Zur Idealisierung des früheren Sozialstaats besteht kein Anlass

Seite 2: Die Grenzen des Sozialstaats

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Prinzipielle qualitative Grenzen des Sozialstaats sind mit der Individualisierung von Problemen, der Monetarisierung (auf den Wegfall von Arbeit folgt finanzielle Unterstützung des Arbeitslosen) und dem Reparaturprinzip gegeben. Als "Kompensationsveranstaltung" kapituliert der Sozialstaat "vor einem sich aller ethischen Einbindung entledigenden Marktliberalismus".

Der Sozialstaat unterstellt die "Externalisierungsentscheidungen einer sich dekontextualisierenden, absolut setzenden ökonomischen Rationalität. … Und da das nach der eigenen verengten Maximierungslogik fortentwickelnde ökonomische System zu keinerlei reethisierender, rekontextualisierender Veränderung mehr fähig war, mussten die sozialen Defizite des ökonomischen Systems durch entsprechende etatistische Arrangements kompensiert werden. Kompensationen sind konservativ: Sie lassen die Ursachenstrukturen der nach ihnen verlangenden Mängellandschaften unverändert; sie sind Komplizen der Mängelverursacher".9

Die mit dem Sozialstaat verbundene Forderung nach sozialer Gerechtigkeit ist in sich selbst widersprüchlich, insofern sie und der Sozialstaat zugleich den Grundsatz der individuellen Selbstentfaltung der Bürger als Marktakteure (und damit ein wesentliches Moment der bürgerlichen Gesellschaft) bejahen. Und dann heißt es: Wer A sagt, muss auch B sagen:10

Angesichts der unterschiedlichen Begabungen und Motivationen der Menschen muss es auch im ökonomischen Bereich zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen können, will man die Freiheit der Selbstentfaltung nicht abwürgen. Die Herstellung ökonomischer Gleichverteilung wäre deshalb mit dem Grundsatz der Selbstentfaltung unvereinbar. Gerechtigkeit kann also nicht schematische Gleichheit bedeuten, sondern ist im Sinne eines "Jedem das Seine" (suum cuique) zu verstehen.

Hans-Herbert Arnim: Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland

Viele, die meinen, den Neoliberalismus zu kritisieren, halten ihm ihr Ideal von Gerechtigkeit vor und vergegenwärtigen sich nicht, was Gerechtigkeit als zentrales Moment der bürgerlichen Gesellschaft beinhaltet.11

Die "Sozialfigur des selbständigen Bürgers

Die emphatischen Befürworter des Sozialstaats müssen immer damit rechnen, dass die "Sozialfigur des selbständigen Bürgers gegen die bloß passiven Klienten und Nutznießer des wohlfahrtsstaatlichen status quo in Stellung" gebracht wird. Es kommt zur Konfrontation zwischen der "Eigenverantwortungsrhetorik der liberalen Freiheitsrechte" und den "sozialen Rechten": "Die mehr oder weniger regelmäßige Wiederkehr dieser Konstellation … im demokratischen Wohlfahrtsstaat ist ein fester Bestandteil der Auseinandersetzungen um Sozialpolitik".12

Der "entfesselte Kapitalismus"

Ein zentrales Moment der Kritik am Neoliberalismus bleibt in diesem Artikel ausgeklammert. Lesenswerte Gegenargumente zu weit verbreiteten Vorstellungen von der vermeintlichen Macht des Finanzkapitals über die sog. "Realwirtschaft" finden sich bei Sandleben, Schäfer,13 Wendl14 sowie Krumbein u. a.15. Sie formulieren kapitalismustheoretische und empirische Einwände gegen die Zentrierung von Kapitalismuskritik auf die "bösen Börsenbuben" (Schandl) und gegen die Diagnose eines "finanzmarktgetriebenen Kapitalismus".

Viele, die den Neoliberalismus kritisieren, tun so, als habe von Mitte der 1950er bis Anfang der 1980er Jahre der "normale" Kapitalismus existiert, danach der "entfesselte Kapitalismus". Von den Handlungsschranken der Staatspolitik im Kapitalismus (Abhängigkeit des Budgets vom Florieren der kapitalistischen Wirtschaft) sehen viele Kritiker des Neoliberalismus ab, wenn sie ihn zur Abweichung von dem vermeintlich bereits politisch erreichten sozialstaatlich zivilisierten Kapitalismus stilisieren.

Wer es auf die politische Perspektive absieht, gegen die gegenwärtige Realität des Kapitalismus am Ideal vom durch Staatspolitik zu zivilisierenden Kapitalismus festzuhalten, muss von allerhand absehen. Sie oder er müssen die Veränderungen gegenüber der Zeit von Mitte der 1950er Jahre bis zu den 1980er Jahren als Resultat eines politischen Willens und Projekts sowie einer Ideologie ("Neoliberalismus") auffassen.

Weil man sich selbst politisch versteht, will man in der Politik den Dreh- und Angelpunkt oder das Zentrum der historischen Entwicklung sehen. Unberücksichtigt bleiben dann die Veränderung der Produktions- und Verwertungsbedingungen des Kapitals.

Guter Kapitalismus?

Die Existenz des vermeintlich guten Kapitalismus "war auf die kapitalistischen Zentren Westeuropas und Nordamerikas beschränkt und verdankte sich ganz besonderen Bedingungen: so unter anderem einer Produktivkraftentwicklung, die vor allem auf Massenproduktion und Taylorisierung (Zergliederung der Arbeitsprozesse) beruhte und daher mit relativ geringen zusätzliche Kapitalkosten zu hohen Gewinnen führte, außerdem auf dem beschleunigten Wachstum des Welthandels, der vor und während des zweiten Weltkriegs weitgehend zusammengebrochen war … In den 70er Jahren waren die Potenziale des Fordismus aber weitgehend erschöpft: Produktivkraftsteigerungen wurden immer teurer, der entfaltete Welthandel hatte nicht mehr die früheren Steigerungsraten ... Das 'Wirtschaftswunder' der 50er und 60er Jahre läutete keine neue Epoche eines Kapitalismus ohne Krisen und Arbeitslosigkeit ein, es war vielmehr eine an besondere Bedingungen gebundene historische Ausnahmephase, die mit dem Ende dieser besonderen Konstellation auch selbst ans Ende kam: auf das Wirtschaftswunder folgten die Wirtschaftskrisen der 70er und 80er Jahre"16

Auch in Bezug auf andere Phänomene nimmt eine dem Neoliberalismus gegenüber kritische Position häufig an, Politik sei ursächlich für etwas, das außerhalb ihres Einflusses liegt. Staatlichen Aktivitäten im Kapitalismus wächst dann eine unangemessen positive Wertschätzung zu.17

Lediglich scheinradikal ist … die Forderung nach Verstaatlichung des Bankensektors. Die staatlichen Landesbanken haben sich genauso verspekuliert und die besonders riskanten Spekulationen in ausländischen Tochtergesellschaften versteckt wie die privaten Banken. Es geht nicht um die Frage, wer die Bank besitzt, sondern nach welchen Regeln die Bank funktioniert. Diese Regeln sind aber nicht allein die Sache der Bank, sondern der gesamten kapitalistischen Wirtschaft, innerhalb der die Banken fungieren. Hier lässt sich aber nicht ohne weiteres ein einzelnes, zentrales Teilstück herausbrechen und einfach umpolen. Da müsste man schon über die Veränderung des gesamten kapitalistischen Systems reden.

Michael Heinrich: Der Bürger bürgt

Fazit

Problematisch wird die Kritik am Neoliberalismus, insofern sie die ökonomischen Kontexte für die politischen Veränderungen ab Anfang der 1980er Jahre ausblendet. Der Neoliberalismus erscheint dieser Auffassung als mutwillige Ideologie, die ökonomisch für das Gelingen des Kapitalismus unnötig sei und insofern zu jedem Zeitpunkt durch eine andere, "sozialere" Politik hätte ersetzt werden können.

Diese Kritik des Neoliberalismus lebt davon, den Kapitalismus sowie den Sozialstaat in der Zeit vor dem Neoliberalismus zu beschönigen. Die gesellschaftliche Realität sei deshalb so, wie sie ist, weil es an einem guten Sozialstaat mangele.

Ihm wird zugetraut, den Kapitalismus sozial verträglich zu machen. Es gehe darum, die Raubtier-Energie des Tigers zu nutzen („Pack den Tiger in den Tank“ war ein Reklameslogan von Esso) und ihn gleichzeitig zum Vegetarier umzuerziehen.