Zukunft des Kochens und Wohnens: Vom Kult des Privaten zum Aufbruch in kollektive Lebensformen

Seite 2: Der Kult des Kochens, Stress und Speisegaststätten

Die Ernährung stellt eine enorm umfangreiche und maßgebliche Angelegenheit dar. Und zwar sowohl für die Nachfrage nach Konsumgütern als auch für die Reichweite von Märkten in der Gesellschaft. Zugleich handelt es sich um ein Thema, das Fragen nach der individuellen Lebensweise aufwirft. Entsprechend kontrovers sind die Auffassungen.

Unstrittig ist es problematisch, wenn viele Deutsche Fast Food konsumieren, sich hoch verarbeitete und damit gesundheitlich abträgliche Fertiggerichte aufwärmen und wenig Aufmerksamkeit für die Qualität ihrer Nahrung haben.

Mit dem Kochen kann man es aber auch übertreiben. Ein Motiv dafür ist die Selbstbemutterung:

"Wenigstens hier kann ich etwas Gutes für mich tun und das lass’ ich mir nicht nehmen."

Die Kochshows seit den 1970er-Jahren und der Kult der Selbstsorge haben dem Kochen eine künstliche Bedeutung verliehen. Es bildet nun eine Teilmenge der Subjektivierung des Lebens.

Ihr zufolge soll jede Person nicht nur ökonomisch ein selfmade-man sein, sondern Schmied seines eigenen Glücks. Das Kochen gilt als Handlung, die symbolisiert, dass man seines leiblichen Wohlergehens eigener Herr sei.

Überkompensatorisch: Küche als Statussymbol

Das Kochen ist für viele zu einer überkompensatorischen Domäne von Kenner- und Könnerschaften geworden. Leute mit dem nötigen Kleingeld investieren in Küchen gern viel. Es findet sich eine Ausstattung, die angesichts des Personenkreises, dem das Kochen zugutekommt, unverhältnismäßig aufwendig ausfällt. Die Utensilien sollen den Ansprüchen von Sterne-Köchen gehorchen.

Die Küche wird dann zum Statussymbol.

Die Küche ist das neue Auto. Das schreibt die ‚WirtschaftsWoche‛, das stellen Trendsetter und Wohnzeitschriften fest. Und die deutsche Küchenindustrie freut es. Sie verzeichnet nämlich 30 Prozent Zuwachs, vornehmlich im hochwertigen Ausstattungssegment. (…)

Als Statussymbol löst sie (die Küche – Verf.) schon seit einiger Zeit das Auto ab.

Bora

Geschmacksniveau, Lebensstil und -kunst gilt es zu zelebrieren, wenn man sich gegenseitig zu exquisiten Gerichte einlädt bzw. von ihnen schwärmt: "Frittierte Kolibri in Brennesselmousse" (Rutschky 1987, 169) und zum Nachtisch gepeitschte Wanze in Aspik.

Das Bürgertum hat alles Heilige in Profanes verwandelt. Wer aber nun anfängt, Profanem die Würde des Heiligen zuzuschreiben, verrennt sich in Verstiegenheiten und verwirrt die Aufmerksamkeit für Wertmaßstäbe.

Das Missverhältnis: Der Stress

Viele sind davon gestresst, täglich ein warmes Essen für den Partner oder die Kinder auf den Tisch zu bringen. Anders als bei begeisterten Freizeitköchen resultiert das private Kochen häufig nicht aus einer individuellen Vorliebe, sondern eher aus einer gegenwärtig dominierenden Zwangs- und Mangelsituation: Der Besuch eines Restaurants ist zu teuer. Gute Kantinen sind selten.

Das Missverhältnis zwischen großindustriell produzierter Nahrung und der Verarbeitung der Produkte für die Nahrungsaufnahme in privaten Küchen könnte kaum größer sein. Ein Vergleich mit anderen Konsumgütern verdeutlicht das: Fast niemand kommt auf die Idee, sich die notwendigen Materialien einzeln zu kaufen, um aus ihnen eigenhändig sich das eigene Schuhwerk anzufertigen.

Das Kochen im Kleinsthaushalt

Viele schätzen ihre eigenen Kochkünste als Fähigkeiten und Sinne. Sie sehen dabei nicht nur auf deren funktionalen Nutzen, sondern erachten das Kochen als Teil ihrer ganz persönlichen Kultur. Zugleich gilt es, diese legitime Perspektive ins Verhältnis zu setzen zu dem, was das private Kochen voraussetzt. Es verbraucht nicht nur im Übermaß Ressourcen.

Die in der bürgerlichen Gesellschaft dominierende Kultur der privaten warmen Mahlzeit zieht einen Rattenschwanz an problematischen Konsequenzen nach sich. Das Kochen im Kleinsthaushalt fordert nicht nur einen gesamtgesellschaftlich hohen Einsatz von Arbeit im Vergleich zur Erstellung von Mahlzeiten in einem Restaurant.

Lösung: Gesellschaftlich subventionierte Speisegaststätten

Würden preiswerte und qualitativ leistungsstarke, gesellschaftlich subventionierte Speisegaststätten in Laufreichweite der Wohnung existieren, so müssten viel weniger Lebensmittel in Geschäften eingekauft werden.

Nicht nur der Aufwand der Konsumenten fürs Einkaufen würde sinken, sondern auch das Ausmaß der wenig attraktiven Tätigkeiten in Supermärkten. Der Aufwand bei den Zulieferern, die Lebensmittel in jeweils kleiner Menge zu verpacken, damit sie individuell transportiert und gelagert werden, würde massiv abnehmen. (Ich folge in den letzten drei Absätzen Überlegungen von Ulf Petersen.)

Die damit verbundene Reduktion der Arbeiten der Verpackungsindustrie wäre begrüßenswert – nicht nur aus ökologischen Motiven, sondern auch aus Gründen der Reduktion unattraktiver Arbeit.