternehmen hatte große Aufmerksamkeit mit der Ankündigung gefunden, allen Angestellten Computer und Internetzugang zu geben: "Sie haben sich damit nur Hunderttausende von kostenlosen Arbeitsstunden gekauft. Man muss keine Aktentasche mehr mitnehmen, um Zuhause zu arbeiten, jetzt ist schon alles da und wartet auf einen." Arbeit und Freizeit verschwimmen, das Leben wird nach Nie zu einem "kontinuierlichen Strom, der um das Internet organisiert wird."
Die meisten Internetbenutzer machen primär von Emails und Chats Gebrauch. Das würde zwar auch zur Kommunikation mit Familienmitgliedern und Bekannten beitragen und helfen, in Kontakt zu bleiben, "aber man kann mit niemandem damit gemeinsam einen Kaffee oder ein Bier trinken." Zum großen Teil sei die Internetnutzung eine Tätigkeit, die allein geschieht. Im Gegensatz zum Fernsehen, das man in den Hintergrund drängen könne, verlange das Internet jedoch eine höhere Aufmerksamkeit und Beteiligung: "Das Internet könnte die neueste Isolationstechnologie sein, die unsere Beteiligung an sozialen Gruppen noch stärker reduziert, als dies bereits mit dem Fernsehen geschehen ist." Auffallend sei auch, dass sich das Verhalten von Menschen aus unterschiedlichen Schichten und Ethnien durch die Internetnutzung angleicht: "Wenn die Menschen einmal einen Internetzugang haben, gleichen die Schwarzen den Weißen und die Gebildeten den Ungebildeten, und auch die Altersgruppen werden mit Ausnahme der über 65-Jährigen homogener."
Gegenüber den kommunikativen Möglichkeiten des Internet und der Beschäftigung mit Spielen fällt bislang der kommerzielle Aspekt noch sehr zurück. Nur ein Viertel der Internetbenutzer haben bereits online eingekauft, zwischen 40 und 60 Prozent verwenden das Medium, um sich Informationen über Waren und Reisen zu verschaffen. Gerade einmal 10 Prozent beteiligen sich online an Auktionen, Telebanking oder Handel mit Aktien. Ansonsten ist das Internet für die Nutzer eine "riesige öffentliche Bibliothek mit einer kommerziellen Neigung".
Gegen die Hauptthese des Berichts wurden natürlich auch schon kritische Stimmen laut, die gerade das Gegenteil der Vereinsamung und eine Zunahme der Freundschaften durch das Netz festhalten wollen. Der Kommunikationswissenschaftler John Katz von der Rutgers University etwa meint, dass solche Berichte mit negativen Ergebnissen noch immer besser ankommen. Für ihn ist das Internet schon allein deswegen gut, weil man sich damit aus der unmittelbaren Umgebung lösen könne. Das sei auch alte amerikanische Tradition: "Sich von den Reibereien und Zwängen der Nachbarn und der Familie zu befreien, wurde immer als gut angesehen. Das ist es, worauf die USA und der Wilde Westen sich begründet haben. Jetzt haben wir eine neue endlose Frontier, und plötzlich gibt es eine Menge Leute, die sich Sorgen machen." Auch Amatai Etzioni, führender Vertreter des Kommunitarismus, sieht die Sache ein wenig anderes. Natürlich würden die Menschen, die vor dem vernetzten Computer sitzen, sich nicht gleichzeitig mit anderen Menschen treffen können: "Aber die Menschen bauen starke Beziehungen im Internet auf, und viele dieser Beziehungen könnte man auf andere Weise nicht eingehen." Für Patrick McKeown, einem Wirtschaftsprofessor an der University of Georgia, sind die Folgerungen aus der Befragung zweifelhaft. Das Internet eröffnet für ihn schlicht andere Formen sozialer Kontakte: "Das ist fast so, wie Siedler 1910 in Nebraska gelebt haben, wo es nur einen selbst und die Familie gegeben hat und man sonst tagelang keinen Anderen gesehen hat. Wir haben eine Periode der Urbanisierung hinter uns und gehen jetzt zu einem fast ländlichen Lebensstil zurück - zu einem Siedlerdasein im eigenen Haus." Fragt sich nur, wie es den Siedlern damals gegangen ist ...