Zwei Jahre Ukraine-Krieg: Deutsche Selbstgerechtigkeit in allen Varianten
Seite 2: Kontroverse um Waffenlieferungen und moralischer Narzissmus
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Es ist schwer zu entscheiden, was selbstgerechter ist: Das staatstragende, gratismutige "Wir sind die Guten"-Geplärre für immer mehr Waffen oder die geizige "Deutschland zuerst"-Rhetorik derjenigen, die zum Teil aus den falschen Gründen gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sind.
Nämlich aus denselben Gründen, warum sie gegen Klimaschutz, Entwicklungshilfe und die Aufnahme von Asylsuchenden sind: Alles zu teuer – und überhaupt: "Wir" Deutschen sind ja eigentlich die ärmsten Schweine weltweit, oder? Nein, das sind "wir" ganz sicher nicht; auch wenn es gewaltige Klassenunterschiede gibt.
Das Dilemma der Eskalation und die Ironie der deutschen Position
Damit ist natürlich die Frage nicht beantwortet, ob es den Menschen in der Ukraine nützt oder schadet, wenn dieser Abnutzungskrieg weitergeführt wird, bis er "gewonnen" ist, wie viele junge Menschen bis dahin tot oder durch Kriegsverletzungen schwer behindert sind – und wie viel Prozent der besten Böden Europas bis dahin mit Uranmunition verseucht sind, weil es kurzfristig wichtiger schien, russische Panzer zu zerstören, als langfristig die Nahrungsmittelsicherheit im Auge zu behalten.
Aber was interessiert das schon die Sorte Deutsche, die angesichts des Sterbens in der Ukraine und anderen, hier weniger beachteten Kriegsgebieten nur in deutschem Selbstmitleid baden?
Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, wenn Moskau dieses selbstgerechte Gejammer auch noch gezielt mit Fake-Accounts im deutschsprachigen Internet gefördert hat, wie es die "Cyber-Detektive" des Auswärtigen Amts herausgefunden haben wollen. Schließlich hat Russland historisch gesehen nicht die besten Erfahrungen mit ausgeprägten deutschen Egos gemacht.
Die Rüstungsindustrie als Kriegsgewinnler
Aber wenn deutscher Bellizismus scheinbar selbstlos als "Solidarität mit der Ukraine" daherkommt, wird es eben kompliziert. Klar: Der moralische Narzissmus trieft hier einigen aus allen Poren – und bei manchen ist sicher auch die Frage berechtigt, wie viele Rheinmetall-Aktien sie denn besitzen. Denn zumindest auf die Rüstungsindustrie trifft ja das Mantra von der leidenden deutschen Wirtschaft ganz bestimmt nicht zu.
Innerhalb der AfD gab es derweil heftigen Streit zwischen denjenigen, die für deutsche Interessen auf Wodka-Diplomatie setzen und denen, die den Wunsch nach Rache für Stalingrad nie aufgegeben haben.
Deutsche Putin-Fans zwischen Realität und Subkultur
Was dagegen die wenigen echten Putin-Fans deutscher Herkunft antreibt, könnte eher eine Art Seeräuber-Jenny-Syndrom sein: Das Abwaschmädchen aus Brechts Dreigroschenoper wird von allen herumgeschubst und träumt davon, dass eine fremde Macht, in diesem Fall Piraten, die Verhältnisse ändern, für sie Partei ergreifen und ein Blutbad unter denen anrichten wird, die sie herumschubsen.
Deutsche Putin-Fans fühlen sich zumindest von den Mächtigen hierzulande verarscht und herumgeschubst – aus mehr oder weniger guten Gründen. Manche von ihnen sind zwar formal nicht ungebildet, aber dennoch einfach gestrickt und denken nach dem Prinzip "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht", dass immer das Gegenteil von dem stimmen muss, das etablierte Politiker und große Medien im deutschsprachigen Raum verbreiten.
Daher gibt es auch eine Überschneidung mit früher diffus Linksalternativen, die sich während der Corona-Krise einer "Mischszene" von Unzufriedenen und "Querdenkern" angeschlossen haben und anfällig für alle möglichen Verschwörungsmythen sind, die aus ihrer Sicht immer noch plausibler klingen als Regierungserklärungen.
Putin ist für sie, was für die Seeräuber-Jenny der Piratenkapitän ist – auch wenn sie nicht wirklich von einem Blutbad träumen, so legt sich Putin aus ihrer Sicht doch mit den Richtigen an, wenn er auf Konfrontation zu westlichen Regierungen geht. Aber diese "echten" Putin-Fans sind im Grunde eine Subkultur – die meisten von ihnen würden auch in Russland Probleme mit der Obrigkeit bekommen.
Generalverdacht der Feindbegünstigung
Ein paar K-Gruppen-Nostalgiker, die nicht wahrhaben sollen, dass Russland nicht mehr die Sowjetunion ist, sind auch dabei. Aber diese überschaubare deutsche "Putin-Fanbase" ist kein einflussreicher politischer Faktor, in dessen Bekämpfung die Verfechter deutscher "Kriegstüchtigkeit" viel Zeit und Energie stecken müssten.
Deshalb wird die Nähe zu Putin auch weniger weltfremden Personen und Organisationen angehängt, die den Aufrüstungskurs der Bundesregierung in Frage stellen.
Sahra Wagenknecht ihre Fehleinschätzung vor gut zwei Jahren vorzuhalten – geschenkt. Aber anzunehmen, sie sei bis heute "Putins Sprachrohr", nachdem sie so ahnungslos ins offene Messer lief, ist absurd. Erwartet wurde offenbar, dass alle, die vor einer Eskalation gewarnt hatten, dafür Abbitte leisten und mit wehenden Fahnen für maximale Aufrüstung eintreten – oder für immer schweigen.
Der Philosoph Jürgen Habermas befand kurz vor dem ersten Jahrestag der russischen Invasion, der Westen übernehme mit den Waffenlieferungen an die Ukraine eine Mitverantwortung für den weiteren Verlauf des Krieges. Er stellte die Rückeroberung der Krim infrage und nannte die Wiederherstellung des "Status quo ante" vom 23. Februar 2022 als sinnvolle Verhandlungsgrundlage.
Zwischentöne unerwünscht, Wokeness vergessen?
Damit sprach er sich nicht für einen generellen Lieferstopp aus. Auch im "Manifest für Frieden" von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer wurde nur ein Stopp der "Eskalation der Waffenlieferungen" gefordert. Sonst hätten manche der Erstunterzeichner nicht mitgemacht.
Aber solche Zwischentöne, die eine Chance zur Versachlichung der Debatte ermöglicht hätten, gingen im allgemeinen Empörungsgeschrei unter.
Sahra Wagenknecht zu verteidigen, macht aus "linksgrün"-feministischer Perspektive keinen Spaß. Aber als ihr pseudowitzig unterstellt wurde, sich "die Schamhaare zu rasieren, um Putin ein Verhandlungsangebot zu unterbreiten" – und das im bisher als progressiv geltenden Format des "Bohemian Browser Balletts" – war ein Grad der Verrohung in der Debatte erreicht, dem genau aus dieser Perspektive laut und massenhaft hätte widersprochen werden müssen. Dass dies nicht geschah, war gespenstisch.
"Woke und wehrhaft" steht auf einem T-Shirt, das vom Panzermuseum Munster als Merchandise angeboten wird. Aber mit der Wokeness, die bisher auch Antisexismus mit einschloss, ist es in diesem Fall im bellizistischen Lager nicht mehr weit her.
Stahlgewitter trifft Klimakatastrophe: Apokalypse now?
Unterdessen droht auch die Klimakatastrophe zu eskalieren – und mindestens zwei Prozent der Wirtschaftsleistung aller Nato-Staaten in deren Aufrüstung zu investieren, wird es nicht leichter machen, die Emissionen zu senken. Die "Doomsday-Clock", die symbolische Weltuntergangsuhr des Bulletin of the Atomic Scientists berücksichtigt mittlerweile beide Bedrohungen: Atomkriegsgefahr und Klimakollaps. Und sie steht auf 90 Sekunden vor Mitternacht.
Fest steht: Wer hier angesichts der Herausforderungen für die gesamte Menschheit im 21. Jahrhundert glaubt, nur das richtige Nationalfähnchen schwenken und laut genug nach Waffen schreien zu müssen, damit alles gut wird, ist Teil des Problems.
Inzwischen ist das Geschrei nicht mehr ganz so laut wie vor einem Jahr. Vielleicht soll ja deshalb mehr in das "Mindset" der Deutschen investiert werden. Schließlich haben sich in Meinungsumfragen wiederholt Mehrheiten ein stärkeres Engagement für Verhandlungen gewünscht.
Sei es nur aus Sorge um die deutsche Wirtschaft oder auch um Menschenleben in der Ukraine, oder tatsächlich aus Angst vor der nuklearen Apokalypse.