Zum 75. Befreiungstag: Erinnerungskultur in den Niederlanden
Erfahrungsbericht eines Europäers
Rot. Weiss. Blau. Ich schaue aus dem Fenster und sehe, wie erwartet, die niederländische Flagge meiner Nachbarn auf halbmast. Am 4. Mai ist ein nationaler Trauertag. Ursprünglich galt er den Opfern des Zweiten Weltkriegs. Seit 1961 wird aber aller gedacht, die unter Kriegsumständen oder in "Friedensmissionen" ums Leben kamen. Vom Balkon aus sehe ich, dass fünf der zwanzig Wohnungen unseres Blocks "Flagge zeigen".
Vor genau zehn Jahren schlitterte ich unvorbereitet ins erste Totengedenken (niederländisch: Dodenherdenking). Als ich in der E-Mail der Tanzschule las, man würde die Schweigeminuten um 20 Uhr einhalten und eine Live-Übertragung aus Amsterdam zeigen, hatte ich keine Ahnung, worum es geht. Ich fürchtete, es habe ein Unglück gegeben. Heute weiß ich, dass man sich Jahr für Jahr auf dem Dam in der Hauptstadt trifft, dem großen Platz vor dem Stadtpalast. Außerdem gibt es Hunderte andere Versammlungen, organisiert von ebenso vielen ehrenamtlichen Komitees, quer durch das ganze Land.
Während manche deutsche Parlamentarier über die Erinnerungskultur klagen, mal das Dritte Reich als "Vogelschiss in der Geschichte" abtun oder über das Holocaustdenkmal in Berlin jammern, ist die Erinnerung bei Deutschlands Nachbarn noch quicklebendig. Mir ist immer wieder einmal aufgefallen, dass auch abseits des nationalen Gedenktags an Mahnmalen, etwa dem für deportierte Juden am Bahnhof Amsterdam Muiderpoort oder für Anne Frank in Utrecht, frische Blumen niedergelegt werden. Der 4. Mai ist ein kollektiver Ausdruck, doch bei Weitem nicht das einzige Beispiel für die Erinnerungskultur der Niederlande.
Am 5. Mai 1945 kapitulierten die deutschen Besetzer in dem Land, in das sie ziemlich genau fünf Jahre vorher eingefallen waren. Die Befreiungskämpfe, vor allem durch das amerikanische, englische, kanadische und polnische Heer, hatten seit dem Herbst 44 angedauert. An vereinzelten Ortschaften und Watteninseln im Norden hielt der Widerstand von deutschen Soldaten noch einige Tage länger an. Am 8. Mai unterzeichnete schließlich Generalfeldmarschall Keitel die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht und ging der Krieg in Europa zu Ende.
Neben den direkten Kriegsereignissen und Deportationen von Juden, Widerständlern und denunzierten Pechvögeln, hatte der Winter 44/45 in den Niederlanden noch einmal über 20.000 Menschen das Leben gekostet und ist er als "Hungerwinter" in die Geschichte eingegangen. Es kommt noch heute vor, dass ältere Menschen einen korrigieren, wenn man sagt, man habe "honger" (Hunger). "Du weißt gar nicht, was Hunger ist!", heißt es dann. Stattdessen solle man das Wort "trek" (für Appetit) verwenden. So tief hat sich die Hungersnot ins kulturelle Gedächtnis eingegraben.
Die große Zeremonie in Amsterdam folgt einem strikten Protokoll. Neben dem König und Würdenträgern des Militärs und öffentlichen Lebens nehmen daran (die letzten verbliebenen) Zeitzeugen mit ihren Angehörigen sowie ausgewählte Schülerinnen und Schüler teil. Es gibt Vorträge, Gedichte und Kranzniederlegungen. Kirchenglocken läuten.
Kurz vor 20 Uhr spielt ein Trompeter eine traurige Melodie. (Wegen Corona sind 2020 die Menschen dazu aufgerufen, zuhause selbst ihre Blasinstrumente zu spielen.) Um 20 Uhr läuten noch einmal die Glocken der Nieuwe Kerk. Dann ist es zwei Minuten lang still - im ganzen Land. Zwei Strophen der Nationalhymne ("Wilhelm von Nassau bin ich, von deutschem Blut, dem Vaterland treu bleibe ich bis in den Tod…") brechen schließlich das Schweigen. Am Ende gibt es einen Trauermarsch, bei dem alle Anwesenden Blumen niederlegen können.
Beim Totengedenken geht es um die Versöhnung mit der Vergangenheit. Der am nächsten Tag folgende Befreiungstag (Bevrijdingsdag) feiert das Leben und blickt in die Zukunft. Die vor allem bei den jüngeren Menschen beliebten Freiheitsfestivals mit viel Musik, Tanz und Alkohol mag man für ihre Kommerzialisierung kritisieren. Doch auch dort gibt es Vorträge und Informationsstände zum Thema Freiheit.
Die Erinnerungskultur findet sich nicht nur in den Köpfen, sondern auch in der Landschaft. So gibt es beispielsweise in der westlichen Provinz Zeeland noch rund achtzig Bunker des Atlantikwalls und zwei Kriegsmuseen, an denen entlang ein 67km langer Wanderweg führt. Der Rückbau der Betonbauten, die etwas von Särgen haben, wäre schlicht zu teuer gewesen. Heute sind es Denkmäler. Aber auch auf der Watteninsel Terschelling hat man in jüngeren Jahren wieder Bunker für Touristen zugänglich gemacht, um ein weiteres Beispiel zu nennen.
Verglichen mit diesem lebendigen und vor allem die gesamte Gesellschaft durchziehenden Gedenken verwundert es schon, dass die deutschen Parlamentarier mit ihren Gedenkstunden lieber unter sich bleiben. Denn wie Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner mutigen Rede vom 8. Mai 1985 formulierte, mussten auch die Deutschen vom Nationalsozialismus befreit werden: Das Kriegsende sei für sie keine Niederlage, sondern ein "Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft" gewesen.
Von Weizsäckers abschließende Bitte, sich nicht in Feindschaft und Hass gegen andere Menschen treiben zu lassen, die Freiheit zu ehren und für den Frieden zu arbeiten, hat 35 Jahre später nichts von ihrer Aktualität und Dringlichkeit eingebüßt. Im Gegenteil! Die Ressentiments innerhalb Europas nehmen aufgrund der wirtschaftlichen Ungleichheit in Krisenzeiten wieder zu. Und in vielen Ländern wird Zuwanderung als immer größeres Problem wahrgenommen, selbst dort, wo Gastarbeiter zum Wohlstandswachstum beitrugen und -tragen.
Bevor Nazis Juden und Angehörige anderer Volksgruppen ermorden konnten, mussten erst Demokraten, Freidenker und Kritiker, schlicht jeder, der es wagte, eine andere Meinung zu äußern, eingeschüchtert oder gleich ins Konzentrationslager in "Schutzhaft" genommen werden (Zur Psychologie des KZ Dachau). Aus gutem Grund unterliegen die Grundrechte einer Ewigkeitsklausel (Art. 79 Abs. 3 GG) und können sie überhaupt nur aufgrund eines Gesetzes, das Verfassungsprinzipien wie das der Verhältnismäßigkeit berücksichtigen muss, eingeschränkt werden.
In einer Zeit, in der die Unterschiede zwischen den Menschen und den Volksgruppen wieder verstärkt hervorgehoben werden, gewinnt der Einheitsgedanke an Bedeutung. Das niederländische Totengedenken schaut versöhnend auf die Vergangenheit. Ohne Versöhnung und Reintegration nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs hätte Deutschland kein so wohlhabendes Land werden können. Die Gemeinschaft der Europäer hat ihren problematischen Nachbarn nach und nach wieder aufgenommen. Und auch Exportweltmeister können keine Nation werden, ohne andere Länder, die ihre Produkte kaufen.
Alle Europäer zusammen stellen heute nicht einmal mehr 10% der Weltbevölkerung. Das relativiert die Partikularinteressen einzelner Staaten. Letztlich sitzen wir alle zusammen in diesem einen Boot, genannt Planet Erde. Wie wir heute leben, denken und miteinander umgehen, bestimmt unsere Zukunft. Damit wir diese gemeinsam in Frieden und Einheit erleben werden, wünsche ich mir ein alljährliches Freiheitsfestival für alle Menschen.