Zwischen Korruption und Stahlgewittern

Sweet Smell of Success

Vom süßen Duft des Erfolgs

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Christian Wulff hat uns zu Weihnachten eine „Präsidentenaffäre“ geschenkt, auf dass wir uns in Zeiten der Eurokrise, neonazistischer Gewalttaten und umgekippter Passagierschiffe ein wenig zerstreuen mögen. Der Präsident und seine Widersacher von der Bild-Zeitung haben damit auch demonstriert, wie aktuell einer der besten Filme der 1950er geblieben ist. Kein Film hatte bis dahin im amerikanischen Kino ein so ätzendes Bild einer korrupten Gesellschaft gezeichnet und so genau hingeschaut, um zu zeigen, was Korruption aus den Menschen macht. Die Produktionsfirma erlebte damit ihre größte Stunde und zugleich den Beginn ihres Niedergangs, weil das Werk keiner sehen wollte. Es ist nie zu spät, Versäumtes nachzuholen. Heute aus gegebenem Anlass:

Filme, die man gesehen haben muss, ehe einen die Demenz ereilt – Folge 2: Sweet Smell of Success.

President? My big toe would make a better President!

J. J. Hunsecker

Um zu verstehen, was Christian Wulff mit dem Film von Alexander Mackendrick zu tun hat, muss man sich an die Vorgeschichte erinnern. Olaf Glaeseker, der langjährige und kurz vor Weihnachten geschasste Pressesprecher des Präsidenten war für die einen dessen „Faktotum“ (O-Ton Wulff) und für die anderen der „Präsidentenflüsterer“ oder auch der Mann, der Wulff erst erfunden, also kräftig am Image vom idealen Schwiegersohn und Amtsträger gebastelt hatte, das seit der Kreditaffäre am Zerbröseln ist. Als Glaesekers Meisterstück gilt, wie er Wulffs Scheidung von der ersten Gattin und die Beziehung zur jetzigen First Lady moderierte. Die Bild-Zeitung wurde freundlich ins Wohnzimmer und zur Hochzeit gebeten und revanchierte sich, indem sie sehr wohlwollend über Wulffs neue Frisur, die tolle junge Patchworkfamilie und so weiter berichtete, statt den Privatmann in die Pfanne zu hauen und damit auch den damaligen Ministerpräsidenten mit Dreck zu bewerfen. Als die Liebesbeziehung zwischen Bild und Präsident erkaltete, hinterließ Wulff seinen Anruf auf der Mailbox des Chefredakteurs und bescherte uns ein neues Wort.

Lange vor dem „Wulffen“ gab es das „Winchelln“, auch als Substantiv verwendbar. In Robert A. Heinleins SciFi-Roman Stranger in a Strange Land (1961) ist ein „Winchell“ einer, der Klatsch über andere Leute verbreitet, nicht vor Rufmord zurückschreckt und damit Politik macht. Winchell heißt manchmal Waldo Winkler (in „The Rise of Minna Nordstrom“, einer Short Story von P. G. Wodehouse), Eddie Gretchen (in „Blabbermouth“ von Theodore Sturgeon) oder Waldo Winchester (in Damon Runyons „Romance in the Roaring Forties“), in The Plot Against America von Philip Roth soll er – wieder als Winchell – Charles Lindbergh als US-Präsident nachfolgen, Michael Herr hat ihm einen ganzen Roman gewidmet, in Billy Joels „We Didn’t Start the Fire“ kommt er vor, und in mehreren Versionen von „The Lady Is a Tramp“ ist die Zeile enthalten: „why she reads Walter Winchell and understands every line“; Ella Fitzgerald singt „I follow Winchell and read every line“. Das ist als Seitenhieb auf Society-Ladies gemeint, die in den Klatschspalten nur nach ihrem Namen suchen.

Walter Winchell. Bild: U.S. federal government

Walter Winchell, gern „W. W.“ genannt, war nicht der erste Klatschkolumnist der USA, aber doch über viele Jahre der mächtigste und nicht zuletzt deshalb der einflussreichste, weil er, quer durch alle Medien, unzählige Nachahmer fand, nach und nach auch in anderen Ländern. Durch ihn hielt die Klatschspalte in den Mainstream-Medien Einzug, fanden sich Politiker in einer Kolumne mit Filmstars und Millionären wieder, was sie gleich für sich auszunutzen versuchten. Wenn man Winchells Spuren folgt, gelangt man zu den heutigen Boulevard-Magazinen des Fernsehens und den Hochglanzphotos, auf denen sich das Ehepaar Wulff mit Herrn Maschmeyer und Veronica Ferres präsentiert (oder umgekehrt). Deshalb lässt sich durchaus sagen, dass der Teil der Wulff-Affäre, der ohne das in Hannover wie in Berlin gepflegte Zusammenspiel zwischen Politikern, Promis und Boulevardjournalisten schwer denkbar wäre, mit W. W. angefangen hat.

Mit Winchell konnten Politiker, Showgrößen und solche, die es gerne werden wollten, im Aufzug nach oben fahren (Jerry Lewis und Dean Martin hatten ihm viel zu verdanken), und wenn er ihnen seine Gunst entzog, konnte es schnell wieder abwärts gehen. Er sah sich dabei als Erfüllungsgehilfe der Demokratie und des Egalitarismus, weil er die Prominenten vom Sockel und herunter zum „kleinen Mann“ holte, wenn er ihre Geheimnisse ausplauderte. Das hallt noch nach, wenn sich die Bild-Zeitung in der Wulff-Affäre als staatstragendes Organ geriert und Wulff so tut, als machten ihn die Veröffentlichungen über seine Upgrades zum besseren, weil gegen Fehler nicht gefeiten und also „menschlichen“ Präsidenten.

Gangster, Promis, Klatschgeschichten

Winchells eigene Karriere begann, als er 1920 bei den Vaudeville News anheuerte. 1924 ging er zur Evening Graphic. Das war eine von mehreren New Yorker Boulevardzeitungen mit Berichten über blutige Verbrechen und Schönheitswettbewerbe, mit Photos von Unholden und von für damalige Verhältnisse spärlich bekleideten Damen, aber ohne Klatschmeldungen. Winchell hielt sich nicht an diese Regel, veröffentlichte Tratsch über Prominente und leitete so, wie man heute sagen würde, einen Paradigmenwechsel ein. 1929 ließ er sich vom Daily Mirror abwerben, einem Revolverblatt von William Randolph Hearst. Dort blieb er bis 1963, als die Zeitung eingestellt wurde. Seine Kolumne wurde von etwa 2000 Printmedien im ganzen Land übernommen. In seiner besten Zeit, die immerhin von den späten 1920ern bis in die 1950er dauerte, soll er zwischen fünfzig und sechzig Millionen Leser gehabt haben. Seine Sonntagabendsendung im Radio hatte etwa zwanzig Millionen Hörer. Beim Radio perfektionierte er seinen schnellen, stakkatoartigen Sprechrhythmus. Wer mal die TV-Serie The Untouchables (in Deutschland als „Chicago 1930“ und „Die Unbestechlichen“ gelaufen) im Original gesehen und gehört hat: die Off-Stimme des Kommentators ist die von Walter Winchell.

Letzteres ist insofern ironisch, als Winchell nicht nur vom Aufstieg der Boulevardblätter in den 1920ern profitierte, sondern auch von der Prohibition (der historische Hintergrund von The Untouchables) und dann von deren Abschaffung. Das Alkoholverbot war ein unfreiwilliges Konjunkturprogramm für die organisierte Kriminalität, weil nun Gangster die Nachfrage deckten und auf diese Weise – per Kundenkontakt – mit Leuten in Berührung kamen, denen sie sonst nicht so leicht begegnet wären. Winchell hatte beste Beziehungen zu beiden Seiten. Er war ein Freund von Owney Madden, einem der führenden Prohibitions-Gangster in Manhattan und dann von J. Edgar Hoover. Angeblich überredete W. W. den berüchtigten Mafia-Killer Louis „Lepke“ Buchalter (im Film von Tony Curtis verkörpert), sich Hoover zu stellen, aber das hat wohl mehr mit dem PR-Talent der beiden Herren zu tun als mit der Wirklichkeit.

Im Dezember 1933 wurde die Prohibition aufgehoben. Für das New Yorker Nachtleben blieb das nicht ohne Folgen. Die „bessere Gesellschaft“ hatte lieber in Privathäusern Alkohol serviert als ein Speakeasy zu besuchen. Jetzt schwärmte man aus, und es gab einen Boom der Nachtclubs und feinen Esslokale. Claire Boothe Luce, die Gattin des Time- und Life-Gründers Henry Luce, prägte für die elitären Zirkel, die sich da nun vergnügten, den Begriff „Café Society“. Barney Josephson machte sich darüber lustig, als er 1938 seinem Jazz-Club in Greenwich Village diesen Namen gab und ihn mit dem Slogan „Der falsche Ort für die Richtigen Leute“ (mit großem R) bewarb. Das Café Society war einer der ersten (wenn nicht der erste) „integrierten“ Clubs, der weiße und schwarze Gäste willkommen hieß. Die große Mehrheit der Nachtschwärmer, die für Mrs. Luce die „Café Society“ bildeten, traf sich allerdings woanders, im Stork Club oder im El Morocco.

"Life"-Cover mit Brenda Frazier

Politiker, Wirtschaftsbosse und Geldadel hatten bis dahin Distanz zum Showbusiness gehalten. In den 1930ern änderte sich das radikal. Die Reichen und die Mächtigen hatten früher das Scheinwerferlicht gemieden und ließen sich jetzt bereitwillig mit Schauspielern und Sängern photographieren. Wer mit den richtigen Leuten auf dem Bild war und seinen Namen in die Klatschkolumnen brachte, konnte auf vielfältige Weise Profit daraus ziehen. Prominenz wurde zum Wert an sich. Die erste Paris Hilton hieß Brenda Frazier. Die Debütantin Brenda sah passabel aus, entstammte einer steinreichen Familie und verfügte über keine besonderen Talente. Berühmt wurde sie durch die glamouröse Party, die ihre Eltern 1938 zur Einführung der Tochter in die Gesellschaft finanzierten. Die Party brachte sie auf das Cover des Magazins Life. Walter Winchell, der das aus celebrity und debutante zusammengesetzte Wort celebutante für sie erfand, protegierte Brenda. Nur weil sie prominent war, erhielt sie Werbeverträge, und sie wurde zur Stilikone.

Im Strudel der Eitelkeit

Der Promi-Kult ließ auch bei anderen die Kassen klingeln. Sherman Billingsley, Gründer und Besitzer des Stork Club, war ein ehemaliger Alkoholschmuggler aus Oklahoma. Aus seinem früheren Leben brachte er viele Kontakte mit, die ihm auch als Betreiber eines legalen Etablissements sehr nützlich waren. Eine Hand wusch die andere. Wenn man als Promi, hochrangiger Polizist oder Politiker das Lokal besuchte, oder in Begleitung wichtiger Personen, konnte es einem passieren, dass der Chef die Rechnung übernahm oder ein kostenloses Upgrade spendierte. Wenn tags darauf in der Zeitung stand, wer wieder im Stork Club gewesen war, war das Geld gut angelegt. Clifford Odets schreibt in The Time is Ripe, seinem posthum erschienenem Tagebuch aus den 1940ern, dass er bei Winchell im Stork Club saß, exzellent speiste, Cognac trank und ihm dann zu seinem Erstaunen die Rechnung verweigert wurde, weil er mit Sylvia Sidney gekommen war.

Das innerste Heiligtum des Clubs, zu dem nur die besonders Privilegierten Zutritt hatten, war der „Cub Room“. Links vom Eingang hatte Walter Winchell seinen privaten Tisch mit sechs Plätzen. Dort hielt er Hof. Wer reinkommt ist drin in der besseren Gesellschaft, heißt es in Helmut Dietls Kir Royal, und rein kam man zum Beispiel, indem man in Winchells Kolumne oder seiner Radiosendung positiv erwähnt wurde. Darum hofften viele, vom Filmstar über den zur Wiederwahl anstehenden oder in Schwierigkeiten geratenen Politiker bis zum Presseagenten, auf eine Audienz. W. W. hatte ein eigenes, von Billingsley für ihn installiertes Telefon am Tisch, und wer sich ihm näherte, ohne herangewunken worden zu sein, wurde rüde abgefertigt.

Odets beschreibt Winchell im Tagebuch als einen Egomanen, der sich gern reden hört und nur die eigene Meinung gelten lässt: „Als ich ihm zuhörte, fragte ich mich, wie ein Mensch so wenig Sinn und Gefühl für andere Menschen haben konnte. Er ist ein Strudel der Eitelkeit.“ Das war wohl berufsbedingt. Viele Leute, die einem zu Dank verpflichtet sind, weil man ihnen eine Gefälligkeit erwiesen hat oder dies noch machen wird, bedeuten auch viel Macht (und die Macht hat eine korrumpierende Wirkung). Winchells Stil war dafür das perfekte Instrument. Er schrieb einen oft unvollständigen Satz, gefolgt von drei Punkten, dann kam der nächste Satz. So brachte er in einer einzigen Kolumne eine Menge Namen und Informationen unter.

Das Kleinteilige und Bruchstückhafte von Winchells Kolumnen sowie die Vermischung von Öffentlichem und Privatem hat mittlerweile auch den politischen Fernsehjournalismus in der BRD erreicht. Man kann das an diesem eher peinlichen Interview sehen, das Wulff ARD und ZDF am 4. Januar gab. Die beiden Interviewer arbeiten brav ihren vorbereiteten Fragenkatalog ab, statt länger bei einem Thema zu verweilen (und nachzufragen) oder das Gespräch gar auf eine allgemeinere Ebene zu bringen. Was rein privat und was von öffentlichem Interesse ist, war ihnen auch nicht so klar, weil sie sonst manche Frage nicht gestellt hätten. Die Sendung passte, vom Erkenntnisgewinn her betrachtet, mehr in die Unterhaltungs- als in die Informationsabteilung.

„Es war ja auch klar“, sagte Bettina Schausten anschließend, „dass die Fragen auf der Hand liegen, und wir sind froh, dass wir dann tatsächlich in zwanzig Minuten, glaube ich, die wichtigsten, kritischsten Fragen unterbringen konnten.“ Auf die Anzahl der Fragen kam es demnach an, nicht auf die Qualität der Antworten, wie bei Winchell auf die Namen (mit den Erklärungen des Präsidenten als den drei Punkten). Man hätte auch versuchen können, Substantielles von den Vermischten Nachrichten zu trennen (das Gegenteil vom Boulevard) und die Dinge im Kontext zu begreifen. Das Gewitter der Einzelfragen war so vorhersehbar, dass Wulff leichtes Spiel gehabt hätte, wenn er nicht – ohne Not und scheinbar von der zur Schau getragenen Honorigkeit und seiner Entschlossenheit berauscht, neue Höhen der Transparenz zu erklimmen – selbst ein paar weitere Fässer aufgemacht hätte (400 Fragen und Antworten im Internet, kein Drohanruf).

Aufgabe des Bundespräsidenten sei es, schreibt der Jurist Dieter Grimm in einem ebenso nüchternen wie lesenswerten Artikel für die FAZ, „der Priorität des Kurzfristigen und Taktischen vor dem Langfristigen und Prinzipiellen“ im laufenden Politikbetrieb etwas entgegenzusetzen. Beim Verhör durch ARD und ZDF interessierte das weder die vom Getöse des Augenblicks getriebenen Inquisitoren noch den Befragten. Ich hätte gern gewusst, wie Christian Wulff die Rolle des Bundespräsidenten sieht, ob und warum er denkt, diese Rolle noch glaubhaft ausfüllen zu können, was die Affären eines Verfassungsorgans wie des Präsidenten für unsere Demokratie bedeuten, ob er glaubt, dass Politiker, ganz generell, noch im Sinne ihrer Wähler (oder gar des Landes) agieren können, wenn sie sich und ihre Veranstaltungen von Unternehmern sponsern lassen …

Erfahren habe ich durch das Interview, dass Frau Schausten 150 Euro von Freunden verlangt, wenn sie bei ihr übernachten, dass böse Leute im Internet schlimme Unwahrheiten über Frau Wulff verbreiten (was uns selbst dann nichts anginge, wenn sie wahr wären, was sie nicht sind) und dass Herr Wulff Freunde mit einem Süßwarenladen auf Norderney hat, wo er umsonst das Gästebett benutzen darf. Bilder vom Fichtenholz-Interieur im Gästezimmer über dem Laden wurden bei Günther Jauch nachgereicht, und der Bundespräsident hatte auch nichts dagegen, dass seine alte Freundin Jauch erzählte, was für ein netter Mensch er privat ist (im Urlaub trägt er Jeans und keinen Anzug), weil es so schön vom Politischen an der Affäre ablenkte. Frau Solaro konnte das nur tun, weil die Redaktion dieser „Polittalkshow“ sie eingeladen hatte. (Vielleicht war es auch ein Platzproblem. Für die Marmeladenfabrik, mit der unser Bundespräsident befreundet ist, wäre es sogar bei Jauch zu eng gewesen.)

Liefern oder sterben

Damit sind wir wieder bei Walter Winchell. Er war einer der ersten, die entdeckten, dass der Journalismus mehr eine Form der Unterhaltung als der Information sein könnte. Ich will Winchell nicht für alles Schlechte in der Welt verantwortlich machen, muss jedoch noch anfügen, dass er auch einen Beitrag zur oft beklagten Beschleunigung der Medienzyklen leistete. Er war nicht so schnell wie ein Blogger im Internet, aber der übrigen Tagespresse einen Schritt voraus, weil er das, was er veröffentliche, grundsätzlich nicht auf seine Richtigkeit hin überprüfte. Das verlockte die Konkurrenz dazu, es ihm gleichzutun oder die eigene Recherche, die sehr zeitraubend sein kann, doch wenigstens abzukürzen. Das ging zu Lasten der Genauigkeit und hatte Folgen für das Image des Berufsstandes insgesamt. Wulffs Verteidiger beklagen die immer neuen Berichte über kleine und größere Gefälligkeiten und konstruieren daraus eine Medienkampagne, weil dahinter eine Strategie stecke: Jeden Tag eine Enthüllung statt alles auf einmal. Das mag im Einzelfall so sein, verkennt aber total, dass Journalisten oft wochen- und monatelang recherchieren, bevor es etwas zu berichten gibt. Die Winchells sind – hoffe ich zumindest – nach wie vor in der Minderheit.

Walter Winchell. Bild: Screenshot "Kiss of Death"

Wegen der Gefahr von Verleumdungsklagen hatte Winchell eine Klausel im Vertrag, die seine Arbeitgeber verpflichtete, eventuell anfallende Kosten zu übernehmen. Außerdem hatte er sein ganz persönliches, auf Belohnen und Bestrafen beruhendes System der Qualitätssicherung. Das Überprüfen von Informationen übernahmen seine Informanten selbst. Wer ihm etwas lieferte, das nicht stimmte oder ihn auf andere Weise gegen sich aufbrachte, landete auf der „DDL“ (Drop Dead List) und wurde bei nächster Gelegenheit selbst angeschwärzt. Ein PR-Agent, der ihn mit saftigen Geschichten versorgte, konnte so die eigenen Klienten in der Kolumne unterbringen. War nichts dran an den Gerüchten, wurden die Klienten – im besten Fall – totgeschwiegen und der Agent hatte bald keine Kunden mehr.

Das Winchell-System konnte gnadenlos sein. In Sweet Smell of Success ruft ein Presseagent beim Kolumnisten J. J. Hunsecker an und erzählt ihm etwas, das schon eine Woche alt ist. Hunsecker weist ihn zurecht und legt den Hörer auf. „Glauben Sie an die Todesstrafe?“ fragt Sidney Falco einen mit am Tisch sitzenden Senator. „Gerade wurde ein Mann zum Tode verurteilt.“ Falco muss es wissen. Er ist selbst Presseagent. Das System konnte auch in Erpressung ausarten. Wer nichts lieferte, musste die Konsequenzen tragen. Heute wird darüber spekuliert, ob die Bild-Zeitung aus journalistischem Berufsethos in Wulffs Kreditaffäre recherchierte oder ob sie ihm eins auswischen wollte, weil er das Blatt nicht länger mit den schönen Photos und exklusiven Nachrichten aus seinem Privatleben versorgte, mit denen er sich die Bild gewogen gemacht hatte. Mit Walter Winchell hat das angefangen.

1940 erschien im New Yorker eine 6-teilige Artikelserie über Winchell. Der Autor, der angesehene Reporter St. Clair McKelway, beklagte die durch Winchells Wirken immer weiter abgesenkten Standards in der US-Presse. 1924, als dieser zur Evening Graphic kam, habe keine Zeitung Gerüchte über das Privatleben von Personen des öffentlichen Lebens verbreitet und über Eheprobleme erst dann berichtet, wenn die Betroffenen vor dem Scheidungsrichter standen. Inzwischen, so McKelway, drucke die New York Times Klatsch- und Tratschgeschichten, wie sie sogar die Graphic 1924 noch abgelehnt hätte. Das, was McKelway da feststellte, war das Resultat eines härter gewordenen Konkurrenzkampfs auf dem Zeitungsmarkt und der durch Medienmagnaten wie Hearst forcierten Auflagensteigerungen der Boulevardpresse, durch die Qualitätsblätter wie die Times in die Defensive gerieten. Es war nicht die Schuld einer einzelnen Person. Doch Winchell war die Symbolfigur dieser Entwicklung, und in vielerlei Hinsicht ihr Wegbereiter.

Unamerikanische Aktivitäten

Der wichtigste Presseagent der USA war Irving Hoffman, ein enger Freund von Walter Winchell. In seiner Agentur entstanden viele von den Geschichten, die sich seine Assistenten ausdachten (und die in Büchern über Hollywood weiterleben), damit die Klienten in der Zeitung und im Radio erwähnt wurden. Einer der Assistenten hieß Ernest Lehman, später Drehbuchautor der Hitchcock-Filme North by Northwest und Family Plot. Hoffman hatte eine eigene Kolumne im Hollywood Reporter („Tales of Hoffman“). Lehman fungierte gelegentlich als sein Ghostwriter und verfasste dann einen Teil der Kolumne, „Last Night on Broadway“. Er kannte sich also aus, als er mit der Arbeit an einem Schlüsselroman über einen berühmten Kolumnisten und einen kleinen Presseagenten begann. Aus dem Manuskript destillierte er die Erzählung „Tell Me About It Tomorrow!“, die 1950 in der Zeitschrift Cosmopolitan erschien und vielleicht in Vergessenheit geraten wäre, wenn Winchell nach dem Krieg nicht nach rechts gerückt und das Studiosystem in Hollywood in den 1950ern nicht zusammengebrochen wäre.

Nicht nur Wulff musste erfahren, dass es keine immerwährende Garantie dafür gibt, vom Boulevard gefördert zu werden. Winchell unterstützte Präsident Roosevelt, machte sich ungeachtet einer Fehde mit Josephine Baker wegen Rassismusvorwürfen gegen den Stork Club für die Gleichberechtigung der Schwarzen stark und sprach sich als einer der ersten offen für ein entschlossenes Vorgehen gegen die Nazis und den German-American Bund aus. (Vgl.: Gefahr aus dem Bierkeller) Im Kalten Krieg beteiligte er sich an der Jagd auf Linke, Senator McCarthy war sein neuer Freund. Eine von Winchells Spezialitäten war das „blind item“: eine Erwähnung in der Kolumne, die so formuliert war, dass jeder wusste, wer gemeint war, ohne dass es direkt gesagt wurde. Lucille Ball, der Hauptdarstellerin und Produzentin der populären TV-Serie I Love Lucy, hängte er so das Gerücht an, sie sei KP-Mitglied.

Burt Lancaster gehörte wie Lucille Ball zu den Schauspielern, die in den 1950ern eine eigene Firma gründeten, um selbst Filme zu machen, die dann von einem der Studios gegen eine Gewinnbeteiligung verliehen wurden. Seine Partner waren Harold Hecht und James Hill. Hecht hatte in einer der Sondersitzungen des Kongressausschusses für „unamerikanische Aktivitäten“ ausgesagt, wo Beschuldigte Namen nannten, um nicht selbst auf die schwarze Liste gesetzt oder von dieser gestrichen zu werden. Lancaster, ein Anhänger von Roosevelt und dem New Deal, hatte auf Druck seiner Arbeitgeber in Hollywood einen Brief an die American Legion geschrieben und darin unterwürfig (und zähneknirschend) versichert, ein amerikanischer Patriot und kein Kommunist zu sein. Mit Leuten wie Winchell, der Künstler und Intellektuelle mit Dreck bewarf, wenn er sie für Kommunisten hielt oder versuchte, ihnen mit dieser Unterstellung zu schaden, hatten beide eine Rechnung offen.

Sechs Jahre lang hatte sich kein Produzent an Lehmans Kurzroman herangetraut. Doch der Sturz McCarthys hatte auch Winchells Position geschwächt, und im vielfältiger gewordenen, nicht mehr von monolithischen Studios beherrschten Hollywood funktionierten die alten Seilschaften nicht mehr wie früher. Die Firma Hecht-Hill-Lancaster (HHL) wollte Lehmans Geschichte verfilmen und bot dem Autor sogar an, nicht nur das Drehbuch zu schreiben, sondern auch selbst Regie zu führen. Die Partner fühlten sich stark genug für das Projekt, weil die Western Apache und Vera Cruz (1954) sehr erfolgreich gewesen waren und ihnen mit Marty der Überraschungsfilm des Jahres 1955 gelungen war (vier Oscars, u. a. für den besten Film, nach insgesamt acht Nominierungen).

Eines der Vorbilder für die von Orson Welles gespielte Hauptfigur in Citizen Kane war William Randolph Hearst gewesen, der Boss von Walter Winchell. Lehman wollte Welles nun auch als den Kolumnisten J. J. Hunsecker besetzen, was Lancaster missfiel. In der Vorbereitungsphase scheint Lehman die Nerven verloren zu haben. Dafür gibt es mehrere mögliche Gründe. Seine den leiblichen Genüssen zugetanen Chefs, die für Vorstellungsgespräche am Wilshire Boulevard in Los Angeles ein Apartment gemietet hatten (kein Büro), waren ihm nicht geheuer. Lancaster hatte ein aufbrausendes Temperament, setzte gern seine eigene Meinung durch und beschloss, die Hunsecker-Rolle selbst zu spielen. Und Winchell war sowieso eine furchteinflößende Figur.

W. W. hatte beste Kontakte zur New Yorker Polizei, die ihn oft auf Streife mitnahm, und zu Hoovers FBI. Übergriffe dieser Organisationen waren keine Seltenheit. Die verbale Aufrüstung mit Kriegs- und Kopfeinschlagen-Metaphorik, die Winchell in seinen Kolumnen betrieb, fand ihre Fortsetzung in der Realität. Ein Mann, der auf seiner Feindesliste stand, war zweimal kurz hintereinander verprügelt worden, Täter unbekannt. Winchell hatte das in seiner Kolumne höhnisch kommentiert. Wie gefährlich Winchell war, hatte auch William Cahn erfahren. Neal Gabler schreibt darüber in Winchell: Gossip, Power, and the Culture of Celebrity, einem sehr guten Buch.

Cahn war ein halbseidener Möchtegern-Impressario mit dunkler Vergangenheit, der am Broadway eine Komödie produzierte. Mit von der Partie war Walda (!), Walters Tochter, die in Liebe zu Bill Cahn entbrannte. Walda versetzte für Bill den berühmten Nerzmantel, den ihr Walter zum 18. Geburtstag geschenkt hatte und Bill organisierte Partys, auf denen er Geld für seine Produktion sammelte und Walda herumreichte, um vom Namen Winchell zu profitieren; viele Gäste kamen nur, weil sie hofften, über die Tochter in die Kolumne des Vaters zu gelangen. Walter hatte also nachvollziehbare Gründe, gegen diese Beziehung zu sein, legte allerdings ein Verhalten an den Tag, das mehr an einen eifersüchtigen Liebhaber als an einen besorgten Vater erinnerte, drohte mit Erschießen und versuchte, seine Tochter in eine psychiatrische Klinik einweisen zu lassen.

Walda, nervlich zerrüttet, war dem Druck schließlich nicht mehr gewachsen und sagte sich von beiden Männern los, von Walter und von Bill. Winchell war nachtragender als ein Elefant, verfolgte Cahn noch nach Jahren und wurde von seinem Freund Hoover unterstützt. Nach Ermittlungen des FBI wurde Cahn wegen Steuerhinterziehung vor Gericht gestellt und zu achtzehn Monaten verurteilt, obwohl es um eine lächerlich geringe Summe ging. Als er die Strafe abgesessen hatte, wanderte er nach Israel aus. Winchell, der mit Klatsch über andere Leute reich und mächtig geworden war, verstand keinen Spaß, wenn es um sein eigenes Privatleben ging. In Lehmans Geschichte hat der Kolumnist Hunsecker ein inzestuöses Verhältnis zu seiner Schwester Susie, aus William Cahn ist der Sänger Steve Dallas geworden (im Film ist er Gitarrist beim Chico Hamilton Quintet). Dass das überhaupt verfilmt werden konnte, ist ein Beleg dafür, dass Winchells Stern im Sinken war. Trotzdem war er noch immer mächtig. Während die HHL das Projekt vorantrieb, trat Lehman einen Erholungsurlaub auf Tahiti an, weit weg vom langen Arm des Kolumnisten.

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