Zweierlei atomare Gefahren durch den Ukraine-Krieg

Der Akw-Komplex in Saporischschja wurde im September 2022 von der IAEA inspziert. Foto: IAEA Imagebank / CC-BY-2.0

Ein Atomwaffeneinsatz wird wohl vorerst nicht erwogen. Eine andere Gefahr ist realer: die Beschädigung von Europas größtem Kernkraftwerk mitten im Kampfgebiet.

An diesem Donnerstagmorgen gab das ukrainische Staatsunternehmen Energoatom bekannt, dass das größte Atomkraftwerk Europas in Saporischschja ohne Strom sei. Das Kraftwerk befindet sich mitten in der Region aktiver Kämpfe im Ukraine-Krieg und steht immer wieder im Zentrum von Befürchtungen, dass diese eine Katastrophe mit der Freisetzung von radioaktivem Material auslösen könnten.

In der Nacht und am Morgen waren zudem aus weiten Teilen der Ukraine zum Teil heftige Raketenangriffe gemeldet. Nach Angaben lokaler Behörden und Medien richteten sich die Angriffe erneut hauptsächlich gegen Energieversorgungsanlagen. Teilweise kam es zu Stromausfällen. Die ukrainische Eisenbahngesellschaft meldete Einschränkungen und Verzögerungen aufgrund von Stromausfällen.

Russische Raketen schlugen in der Süd-, Nord- und Westukraine ein. Auch die Hauptstadt Kiew war betroffen. Landesweit wurde Luftalarm ausgelöst. Über den Messengerdienst Telegram gab Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko bekannt, dass der südlich der Stadt gelegene Stadtteil Holosijiw besonders schwer von Raketen getroffen wurde. Rettungskräfte seien im Einsatz.

Nach Angaben der Kiewer Militärverwaltung waren etwa 40 Prozent der Bevölkerung der Stadt aufgrund von Notstromausfällen vorübergehend von der Stromversorgung abgeschnitten.

Größte Gefahr durch Kühlungsausfall

Der Radiochemiker Boris Schuikow sieht gegenüber der exilrussischen Onlinezeitung Meduza als größte Gefahr die Freisetzung von radioaktivem Jod bei einem Ausfall des Kühlsystems und einer folgenden Dampfexplosion.

Gefahren in Folge von direkten Treffern im Rahmen der Kampfhandlungen schätzt er niedriger ein und verweist auf eine unterschiedliche Bauart des Kraftwerks etwa gegenüber dem in den 1980er havarierten AKW Tschernobyl.

Das Kühlsystem braucht Strom, der normalerweise aus dem Betrieb einzelner Reaktoren kommt oder extern zugeführt werden muss. Die Reaktoren sind aktuell jedoch alle abgeschaltet, die äußere Stromverbindung des Kraftwerks zum Netz der Ukraine sind getrennt. Wie für diesen Fall vorgesehen, lief eine Hilfskühlung mit Dieselgeneratoren an, die jedoch laut Energoatom die Kühlung nur für zehn Tage sicherstellen kann. Dann geht der Diesel aus.

Kraftwerk in russischer Hand

Seit März 2022 wird das Kraftwerksgelände von russischen Truppen gehalten, die dort nach verschiedenen Meldungen auch eine Reihe von Einheiten stationiert hat. Die ukrainische Mannschaft arbeitet seitdem unter russischer Aufsicht. Das Atomkraftwerk ist sowohl für die ukrainische Stromversorgung wichtig als auch ein strategisch entscheidendes Objekt für die russischen Invasoren, da sie mit seiner Hilfe die Krim mit Energie versorgen können.

In den letzten Monaten gab es immer wieder gegenseitige Vorwürfe zwischen Russen und Ukrainern, die jeweils andere Seite habe den Atommeiler durch Beschuss gefährdet. Nach einigen sehr gefährlichen Zwischenfällen besuchten im September 2022 Inspektoren der internationalen Aufsichtsbehörden IAEA Saporischschja. Diese stellte schon damals fest, dass die ernste Gefahr eines nuklearen Zwischenfalls bestünde und schlugen die Schaffung einer Sicherheitszone rund um das Kraftwerk vor.

Nach ukrainischer Auffassung soll diese entmilitarisiert werden, was der russische Außenminister Lawrow anlässlich der aktuellen Notsituation erneut ablehnte. Entsprechend nötige Verhandlungen habe es nie gegeben.

Neben dieser atomaren Gefahr durch einen Unfall ziehen sich massive Befürchtungen immer wieder durch die Presse, Russland könnte angesichts des mäßigen Verlaufs seiner Invasion verstärkt auf die Abschreckung durch Atomwaffen setzen, da der Westen ja hinter dem Kriegsgegner steht.

Genährt wurden solche Befürchtungen zuletzt durch Putins Suspendierung des Start-Rüstungsbegrenzungsvertrags. Doch was bedeutet das "Setzen" auf Atomwaffen – welche gefährlichen Eskalationen drohen in dieser Hinsicht konkret?