Zwischen Fatalismus und Illusion: Wie unsere Zukunft human bleibt

Revolutionäre Trends: Der Experte Roland Benedikter über die Entwicklung von Mensch und Gesellschaft. Und warum die nächsten zehn Jahre entscheidend sind.

Beim Zukunftsforum 2023 in Dubai standen die wegweisenden Innovationen im Fokus, die unser Leben in den kommenden Dekaden revolutionieren sollen. Roland Benedikter, renommierter Zukunftsforscher, war persönlich vor Ort und schildert im Telepolis-Interview seine Eindrücke.

Das Event markierte das bedeutendste Treffen von Zukunftswissenschaftlern weltweit. Vom 27. bis 28. November erkundete Benedikter, ein Experte in Soziologie, Politikwissenschaft und Zukunftsforschung, die tiefgreifenden Veränderungen in Technologie und Gesellschaft, die sich unmittelbar in unserem Alltag manifestieren werden.

Die bevorstehenden Umwälzungen, so Benedikter, werden einen spürbaren Einfluss auf die Lebensrealität der Menschen haben. Um jedoch aktiv an der Gestaltung der Zukunft, einschließlich der individuellen Perspektiven, teilhaben zu können, betont er die Notwendigkeit einer verbesserten Zukunftsbildung.

Im Interview gewährt Benedikter Einblick in die Themen, die die führenden Köpfe der Zukunftsforschung intensiv diskutierten, und gibt Aufschluss über die bedeutendsten Veränderungen, die uns in den nächsten zehn Jahren erwarten.

Was war das große Thema auf der Konferenz?

Roland Benedikter: Was die Zukunft bringen wird. Genauer: Welche verschiedenen Zukünfte uns – gleichzeitig – erwarten. Man kann den Charakter der Gegenwart mit dem Akronym "Tuna" zusammenfassen. Es steht für Turbulenz, Ungewissheit, den immer stärkeren Vorrang des Neuen und für Ambivalenz, also Mehrdeutigkeit.

Der Ansatz Tuna kommt ursprünglich aus dem Leadership Programm der Universität Oxford und will Entscheidungsträgern, vor allem auch jungen "Millennials", helfen, unsere Zeit schneller und besser zu erfassen und zu gestalten. Auch Uno, Unesco und OECD arbeiten damit – ebenso wie die Dubai Future Foundation, die die Konferenz organisiert hat.

Was bedeutet diese Zeitdiagnose?

Roland Benedikter: In Dubai waren wir uns einig: Das Wichtigste an Tuna ist der immer stärkere Einfluss des Neuen. Das gilt es besser zu begreifen – um es in eine Wissenschaft der Zukunft und eine Bildung für die Zukunft zu fassen.

Roland Benedikter. Bild: R. Benedikter / CC BY-SA 3.0

Das Neue entsteht aus Krisen wie der Pandemie und Kriegen nun auch in Europa. Solche Brüche stülpen vieles gleichzeitig um. Drittens geht die geopolitische Entwicklung von einer Globalisierung für alle zu zwei miteinander konkurrierenden Globalisierungen von zwei neuen Blöcken über.

Es ist jetzt eine Globalisierung der Autokratien (Russland, China, Iran, die Welt geschlossener Gesellschaften) gegen die Demokratien (Europa, USA, die Welt offener Gesellschaften). Das schafft zwei verschiedene Systeme, die miteinander konkurrieren, und eine Zukunftslage, in der wir uns positionieren müssen.

Worin besteht die besondere Bedeutung des Neuen noch?

Roland Benedikter: Im tiefen Umbruch der digitalen Revolution, die die gesamte Arbeits- und Lebenswelt neu regeln wird. Das wird uns in den kommenden Jahren zwingen, das ganze System von Produktion, Profit und gesellschaftlicher Verteilung neu zu konzipieren.

In Dubai wurden aber auch, noch konkreter, neue Essensmodelle vorgestellt: Eier, Milch und Schokolade, die vollständig im Labor erzeugt wurden. Das soll dazu beitragen, das Tierleid zu mindern und die Umwelt zu schonen. Wie der Konferenz-Sprecher Jamie Metzle meinte: "Die Welt sollte mehr Laboratoriums-Lebensmittel essen."

Ein anderes Thema war die wohl anstehende Besiedelung des Weltraums.

Roland Benedikter: Ja. Das haben in Dubai die Astro- und Kosmonauten der Internationalen Raumstation erklärt – und darauf hingewiesen, dass das der Menschheit hoffentlich einen neuen Teamgeist einhauchen wird, der Konflikte abschwächt oder beendet, weil vom Weltraum aus der ganze Planet sichtbar wird.

Die Erweiterung der Menschheit in den Weltraum kann sowohl die Bevölkerungs- und Ressourcenfrage verändern, wie uns spirituell in eine neue Situation stellen, weil für mehr Menschen neue, erweiterte Erfahrungen möglich werden.

Auch diese Fortschritte werden von Aushandlungsprozessen begleitet sein, und keiner ist unumstritten – wie das in Zukunftsprozessen praktisch immer der Fall ist.

KI wirf in zehn Jahren alles verändern

Wie kann man die wichtigsten Ergebnisse der Zukunftskonferenz zusammenfassen?

Roland Benedikter: Die Technologierevolution – etwa im Bereich von KI – wird in den nächsten zehn Jahren praktisch alles verändern, was wir bisher im Technologiebereich kannten. Wenn wir durch neue Technologien immer mehr agieren und gestalten können, werden wir auch immer aktiver.

Das wird, gemeinsam mit höher entwickelten Technologieformen und der globalen Bevölkerungszunahme bis etwa Mitte des Jahrtausends immer mehr Energie nötig machen. Darauf sind wir bislang schlecht vorbereitet.

Niemand weiß, wofür all der Strom allein für die Elektrifizierung von drei Milliarden Automobilen kommen soll. Elon Musk warnt immer wieder davor, dass "schon bald das Licht ausgehen" könnte.

Heute haben drei Milliarden Menschen keinen Zugang zu leistbarer Energie, eine Milliarde gar keinen. Hier gilt es neue Formen zu finden, unter anderem durch erneuerbare Energien und den Weltraum.

Auch die Medizin wird sich stark verändern.

Roland Benedikter: Sie wird laut Zukunftskonferenz sogar zu einem der wichtigsten Technologie-Innovationsbereiche werden. Medizinisch implantierte Chips könnten Untersuchungen zehnfach verkürzen, etwa einen Infarkt vorhersagen oder in zehn Minuten statt in bisher zehn Stunden feststellen.

Künstliche Intelligenz hat das Potenzial, die Kosten von Medikamenten um eine Milliarde und von technischen Geräten um hunderte Millionen US-Dollar zu reduzieren.

Manche Experten meinen, technologische Implantate in unseren Körpern werden auch Medikamente teilweise ersetzen, so unter anderem Miniroboter, die in unseren Blutkreisläufen agieren und ständig "die Venen säubern".

Weil das unbemerkt von uns geschieht, sind damit umfassende ethische Fragen verbunden. Weitere globale Epidemien sollten laut Zukunftskongress auf jeden Fall vermieden werden, denn sie kosten die Welt-Gesundheitssysteme mindestens eine Trillion Dollar.

Wie sieht die Zukunft der Landwirtschaft aus?

Roland Benedikter: Die vollständig kontrollierte Landwirtschaft (Total Controlled Environment Agriculture) besteht darin, dass das Wachstum jedes Grashalms und jeder einzelnen Knospe rund um die Uhr in Echtzeit von KI kontrolliert und gesteuert wird. Das könnte kein Mensch leisten.

Es könnte umfassend Wasser und Ressourcen sparen und nach Schätzungen von spezialisierten Zukunftsexperten in den kommenden Jahren Werte im Umfang von bis zu 20 Billionen Dollar erzeugen.

All das erfordert auch einen Mentalitätswandel. Früher sprach man von Vuca – also von der Gleichzeitigkeit von Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit.

Roland Benedikter: Ja. Wir befinden uns in vielen Bereichen in Umbrüchen, wie sie hauptsächlich durch neue Technologien möglich werden und so bisher nicht existierten. Das zwingt uns, auch manche unsere Einstellungen zu ändern. Wegen der vielen Krisen der jüngsten Jahre wurde von Vuca zu Tuna übergegangen.

Dabei wurden aber letztlich nur zwei Leitbegriffe ausgetauscht, und das sagt im Grunde schon alles. Turbulenz trat an die Stelle von Volatilität, also schneller Veränderbarkeit. Neuigkeit trat an die Stelle von Komplexität. Spannend ist vor allem der Austausch von Komplexität durch Neuigkeit.

In Dubai waren sich die Teilnehmer einig: Die kommenden Jahre werden vor allem durch einen starken Neuigkeitsdrang gekennzeichnet sein. Komplexität kann statisch sein, Neuigkeit ist dynamisch. Die Zukunft wird Komplexität mit Neuigkeit verbinden. Das ist für alle Beteiligten in der Gesellschaft – Entscheidungsträger, Wissenschaft, Bürger – eine neue Ausgangslage.

Künstliche Intelligenz: Gesetzgebung wird entscheidend sein

Ist unsere Gesellschaft für den steigenden Einfluss des Neuen bereit?

Roland Benedikter: Bislang in vielen Bereichen noch zu wenig. Einer der interessantesten Punkte für die kommenden Jahre wird sein, wie die Gesetzgebung mit den neuen Möglichkeiten schnellerer und stärkerer Zukünfte umgeht.

Bislang sind die meisten Gesetzgebungssysteme, seien sie nun demokratisch oder autoritär, wenig darauf vorbereitet, die neuen Bedingungen von Zukünfte-Gesellschaften zu meistern. Die Anpassung der Gesetzgebungen – in Geschwindigkeit, Komplexitätsfähigkeit, Reaktions-, Differenzierungs- und Anpassungsbereitschaft – wird eine der ganz großen Herausforderungen der kommenden Jahre.

Gibt es dafür Ansätze?

Roland Benedikter: Manche meinen, Künstliche Intelligenz könnte dabei helfen. Andere lehnen das ab und meinen, Gesetze auch für eine schnellere, flüssigere und flexiblere, aber auch kompliziertere und verletzlichere Welt müssten rein menschlich bleiben. Die Diskussion darüber wird spannend! In Dubai fasste das die zuständige Ministerin so zusammen:

Entweder passt sich der Rechtsrahmen an, um flexibler zu werden und den Wandel zu fördern, oder er bleibt, wie er ist, und wird zu einem Hindernis für Entwicklung...

Die Regierungen sollten sich darauf konzentrieren, die digitale Mentalität ihrer Mitarbeiter zu entwickeln und gleichzeitig deren Zukunfts-Fähigkeiten aufzubauen, um sicherzustellen, dass sie für die Veränderungen in der digitalen Welt gerüstet sind.

Obwohl das von einer autoritären Regierung kam, ist dem zuzustimmen. Wir sollten auch in unseren offenen Gesellschaften Instrumente dafür schaffen – aber demokratisch.

Welche Instrumente wären das

Roland Benedikter: In Dubai ist das etwa die systematische Ausbildung von Spitzenbeamten und Firmenleitern in Zukunftsfähigkeit mittels eines international zertifizierten Systems, das man braucht, um bestimmte Positionen einzunehmen. Die Ausbildung dauert sechs Monate und erfolgt berufsbegleitend und mit starkem Bezug zur Praxis

Ein zweites Instrument ist die Messung der Zukunftsfähigkeit der Bevölkerung mittels eines Index, der aus 68 Parametern besteht und der auf alle Menschen des Territoriums freiwillig angewandt werden kann. Darauf aufbauend kann man gezielte Bildungsmaßnahmen in Schulen, Weiterbildungseinrichtungen und Firmen aufbauen.

Und drittens gibt es einen breiten Zukunftsdialog, der die Eliten ebenso einbezieht wie die Bevölkerung und die Institutionen. Von diesen drei Instrumenten könnten wir uns in Deutschland einiges abschauen.

Was bedeutet das alles für die Bildung? Ist das, was man heute lernt, schon morgen nicht mehr aktuell?

Roland Benedikter: Die ganz zentrale Botschaft in Dubai war: Wenn Technologie in den kommenden Jahren alles verändert, dann tritt Bildung ins Zentrum aller Dinge. Bildung wird noch viel, viel wichtiger als bisher! Wir benötigen Bildung und Wissen, gerade um die Zukunft, um unseren Wohlstand zu sichern und unser Land mit Augenmaß weiterzuentwickeln.

Weiterentwickeln tut sich ohnehin alles, ob wir es wollen oder nicht, aber wir sollten es selbst in der Hand haben. Dazu müssen wir wissen, worauf die Welt zusteuert. Viele haben zu Recht den Eindruck, die Gegenwart wird kürzer.

Die neuen Technologien nehmen den Menschen Anstrengungen und Arbeiten ab. Damit kann auch ein Fähigkeitsverlust verbunden sein, der durch bessere Bildung ausgeglichen werden muss. Bildung ist deshalb zunehmend mit Zukunft, ja mit Ausbildung für mögliche, wahrscheinliche und wünschenswerte Zukünfte verbunden.

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