Zwischen Konvergenz und Konfusion
Interaktives Fernsehen: neue Sender, alte Illusionen und der Blick nach vorn
Die Revolution hängt in der Warteschleife. Seit Jahren reden und schreiben Experten und solche, die es gerne wären, über die Konvergenz von TV und IT, über die Verschmelzung von Fernsehen und Internet. Dutzende Fachmessen wie die Systems, Cebit oder Internet World nahmen sich die technische Revolution zum Thema. Passiert ist seitdem nicht viel. Zwar gibt es immer mehr Wege ins Netz, die nicht über den Computer führen, sondern über Handhelds, Handys und Spiel-Konsolen. Doch genutzt werden sie nur verhalten. Die euphorisch angekündigte WAP-Technologie erwies sich als gigantischer Flop. Und interaktiv sehen noch immer nur die wenigsten Zuschauer fern. Einen großen Schritt in die richtige Richtung ging nun der neue Musiksender VIVA PLUS (Vgl.Wir wollen die Nummer zwei werden)
"Der Fernseher wird mehr sein als nur ein Fernseher. Er empfängt interaktiven Inhalt jeder Art - 24 Stunden am Tag", prophezeite Lars Tvede in seinem Essay über die Zukunft des Internet im Oktober 2000. Der Mann gilt als Internet-Fachmann, ist Computer-Profi, erfolgreicher Unternehmer und Buchautor. "Fernsehen, bei dem man sich gemütlich zurücklehnen kann, gehört bald der Geschichte an", glaubt auch der Medienexperte und ehemalige SAT1-Programmdirektor Knut Föckler. Mancher dachte gar, den Prototypen für die Fusion von Fernsehen und Internet schon gefunden zu haben.
Der Netzsender Eyedoo sendete seit dem 21. August 2000 Musikvideos rund um die Uhr, auf vier Kanälen und nur im Internet. Die Zuschauer konnten hier per Mail das Programm beeinflussen, News lesen und auf Klick Interviews und Konzertmitschnitte sehen. "Musikfernsehen ist Gestern" prangte mutig auf der Homepage der jungen Revoluzzer, die der Hamburger Me, Myself & Eye Entertainment AG angehören. Zu früh gebrüllt, zu laut gefreut: Im August diesen Jahres wurde Eyedoo wegen fehlender Einnahmen eingestellt (Vgl.Es hätte so schön werden können, nun ist es vorbei). Seitdem laufen nur noch die Videos auf der schick designten Homepage. Prognose: Zu früh am Start. "Man sieht sich immer zweimal im Leben. Also bis auf weiteres", vertrösten die Macher die Surfer.
Fakt ist, dass sich Fernsehen und Internet in Zukunft immer weiter annähern werden. Die Kommunikationsmöglichkeiten, die das Netz bietet, werden Stück für Stück ins Programm integriert. Kaum eine Sendung, die noch keine eigene Homepage hat. Kaum ein TV-Gewinnspiel, an dem man nicht auch per E-Mail teilnehmen kann. Nach einer Umfrage der Beraterfirma Mercer Management Consulting interessieren sich 70 Prozent aller deutschen Fernseh-Eulen für interaktives Glotzen. Die Bertelsmann AG und der derzeit schwer angeschlagene Medienmogul Leo Kirch (Pro Sieben, Premiere World) investierten bereits Hunderte von Millionen Mark, um Programme für interaktives Fernsehen zu entwickeln. Das ZDF - mal richtig progressiv - sendete die Seifenoper ‚Etage Zwo' fast ausschließlich im Internet. Doch das Unterfangen misslang, der Ansturm blieb aus, die Soap ging. Surferstau gab es, als sich Tausende einloggten, um einen Haufen Durchschnitt-Prolls im ‚Big Brother'-Container zu begaffen - aus dem wurde nämlich gesendet, rund um die Uhr, ins Netz. Ebenfalls dichtes Gedränge herrschte in der Datenleitung zum RTL-Server. Wenn in der Glotze ‚Wer wird Millionär?' lief, loggten sich etwa 70.000 Rate-Mützen auf der Homepage ein und rätselten online mit.
Das Interesse, via Internet parallel zum Fernsehprogramm zu agieren oder aktiv von zu Hause aus am Geschehen auf der Mattscheibe teilzunehmen, scheint zumindest latent vorhanden. Darauf zielt auch das Programmkonzept des neuen Senders NEUN LIVE, der aus dem ehemaligen Frauensender TM3 hervorging und mit Christiane zu Salm die ehemalige MTV-Chefin an der Spitze hat. Bei NEUN LIVE können nun Zuschauer per Telefon - mit Verlaub - saudämliche Fragen in saudämlichen Spiel-Shows beantworten und dabei ein paar hundert Mark gewinnen. Das Internet spielt hier jedoch kaum eine Rolle. Interaktives Fernsehen im Sinne von Internet trifft TV bietet hierzulande noch niemand - bis auf den jugendlichen Spartensender NBC GIGA und ab Anfang Januar VIVA PLUS, das ebenfalls auf eine junge Zielgruppe zugeschnitten ist.
Und hier liegt Problem Nummer eins: Der normale TV-Konsument dürfte wenig Interesse daran haben, per Mail und Web seinen Fernsehkonsum aufzuwerten. Noch immer ist für die meisten Deutschen das Netz ein Fremdmedium. Und Fernsehen meint vornehmlich Lethargieren nicht Agieren. Doch zumindest die jungen Zuschauer zeigen weniger Scheu an der Konvergenz von IT und TV. Ihnen ist das neue Medium weniger fremd. Surfen gehört wie Zappen und Daddeln zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen der Jugend. Auch die Tatsache, dass hauptsächlich Musiksender auf Interaktion setzen, macht Sinn. Denn das Clip-Programm von VIVA, MTV und Co. dient oftmals nur als Berieselung. Da hat man durchaus Zeit und Muße, während die Musikvideos rotieren, per Mail und SMS über die Beliebtheit von Musikern abzustimmen. Und Grüße über die Mattscheibe zu jagen, wie es wochentäglich von 16 bis 17 Uhr bei der MTV-Sendung ‚Videoclash' geschieht. "Das Zusammenwachsen vom Internet mit unserem TV-Auftritt wird uns auch künftig noch stark beschäftigen", erklärt MTV Online-Chef Joel Berger. "Egal, ob WAP, Internet oder Fernsehen: MTV wird draufstehen." Für die richtig Jungen scheint das interessant, aber für Leute über 30?
Problem Nummer zwei ist das übliche: die Technik. Und an der ist letztendlich auch das ambitionierte Vorhaben der Eyedoo-Macher gescheitert. Die Revolution ist eigentlich schon da, wir werden nur schlecht verbunden. Denn wer noch immer über ein 56K Modem ins Web hinkt und zudem noch einen lahmen Rechner sein Eigen nennt, sieht statt Video-Clips oft nur Video-Gemetzel: Es ruckelt, der Ton setzt aus und manchmal rührt sich gar nichts. Broadband ist das Zauberwort. Doch die vollverbreitete Datenautobahn, über die sich rasend schnell und effektiv Surfen und Herunterladen lässt, ist immer noch im Bau. Zudem will am PC-Monitor kaum jemand Fernsehen. Doch auch Set-Top-Boxen, die die Glotze zum Allround-Gerät machen, haben sich hierzulande noch nicht mal ansatzweise etabliert. Und dabei gibt es im WWW so viel zu sehen, was im Fernsehprogramm oft keinen Platz hat. Die Schach-WM live? Eine Herztransplantation in echt? Einen Jupitersturm beobachten oder doch lieber fromm zum Online-Gottesdienst? Im Netz gibtŽs alles - wenn's denn interessiert. Und wer sich als Musik-Fan noch immer wacker gegen einen Internet-Anschluss sträubt, dem entgeht einiges. Zum Beispiel Paul McCartney im Londoner Cavern-Club: Weniger als 300 Leute passten rein - drei Millionen sahen das Konzert im Netz. Und gleich neun Millionen Surfer saßen vor ihren Rechnern, als Madonna über die Bühne der Londoner Brixton Academy sprang. Wenn denn die Übertragungsqualität stimmte, war das eine feine Sache.
Letztendlich sind TV und Internet jedoch noch immer zwei völlig verschiedene Medien. Sie nähern sich zwar an, jedoch auf einem Wege, der Netzaktivisten wie den gescheiterten Eyedoo-Machern gar nicht gefallen dürfte: Das Fernsehen nähert sich dem Netz und nutzt dessen Vorteile - nicht umgekehrt. Und dass die Revolution in der Fernsehlandschaft nicht so schnell greift, wie viele Internet-Euphoriker seit Jahren prophezeien, ahnte Christoph Post schon im März. Er ist Eyedoo-Initiator, Vorstandsmitglied und kreativer Kopf der Me, Myself & Eye Entertainment AG. Monate vor dem Ende von Eyedoo sagte er: "In fünf Jahren wird das Fernsehen wohl nicht viel anders sein als heute. In 20 Jahren sieht das aber schon ganz anders aus". Andere zählen die Tage, Post die Jahre. Ollie Weiberg, Chef von NBC GIGA, zählt gar nicht mehr: "Letztendlich kann niemand wissen, was in fünf Jahren ist. Lassen wir uns doch einfach überraschen."