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Zum Tag der Deutschen Uneinheit

Bild: pxhere.com

Themen des Tages: Deutsche Widervereinigung. Desertion und Rekrutierung in Russland und der Ukraine. Und soziale Folgen der Krise.

Liebe Leserinnen und Leser,

1. In Thüringen wird heute des Falls der Mauer gedacht, niemand redet aber über fortbestehende und neue Klüfte.

2. Russen sollen desertieren und leben dürfen, Ukrainer sollen kämpfen und vielleicht sterben müssen. Wie moralisch ist das?

3. Telepolis heute: Wenig Vertrauen ins russische Militär, nur noch beschränkte Corona-Impfung für Minderjährige in Schweden und die Folgen der kommenden Krise.

Doch der Reihe nach.

Deutsche Einheit: Probleme können nicht weggefeiert werden

Auch 32 Jahre nach der Wiedervereinigung werden heute Bühnen aufgebaut und Reden gehalten – doch die desaströse Bilanz der Deutschen Einheit kann keine Big Band übertönen und kein Moderator schönreden. Fakt ist: Gut drei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR zieht sich entlang des Mauerstreifens eine tiefe Kluft durch Deutschland: politisch, sozial und gesellschaftlich. Die Wiedervereinigung ist zur Widervereinigung mutiert.

Das Versagen aller bisherigen Bundesregierungen ist umso beachtlicher, als seither eine ganze Generation herangewachsen ist. Wer zur Wendezeit ein Teen war, ist gefühlt in einem Deutschland aufgewachsen. Persönlich mögen viele Kontakte entstanden sein. Zusammengewachsen aber ist nur wenig von dem, was, wie man sagt, zusammengehört.

Auf die Frage, ob zwischen dem Westen und dem Osten Deutschlands eher die Unterschiede oder eher die Gemeinsamkeiten überwiegen, sehen 57 Prozent der Ostdeutschen eher Unterschiede. Unter den Westdeutschen sehen 57 Prozent eher Gemeinsamkeiten.

Eher als Deutsche sehen sich im Westen 78 Prozent, die im Urlaub vielleicht mal nach Rügen fahren. Im Osten haben nur 55 Prozent der Menschen eine gesamtdeutsche Identität. Immerhin über die Hälfte. Man ist schon mit wenig zufrieden.

Das Unvermögen ist vielfältig. So betont die MDR-Studie "Der lange Weg nach oben" zur Repräsentanz Ostdeutscher in Führungspositionen:

Bei einem Anteil von über 80 Prozent an der Wohnbevölkerung von Ostdeutschen in den fünf ostdeutschen Bundesländern ist der Anteil Ostdeutscher in den Elitepositionen seit 2016 lediglich von 23 auf 26 Prozent angestiegen. Auf den bundesdeutschen Top-Elitepositionen, die hier betrachtet wurden, ist der Anteil Ostdeutscher von knapp zwei auf rund dreieinhalb Prozent angestiegen – bei einem ost- deutschen Bevölkerungsanteil von bundesweit etwa 17 Prozent.

Studie "Der lange Weg nach oben"

All dies und die strukturelle soziale Ungleichheit wird sich eher früher als später auch politisch Bahn brechen. Der massive Absturz der SPD in Brandenburg – von 34 auf 24 Prozent binnen eines Jahres – ist ein Indiz dafür. Die neuen Montagsdemonstrationen ein weiteres.

Natürlich kann man diesen Unmut verächtlich machen. Oder man kann ihm mit politischen, medialen und sogar geheimdienstlichen Methoden entgegentreten, wie dies ja auch geschieht. Die neue Mauer in Deutschland wird das aber nur verbreitern, vertiefen und stärken.

Artikel zum Thema:

Bernd Müller: Energiekrise: In Ostdeutschland könnte Stimmung bald kippen [1]
Peter Nowak: Soziale Proteste: Die Linke als Diskurspolizei? [2]
David Goeßmann: Wie der Tod Gorbatschows im Westen missbraucht wird [3]

Krieg und Moral

Russland, so berichten westliche Medien an diesem Wochenende unter Berufung auf russische Angaben, habe an der Grenze zum benachbarten Georgien mehr als 180 wehrpflichtige Männer in Gewahrsam genommen. Sie hätten versucht, sich der Einberufung durch Ausreise zu entziehen.

Die russische Nachrichtenagentur Interfax meldete, ihnen sei noch am Grenzübergang nach Ingewahrsamnahme der Einberufungsbescheid übergeben worden. Dessen rühmte sich das Militärkommissariat der an Georgien grenzenden russischen Region Nord-Ossetien.

Die Deutsche Presse-Agentur Nachrichtenagentur beschrieb die Lage so:

Die von Kremlchef Wladimir Putin vor rund zehn Tagen angeordnete Teilmobilmachung hat in Russland eine regelrechte Massenflucht ausgelöst. Zehntausende Männer flüchteten nicht nur nach Georgien im Südkaukasus, sondern beispielsweise auch in die zentralasiatischen Ex-Sowjetstaaten Kasachstan und Kirgistan.

An der Fluchtbewegung ist nichts auszusetzen, ganz im Gegenteil: Wenn sich russische Männer der Teilnahme an der Invasion entziehen, ist das eine starke politische Aussage. Eine Friedensgeste.

Aber Achtung: Wen verpflichten wir von deutschen Wohnzimmern, Stammtischen und Redakteursstuben aus eigentlich, seine Familie zu verlassen, um sein Leben zu riskieren; wem gestehen wir das Recht auf Desertion zu?

Natürlich greift Russland an, natürlich verteidigt sich die Ukraine. Die moralische Dissonanz, mit der die westliche Öffentlichkeit das Thema behandelt, ist aber beachtlich. Schon knapp einen Monat nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hatte ein gutbezahlter Hinterbänkler aus dem Deutschen Bundestag vorgeschlagen, Soldaten der russischen Armee über ein bevorzugtes Asylverfahren zur Fahnenflucht zu bewegen.

Berichte über Zwangsrekrutierungen in der Ukraine fanden und finden in Deutschland jedoch kaum Gehör. Interessanterweise waren es eher US-Medien, die auf die Schicksale junger Ukrainer hinwiesen, die schon im Frühjahr an den Grenzen abgefangen und an die Front geschickt worden sind.

Aber die sterben ja für ihre Freiheit. Und ein wenig ja, wie so oft zu hören ist, auch für unsere. Dafür gibt es dann Orden vom Obersten Befehlshaber für die Witwen und Kinder der Gefallenen [4].

Artikel zum Thema:

Harald Neuber: Ukraine-Krieg: Wer fliehen darf, wer kämpfen muss [5]

Florian Rötzer: Freiwilliger der ukrainischen Territorialverteidigung: "Wir werden in den sicheren Tod geschickt" [6]

Jürgen Grässlin: Das Blutvergießen muss ein Ende haben – in der Ukraine und weltweit [7]

Harald Neuber: "Mitunter stehen auch Kriegsreporter im Dienst der krasseren Schlagzeile" [8]

Bernhard Gulka: Russland: Wie man eine Front (nicht) aufbricht [9]

Überraschende Versäumnisse und Inkompetenz des russischen Militärs

Der US-Globalisierungskritiker und Aktivist Noam Chomsky geht nicht davon aus, dass die Teilmobilisierung in Russland das Kriegsgeschehen kurzfristig beeinflussen [10] wird:

Die Versäumnisse und die Inkompetenz des russischen Militärs haben die meisten der gut informierten Analysten überrascht. Das könnte auch auf die Mobilisierung, Ausbildung und Lieferung von Ausrüstung zutreffen. Eine nennenswerte Stärkung der russischen Streitkräfte durch die Mobilisierung wird wahrscheinlich weit in der Zukunft liegen und wohl erst nach den Wintermonaten zum Tragen kommen. Russland könnte Truppen aus anderen Regionen verlegen, aber ob die Führung die Fähigkeit oder den Willen dazu hat, kann ich nicht einschätzen.

Noam Chomsky

Wie wirken sich massiv steigende Militärausgaben aus?

Von einer Debatte zwischen Gewerkschaftlern und Aktivisten [11] berichtet heute Telepolis-Autor Peter Nowak. Dabei ging es auch um die zu erwartende Zuspitzung sozialer Kämpfe in Zeiten von Krieg und Krise. So jedenfalls die Einschätzung aus dem Teilnehmerkreis:

Die wirtschaftlichen Opfer, die die erhöhten Militärausgaben mit sich bringen, werden den Arbeitnehmern auferlegt, die auch die Kosten für unbezahlbare Energie-, Lebensmittel- und Mietpreise zu tragen haben; die Flüchtlingswelle aus der Ukraine wird von den Regierungen genutzt, um rassistische Hierarchien zu verstärken und neue zu etablieren, während der Krieg die patriarchalische Gewalt verschärft. Die Militarisierung der Industrie widerspricht selbst der sanftesten "grünen" Politik angesichts des weltbedrohenden Klimawandels.

Schweden: Neue Empfehlung für Corona-Impfung unter 18 Jahren

Zu einer neuen Risikoabwägung bei Corona-Impfungen für Minderjährige sind die schwedischen Behörden [12] gekommen, wie Telepolis-Autorin Andrea Seliger heute berichtet:

Minderjährige sollen nur noch dann gegen Covid-19 geimpft werden, wenn sie einer Risikogruppe angehören. Das ist die neue Empfehlung der schwedischen Behörde für öffentliche Gesundheit, die am 1. November in Kraft tritt. Begründet wird dies damit, dass eine Covid-Infektion für diese Altersgruppe ein geringes Risiko hat. Damit folgt Schweden Dänemark. Für Ältere wird das Impfen dagegen weiter beworben.


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https://www.heise.de/-7282758

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[1] https://www.heise.de/tp/features/Energiekrise-In-Ostdeutschland-koennte-Stimmung-bald-kippen-7184059.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Soziale-Proteste-Die-Linke-als-Diskurspolizei-7260305.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/Wie-der-Tod-Gorbatschows-im-Westen-missbraucht-wird-7249253.html
[4] https://twitter.com/tarnowska_magda/status/1575581908712333312
[5] https://www.heise.de/tp/features/Ukraine-Krieg-Wer-fliehen-darf-wer-kaempfen-muss-6586887.html
[6] https://www.heise.de/tp/features/Freiwilliger-der-ukrainischen-Territorialverteidigung-Wir-werden-in-den-sicheren-Tod-geschickt-7128790.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Das-Blutvergiessen-muss-ein-Ende-haben-in-der-Ukraine-und-weltweit-6727073.html
[8] https://www.heise.de/tp/features/Mitunter-stehen-auch-Kriegsreporter-im-Dienst-der-krasseren-Schlagzeile-6664004.html
[9] https://www.heise.de/tp/features/Russland-Wie-man-eine-Front-nicht-aufbricht-7067668.html
[10] https://www.heise.de/tp/features/Chomsky-Es-gibt-das-Risiko-dass-der-Westen-bis-nach-Russland-vordringen-koennte-7280762.html
[11] https://www.heise.de/tp/features/Nieder-mit-den-Waffen-hoch-mit-den-Loehnen-7282738.html
[12] https://www.heise.de/tp/features/Schweden-Keine-Covid-Impfung-mehr-fuer-gesunde-Kinder-und-Jugendliche-7282589.html