Zwischen Schädelstätte und Endlosschleife

Seite 3: Fragmente eines Frauenkörpers

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Wer glaubt, dass Carol - moralisch und vielleicht auch juristisch - eine Mitschuld am Tod des Barkeepers hat, kann das natürlich tun. Der Film teilt diese Meinung nicht. Wie zur Bestätigung sitzt Inspektor Burgess in ihrem Wohnzimmer, als sie nach Hause kommt. Die Vermieterin hat ihm die Tür aufgesperrt, und mit welchem Recht er auf Carols Couch sitzt spielt keine Rolle. Die Unverletzlichkeit der Wohnung, das wissen wir mittlerweile, ist für Siodmak ein Ding der Vergangenheit. Burgess weiß schon, dass Carol den Barkeeper verfolgt hat, bis er vom Auto überfahren wurde. Da würde man jetzt denken, dass es um strafrechtlich relevante Tatbestände geht. Weit gefehlt. Der Inspektor ist gekommen, um Carol seine (inoffizielle) Hilfe anzubieten. Burgess ist inzwischen von Hendersons Unschuld überzeugt. Die Beweise waren erdrückend, sagt er. Aber nur ein Unschuldiger hätte auf einem so dummen, unglaubwürdigen Alibi bestanden (die Frau mit Hut), statt sich etwas Besseres auszudenken.

Phantom Lady

Solche Dialoge sind üblicherweise ein Indiz dafür, dass der Drehbuchautor faul oder überfordert war. Nicht in diesem Film, der frecherweise einen assoziativ vorgehenden Polizisten auftreten lässt, um die Regeln der Logikpolizei in den Story Departments von Hollywood zu ignorieren. Auch die überwältigenden Beweise bestanden nur aus der Krawatte um den Hals des Opfers, die Henderson gehörte oder nicht. Und selbstverständlich hat Inspektor Burgess seinen Hut mitgebracht, weil das schließlich eine Geschichte über Menschen und deren Reduzierung auf Objekte ist, die durch die Suche nach einem Hut zusammengehalten wird wie Pièges durch die Kleinanzeigen in der Zeitung. Von Marcella bleibt nur das Bild an der Wand und die Krawatte um ihren Hals übrig, deretwegen ihr Mann zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt wird. Von Henderson wird bald nur sein Photo am Carols Spiegel übrig sein, wenn diese nicht den Hut der Phantomfrau findet. Mit Logik in einem realistischen Sinne hat das nichts zu tun. Es ist die Logik des Albtraums. Man merkt es nur nicht gleich, weil Siodmak auf die surrealistischen Verfremdungen verzichtet, die etwa Gregory Pecks Albtraum in Hitchcocks Spellbound charakterisieren.

In der nächsten Szene sehen wir auch Carol zum ersten Mal mit einer Kopfbedeckung, oder etwas in der Art. Das Ding ist Teil eines Outfits, mit dem im Hollywood des Production Code die sexuelle Verfügbarkeit signalisiert wurde. Wie ein paar Jahre vorher in Pièges zeigt uns Siodmak die fragmentierte, selbst zum Objekt gewordene Frau: die Füße in hochhackigen Schuhen; Lederriemen um die Knöchel; Beine in Netzstrümpfen; ein eng anliegendes, satinähnlich schimmerndes und die Brustpartie betonendes Kleid; billiger Modeschmuck an den Handgelenken und um den Hals; ein durch ausgiebiges Kaugummikauen auf sich aufmerksam machender Mund; geschminkte Lippen. In Pièges ist es die Perspektive des Mörders, die wir teilen. Hier ist es die von Cliff dem Schlagzeuger, der den eigenen Mund fast nicht mehr zukriegt, als er sich bewusst wird, dass ihm die Frau in der ersten Reihe schöne Augen macht. Carol, kürzlich noch als Medusa in Anselmos Bar zu sehen, sitzt in ihrer neuen Rolle als Hure Jeannie im Revuetheater.

Phantom Lady

Wer "Hure" zu hart findet, kann auch "Flittchen" sagen. Bei einer Unterhaltungsindustrie, die mit Andeutungen arbeiten musste, weil die Zensoren verklemmte Fundamentalisten waren, hing viel von der Interpretation des Publikums ab. Jedenfalls spielt Carol in dieser neuen Inkarnation eine Frau, von der Cliff, der kleine unscheinbare Mann am Schlagzeug, glauben soll, dass er mit ihr schlafen kann, weil sie ihn aushorchen möchte. Dieselbe fragmentierende Wahrnehmung des weiblichen Körpers wie Cliff (und der Serienkiller in Pièges) hat übrigens auch der Staatsanwalt. Ihn interessiert an Marcella Henderson nur der Hals, in den sich die Krawatte eingeschnitten hat. Daran geilt er sich förmlich auf. Siodmak zahlt es ihm heim, indem er ihn ins Off verbannt und zur körperlosen Stimme macht.

Trommeln bis der kleine Tod kommt

Pièges wie Phantom Lady kombinieren den Krimi mit dem pikarischen Roman, wo der Held nacheinander in verschiedene Rollen schlüpft und eine horizontale wie eine vertikale Reise durch die Gesellschaft antritt (nur dass der traditionelle Held hier eben eine Heldin ist). Siodmak nützt die sich daraus ergebenden Möglichkeiten nach Kräften aus. Cliff hat noch Zeit, seinen Hut aufzusetzen, dann trifft er Carol alias Jeannie am Bühnenausgang und nimmt sie mit in einen Keller, wo gerade eine Bebop-Session im Gange ist. So etwas hatte man in einem Hollywoodfilm noch nie gesehen. Der Kontrast zum routiniert und trotz Kranfahrt eher statisch inszenierten Chica-Boom-Boom macht deutlich, welche Form der Populärkultur Siodmak bevorzugt: es ist der Jazz und nicht der Musikantenstadl.

Phantom Lady

In diesem Keller tobt das Leben. Cliff macht die Tür auf und die Kamera fährt auf Dole Nicolls zu, der da gerade in die Posaune bläst, als müssten Wände zum Einsturz gebracht werden. Wir sind jetzt schon mitten drin im Raum, die Kamera schwenkt zu Freddie Slack, dem früheren Pianisten von Jimmy Dorsey, und ehe sie uns Barney Bigard an der Klarinette zeigt (bis 1942 Mitglied im Orchester von Duke Ellington und damals Chef der Begleitband von Etta Jones) sehen wir Cliffs Hand an Carols Hals, um uns daran zu erinnern, dass es hier noch immer um eine Mordermittlung und sexualisierte Gewalt geht, obwohl wir die Welt des konventionellen Kriminalfilms längst hinter uns gelassen haben. Am Bass steht Howard Rumsey, der mit Stan Kenton spielte, später die Lighthouse All Stars gründete und für die Entwicklung des Cool Jazz sehr wichtig wurde.

Ursprünglich sollten die Musiker Marihuana rauchen wie in Woolrichs Roman. Das untersagte die Production Code Administration (PCA). Also gießt Carol Cliff jetzt einen Whisky ein, statt ihm einen Joint anzustecken. Cliff hat sich ans Schlagzeug gesetzt und drückt ihr einen feuchten Kuss auf die Lippen (wer auf der Tonspur für ihn trommelt weiß man nicht genau: David Coleman wird oft genannt, aber Elisha Cook soll jemandem erzählt haben, dass es Buddy Rich war, und als Vorbild für das orgiastische Wirbeln der Drumsticks dienten wohl die Soli von Gene Krupa, der darum ebenfalls in Verdacht geriet, der Drummer hinter den Kulissen zu sein). Carol sieht kurz aus, als müsse sie sich nach dem Kuss übergeben, spielt aber weiter tapfer das von Cliff faszinierte "hippe Kätzchen" (hip kitten), als das sie sich ihm präsentiert hat. Diese Frau würde mit Cliff auch ins Bett steigen, wenn sie dadurch etwas erfahren könnte, das Henderson vor dem elektrischen Stuhl rettet. In einem Hollywoodfilm der 1940er ging so etwas natürlich gar nicht. Sogar die Andeutung war schon zuviel. Vielleicht waren Joe Breen und die anderen Herren von der PCA durch die von Siodmak servierten Zumutungen bereits zu zermürbt, um sich noch groß darüber aufzuregen.

Die Jam Session wäre sogar ohne Musik noch grandios, wie überhaupt sehr viele Szenen in Phantom Lady auch als Stummfilm funktionieren würden. Als Carol den von Cliff verwischten Lippenstift nachzieht glaubt sie, alles doppelt zu sehen. Tatsächlich ist es der Spiegel, der vibriert. Siodmak, Bredell und der Cutter Arthur Hilton (für seine Arbeit an The Killers, auch von Siodmak, wurde er für einen Oscar nominiert) machen aus Phallussymbolen, Blicken, Körperteilen, aus dem Lot geratenen Einstellungen und Montage eine unverschämt direkte Sexszene, auch wenn es nach dem Kuss keine Berührungen mehr gibt und erst recht keine sichtbare Penetration. Alles geschieht durch Suggestion. Während Joe Breen klein beigab standen die Zensoren in Pennsylvania ihren Mann. Dort durfte Phantom Lady erst gezeigt werden, nachdem man etliche Großaufnahmen herausgeschnitten hatte.

Phantom Lady

Höhepunkt ist Cliffs Solo. Wir werden Zeuge eines doppelten Orgasmus. Einer ist vorgetäuscht und einer ist echt. Durch das Fake bleibt Carol - obwohl bereit, für Scott Henderson ihre Unschuld hinzugeben - sozusagen Jungfrau, damit Henderson sie am Schluss heiraten kann (Luder, die vor der Ehe Sex haben, egal unter welchen Umständen, führte man nicht zum Traualtar; das verhinderte wieder der Production Code). Wer nicht weiß, was ein Come-on ist, sehe sich diese Szene an. Carol steht in ihrem Hurenkostüm vor Cliff, fixiert ihn mit ihrem Medusablick und imitiert eine Frau, die den Mann zu immer härteren Stößen animiert, damit Cliff immer orgiastischer mit seinen Drumsticks zu Werke geht. Der freche Siodmak hat den Bildausschnitt so gewählt, dass man gerade genug von Carols Hüften sieht, um sich vorzustellen, was man sich vorstellen soll und nicht so viel, dass die Zensoren verlangen konnten, Ella Raines ganz aus der Szene zu entfernen. Cliff trommelt sich einstweilen in ein erotisches Delirium hinein, und es wäre nicht verwunderlich, wenn er gleich als Leiche vom Hocker fallen würde. Aber so weit ist es noch nicht. Vorerst stirbt er nur den "kleinen Tod", wie die Franzosen den Orgasmus nennen. Wer jetzt empört oder peinlich berührt ist, dem steht es frei, nur eine Jam Session zu sehen und kommt immer noch auf seine Kosten. So muss es sein, wenn man der Zensur eine lange Nase dreht.

Musique noire

Gern hätte ich gewusst, ob es ein Zufall war, dass am Ende des Jahres 1944, an dessen Anfang Phantom Lady gestartet worden war, ein zehnminütiges Meisterwerk Premiere hatte, das mit einigem Recht für sich beanspruchen kann, der beste Jazzfilm aller Zeiten zu sein, oder ob ein kreativer Austausch stattgefunden hatte. Die Rede ist von Jammin’ the Blues, inszeniert vom albanischstämmigen Gjon Mili. Ich erkenne auffallende Ähnlichkeiten, und jedenfalls kann Siodmak bei Mili keine Ideen geklaut haben, weil die Aufnahmen zu Jammin’ the Blues im August und September 1944 entstanden. Der Jazz wurde von Hollywood eher stiefmütterlich behandelt. Ab und an sorgte eine Musiknummer für ein paar Hintergrundgeräusche (etwa so, wie Siodmak mit der Chica-Boom-Boom-Sängerin umgeht), oder es gab Auftritte einer Big Band, die als Vorfilm liefen. Das waren kurze Streifen, die allein wegen Duke Ellington, Count Basie oder Glenn Miller in Erinnerung geblieben sind und die man filmästhetisch vergessen kann, weil einer die Kamera hingestellt hatte und nicht viel mehr.

Jammin’ the Blues

Mili, im Hauptberuf Photograph beim Magazin LIFE, wollte das ändern. Mit Hilfe des Jazz-Impressarios und Plattenproduzenten Norman Granz, einem gelernten Cutter, holte er Jazz-Größen wie Lester Young, Harry Edison, Illinois Jacquet und Marie Bryant ins Studio, um einen von der Firma Warner Bros. finanzierten Film zu drehen, in dem Jazz und Kinematographie eine harmonische Verbindung eingehen, die Schönheiten der Musik durch die ästhetischen Mittel des visuellen Mediums reflektiert werden sollten. Mili bestimmte die Einstellungsgrößen, die Perspektiven, die Winkel, die Lichtsetzung und so weiter, durfte aber nicht selbst an der Kamera stehen, weil das ein von einem Hollywoodstudio produzierter Film und er nicht in der Gewerkschaft war (das erledigte Robert Burks für ihn, später Hitchcocks Kameramann bei Strangers on a Train, Vertigo, North by Northwest etc.). Das Ergebnis ist brillant: ein energiegeladenes Film-noir-Musical und zehn Minuten pure Freude.

Wenn die Welt so wäre, wie sie sein sollte, hätten die Warner Bros. sofort mehr davon in Auftrag gegeben. In der Wirklichkeit bestand wenig Interesse an einer weiteren Zusammenarbeit, denn das Verhältnis zwischen dem Studio auf der einen sowie Mili und Granz auf der anderen Seite hatte sich merklich abgekühlt. Es hatte Streit über ästhetische Entscheidungen gegeben, und Granz hatte einen Streik initiiert, um durchzusetzen (mit Erfolg), dass die nach Tarif entlohnten Musiker genauso gut bezahlt wurden wie die Tänzer. Für den meisten Ärger sorgte der Wunsch der Geldgeber, schwarze und weiße Künstler nicht gemeinsam beim Musizieren zu zeigen. Besonders in den Südstaaten, wo man die Rassentrennung praktizierte, konnte das zu Boykottmaßnahmen und Gewinneinbrüchen führen, was die Studios unbedingt vermeiden wollten. Mili war gezwungen, die Identität des weißen Gitarristen Barney Kessel mit ästhetischen Mitteln zu verfremden (Ästhetik hat immer auch mit Politik und Ideologie zu tun). Für Nahaufnahmen, wo das nicht möglich war, musste sich Kessel die Hände mit Beerensaft einreiben, wodurch sie etwas dunkler wirkten (aber nicht sehr).

Jammin’ the Blues

Jetzt wissen wir auch, warum in Phantom Lady ausschließlich weiße Musiker zur Jam Session erschienen sind - nicht weil Siodmak es so wollte, sondern weil etwas anderes in einem 1943 in Hollywood produzierten Spielfilm völlig unmöglich gewesen wäre. Eine bunt gemischte Combo hätte die Universal nie zugelassen. Man kann da gut sehen, welche Weiterungen der Rassismus hat. Der Schlagzeuger Cliff Milburn muss weiß sein, weil er in einem mit Weißen besetzten Orchester spielt und Ella Raines unmöglich mit einem Schwarzen zu einer Jam Session und dann mit zu ihm nach Hause gehen könnte, und folglich müssen Schwarze bei der Jam Session draußen bleiben. Mir persönlich gefällt der Gedanke, dass anstelle von Buddy Rich oder Gene Krupa jemand mit schwarzer Hautfarbe für Elisha Cook am Schlagzeug saß, Jo Jones oder Sid Catlett beispielsweise, die in Jammin’ the Blues dabei sind. Dann wären die Rassisten doch noch düpiert worden, wenigstens akustisch.