Zwischen Schädelstätte und Endlosschleife

Seite 5: Wo bleibt die Vernunft?

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Die Kundin heißt Ann Terry, bewohnt ein feudales Anwesen auf Long Island und wird von einer Psychiaterin betreut (Dr. Chase erkennt in Marlow so wenig den Psychopathen wie Inspektor Burgess). Von ihr erfahren Jack und Carol, dass im vergangenen April urplötzlich der Mann gestorben ist, den Ann heiraten wollte und dass diese deshalb in eine seelische Krise geraten ist, aus der sie sich nicht befreien kann. Damit wissen wir jetzt also, warum diese Frau in Anselmos Bar so traurig wirkte und in der Jukebox den Titel "I’ll Remember April" auswählte. Phantom Lady ist ein sehr nachdenklicher Film, und darum ist nichts dagegen einzuwenden, wenn man sich als Zuschauer an dieser Stelle ein paar Gedanken darüber macht, was für ein ungleiches Paar diese Frau und dieser Mann abgäben, die sich am Abend, als Marcella ermordet wurde, zufällig trafen und dann ein paar Stunden nebeneinander saßen. Während Henderson zu wenig an Erinnerung hat trägt Ann Perry so schwer an ihr, dass sie daran zerbrochen ist. Phantom Lady erzählt tatsächlich von Phantomen. Wie, fragt der Film, geht man mit dem Verlust von geliebten Menschen um, und mit dem Verschwinden von Leuten, die man kannte und die nicht mehr da sind? Wie mit der Erinnerung?

Phantom Lady

Carol muss erkennen, dass die nach einem Nervenzusammenbruch in ihrer eigenen Welt lebende Ann Terry als Alibizeugin für Henderson nicht zu gebrauchen ist. Ann schenkt ihr jedoch den Hut, den sie zu ihrer Hochzeit tragen wollte und der nun sicherstellen soll, dass wenigstens Carol den Mann heiraten kann, den sie liebt. In welcher Gefahr Carol inzwischen schwebt, verrät die Garderobe: Marlow trägt eine Fliege, deren Muster mit dem von Carols Oberteil korrespondiert. Würde sich das gut ergänzen, oder wäre es doch ein modischer Fauxpas (der Film behält bis zum Schluss seinen grimmigen Humor), wenn Jack Carol die Schleife um den Hals legen würde, um sie zu erdrosseln? Irgendwie vermittelt sich der Eindruck, dass Hendersons Freilassung nur noch eine Formsache ist, sobald Inspektor Burgess diesen Hut hat. Und darum muss der wahre Mörder den Hut vernichten und Carol, die bezeugen kann, dass der Hut existierte, töten. Das ist wieder eine dieser Stellen, die den Hohepriestern des realistischen Geschichtenerzählens wie Bosley Crowther, dem Großkritiker der New York Times, die Zornesröte ins Gesicht trieb.

Crowther, dem Experimentellen und der Normabweichung eher nicht so zugetan und auch etwas xenophob, schrieb:

Etwas musste ja passieren, als ein früheres Alfred-Hitchcock-Protégé und ein früherer Regisseur von Horrorfilmen auf dem Universal-Gelände zusammengespannt wurden - etwas Ernstes und Unerbittliches, in schleichende Morbidität und eine düstere Stimmung getaucht. Und dieses Etwas, das Miss Joan Harrison und Robert Siodmak hervorgebracht haben, ist ein kleines Ding namens Phantom Lady […]. Wir wünschten, dass wir es als eine perfekte Kombination des berühmten Mr. Hitchcock und den alten psychologischen Filmen aus Deutschland empfehlen könnten, denn offensichtlich ist es sehr bemüht, genau das zu sein. […] Leute sitzen an düsteren Orten herum und schauen mit leerem Blick und schweigend ins Nichts, aus der Dunkelheit plärrt Musik heraus, seltsame Charaktere tauchen auf und verschwinden wieder. Das ist alles sehr sorgsam auf den unheimlichen und verstörenden Effekt hin konstruiert. Aber unglücklicherweise haben Miss Harrison und Mr. Siodmak eine grundlegende Sache vergessen - sie haben vergessen, ihren Film mit einer plausiblen, realistischen Handlung auszustatten. […] Fast könnte man meinen, dass der Regisseur zwischendurch ein paar Mal eingeschlafen ist. […] Ohne vernünftige Beweggründe wird das Sensationelle fadenscheinig. Und es sind die vernünftigen Beweggründe, die diesem Film fehlen.

Was Mr. Crowther wohl dachte, als er sehen musste, wie Marlow mit Hut und einer frohgemuten Carol zurück in die Stadt fährt, einer Carol, die sich freut, weil ihr Liebster schon so gut wie frei ist? Ein immer wieder gern genommenes Plotelement im Serienmörderfilm ist dieses hier: Ein Unschuldiger sitzt im Gefängnis, ein neues, nach demselben Modus operandi ermordetes Opfer wird gefunden, dann weiß die Polizei, dass der wahre Killer noch in Freiheit ist. In Phantom Lady ist das anders. Der Schlagzeuger wird erdrosselt wie vor ihm Marcella, und Inspektor Burgess sagt, dass das leider nicht ausreicht, um die Hinrichtung zu stoppen. Und dieser Hut einer Frau mit Nervenzusammenbruch, die nichts mehr aussagen und nichts bezeugen kann, ist der entscheidende Beweis? Im Sinne einer "realistischen", von Hollywood favorisierten Drehbuchkonstruktion ist das natürlich der blanke Unsinn. Nur: Darum geht es nicht. Siodmak war kein "früherer Regisseur von Horrorfilmen", aber mit dem Einschlafen ist Crowther auf der richtigen Spur. Phantom Lady hat sich der Logik der Träume (und nicht der Traumfabrik) verschrieben, bleibt bis zum Schluss assoziativ, und solange unterwegs immer wieder mal ein Hut auftaucht ist alles gut.

Die Enthauptung als eine schöne Kunst betrachtet

Der Hut aus der ersten Einstellung des Films ist jetzt also in den Besitz von Carol Richman übergegangen, und weil Siodmak doch nicht eingeschlafen ist hat sie eine Brosche in Federform angesteckt; Ann Terry, im Gegensatz zu Carol eine reiche Frau (rich woman), trägt in Anselmos Bar zwei teure Vogelbroschen über der Brust. Den Hut sehen wir zum letzten Mal auf einem überdimensionalen Männerkopf. Carol hat ihn einer Skulptur aufgesetzt, die Größe ausstrahlen soll, Macht und Erhabenheit, und mit der neuen Kopfbedeckung nur noch zum Lachen ist. Wir sind im Atelier von Jack Marlow. Aus Eugen Weidmann, dem auf seine Umgebung so gebildet wirkenden Serienkiller mit dem Faible für Goethe und Schiller, ist in Phantom Lady ein erfolgreicher Bildhauer geworden. Weidmann suchte in einem Anfall von Größenwahn die Texte der Weimarer Klassiker nach Stellen ab, die erklären (und rechtfertigen) konnten, warum Männer wie er zum Töten getrieben wurden. Der Mörder in Phantom Lady hat Nietzsche gelesen und sieht sich - in einer popularisierten Form von dessen Ideen - als Übermensch.

Phantom Lady

Für Franchot Tone als Marlow hält das Drehbuch einige Monologe bereit, die ihn als einen Geistesverwandten von Onkel Charlie ausweisen, dem über unnützes und daher verzichtbares Leben schwadronierenden "Lustige-Witwen-Mörder" in Hitchcocks Shadow of a Doubt (kurz vor Phantom Lady entstanden). Es geht los im Apartment von Cliff, dem kleinen Schlagzeuger. "Wie interessant ein Paar Hände sein können", sagt Marlow. "Sie können eine Melodie aus der Tastatur eines Klaviers heraustricksen, sie können aus einem Stück Lehm etwas Schönes modellieren, sie können einem sterbenden Kind das Leben zurückbringen. Ein Paar Hände können unfassbar viel Gutes tun. Und doch kann dasselbe Paar Hände auch schrecklich böse Dinge tun. Sie können zerstören, auspeitschen, foltern … und sogar töten. Ich wünschte, ich müsste nicht meine Hände benützen, um einem anderen Menschen wehzutun." Siodmak konnte mit einem Publikum rechnen, das bei Auspeitschen und Foltern als erstes an die Nazis denken würde. Seit dem Kriegseintritt der USA hatte Hollywood seine lange geübte Zurückhaltung aufgegeben. Es war jetzt patriotisch, die Schrecken des Dritten Reichs auf die Leinwand zu bringen, und lukrativ war es ebenfalls. Hitler’s Children, ein ziemlich grelles Exposé über Hitlerjugend und NS-Brutalitäten, war einer der ganz großen Kassenschlager des Jahres 1943. Auch beim Zynismus, mit dem Marlow seinen Schal abnimmt, um sich seine Künstlerhände nicht zu beschmutzen, wenn er Cliff erdrosselt, könnten einem die Nazis einfallen. In der Synchronfassung können die Hände übrigens "quälen" und "töten", aber von Foltern und Auspeitschen ist nicht die Rede. Für die deutsche Befindlichkeit war das wohl doch zu nah an der KZ-Ikonographie.

Hitler’s Children

Der Mörder in Pièges tötet junge Frauen, um die Unreinheit zu bekämpfen. Für Marlow ist das Töten nur ein Nebenprodukt. Er will erschaffen, statt etwas aus der Welt zu schaffen. Als die nach New York transponierte Version des in Versailles enthaupteten Weidmann hat er sich auf Köpfe spezialisiert, aus der Enthauptung gewissermaßen eine schöne Kunst gemacht. Insofern ist Phantom Lady auch ein Horrorfilm - nur dass da eben kein Serienkiller die Schädel seiner Opfer haltbar macht oder als Trophäe an die Wand hängt wie Graf Zaroff in The Most Dangerous Game, sondern aus Stein gemeißelte Köpfe auf einem Podest stehen. Angelica Schwab (Serienkiller in Wirklichkeit und Film) und Thomas Willmann (Booklet zur deutschen DVD-Edition von Phantom Lady) fühlen sich durch die Skulpturen in Marlows Atelier an Arno Breker und Joseph Thorak erinnert, die quasi offiziellen Bildhauer des Dritten Reichs. Anette Kaufmann (Angst Wahn Mord. Von Psycho-Killern und anderen Film-Verrückten) kommt zum gegenteiligen Ergebnis und interpretiert die Skulpturen als Ausdruck "entarteter" Kunst. Ich würde sagen: Beides ist genauso falsch wie richtig. Eine von Siodmaks großen Stärken ist die Ambiguität. Hier zeigt sich auch, dass es mehr als ein Gimmick ist, wenn der nominelle Star, Franchot Tone, erst in der zweiten Hälfte des Films auftritt, und dann als Mörder. Bis dahin haben wir so viele Figuren getroffen, die auf die eine oder andere Weise eine Mitverantwortung für das düstere Geschehen haben, dass es zu einfach wäre, einen irgendwie verrückten Künstler aus dem Hut zu zaubern (sei er nun der Held der Faschisten oder "entartet"), dem sich die alleinige Schuld zuschieben lässt, damit alle anderen entlastet sind.

Inspektor Temple, der in Lured den "Poetenmörder" jagt, erklärt Charles Baudelaire, dessen Gedichte er nicht versteht, zum größten Irren aller Zeiten. Baudelaire wird nur deshalb nicht verhaftet, weil er schon tot ist. So etwas hat in Hollywood eine lange Tradition. Genie und Wahnsinn, soll man denken, liegen eng nebeneinander, oder sie überlagern sich. In Kansas kam das bestimmt gut an. Auch Von Goghs Selbstporträt mit abgeschnittenem Ohr, das bei Marlow an der Wand hängt, lässt sich so deuten. In einem Film wie Phantom Lady, in dem Hören und Sehen so wichtig sind, ist es aber komplizierter. Das abgeschnittene Ohr könnte die Reaktion auf eine wahnsinnig gewordene Welt sein, die man am liebsten nicht mehr hören würde (so wie Siodmaks Zynismus eine Reaktion auf das ist, was er als zweimal emigrierter Jude wahrnahm). Mehrdeutig ist auch der kopierte Hut, den Carol Richman, die Frau aus dem ländlichen Amerika, einen von Marlows Köpfen auf den Scheitel setzt. Zum einen wird so das Pompöse einer gewissen Art von Monumentalkunst ins Lächerliche gezogen. Zum anderen drückt sich in diesem Akt das totale Unverständnis gegenüber etwas aus, das selbst dann noch von Kreativität und gestalterischem Willen zeugen würde, wenn es eindeutig dem Lager der Faschisten zuzuordnen wäre. Dem Schöpfer der Skulpturen gegenüber ist das unsensibel und respektlos. Dessen ungeachtet überwiegt im Atelier das Faschistoide. Die Kunstwerke werden durch Marlows Rhetorik vom Übermenschen ergänzt.

Ratten in der Wand

Beim Frischmachen entdeckt Carol in einer Schublade den Zettel mit Cliffs Adresse und die Handtasche, die sie in ihrer Rolle als Jeannie dabei hatte (alles wieder sehr freudianisch und eine interessante Variation desselben Motivs in Pièges, wobei die Schublade als Spiegelachse fungiert). Nur der Mörder kann die Gegenstände aus dem Apartment des Drummers mitgenommen haben. Mit einem Schlag hat sich die Stimmung radikal geändert. Aus Jack Marlow, Hendersons bestem Freund, ist ein brutaler Killer geworden, der als der Originalität verpflichteter Künstler auch beim Morden auf Abwechslung achtet: Marcella hat er mit einer Krawatte getötet, Cliff mit einem Schal, und jetzt schickt er sich an, Carol mit einer Fliege zu erdrosseln. Das muss so sein, sagt er, weil Carol dann nicht mehr leidet (eine Art Gnadentod), und weil seinem Genie und seiner Kunst alles andere unterzuordnen ist. Für den Mord an Marcella muss jemand zur Verantwortung gezogen werden. Henderson soll für Marlow auf dem elektrischen Stuhl sterben, weil das Leben eines ordinären Bauingenieurs nichts wert sei im Vergleich zum Leben eines großen Künstlers, der der Welt noch so viel zu geben habe.

Phantom Lady

Wer den Plan durchkreuzen könnte muss auch sterben. Darum hat Marlow den Schlagzeuger ermordet, jetzt will er Carol strangulieren und so weiter und so fort. Marlow tut das nicht für sich, sondern weil er es der Menschheit schuldig ist, sein Werk fortzusetzen. Das kennt man von den Nazis (und ihren Propagandafilmen), wo auch immer große Männer ihre Pflicht dem Rest des Volkes gegenüber erfüllen müssen, Opfer zu bringen sind (am besten von den anderen) und eine kleinliche Bedenkenträgerei zurückzustehen hat, wenn es um das große Ganze geht. Es gibt da übergeordnete Gesichtspunkte, die nur die großen Männer richtig verstehen können (der Führer beispielsweise). Phantom Lady wäre aber kein Film von Robert Siodmak, wenn es so einfach wäre. Die Geschichte spielt in einer Welt, in der nicht mehr klar zwischen Gut und Böse zu unterscheiden ist, weil es zu viele Verbindungen zwischen beiden gibt. Meistens ist das sehr subtil und manchmal - besonders auf der Handlungsebene - auch weniger (Henderson und Marlow schlafen beide mit derselben Frau, Marcella).

Lohnend ist ein Vergleich zwischen Synchronfassung und Original. "Das is’ ja ein ausgesprochen luxuriöses Apartement", sagt Marlow, als er in Cliffs Wohnung kommt. Und im Original: "What a place! One can feel the rats in the wall." Und wie eine von den Ratten in der Wand bringt er Cliff dann um. Von einem wie ihm, dem verrückten Künstler und selbsternannten Übermenschen, kann man das erwarten. Aber danach erfährt Madame Kettisha, die taffe Chefin des Modesalons (stellvertretend für die kommerziell ausgerichtete Gebrauchskunst), dass Miss Payton den Hut kopiert hat. "Payton!", empört sie sich in Zeuge gesucht. "Wie können Sie sich unterstehen!" Im Original klingt das ganz anders, wenn die Dame zischt: "You little rat!" Danach fragt man sich unwillkürlich, was Madame Kettisha mit der armen Frau machen würde, wenn sie könnte, wie sie wollte.

Das Verschwinden der Ratten ist mehr als die Selbstzensur der Adenauerzeit, in der man sich gefälligst gewählt auszudrücken hatte, weil Ordnung und Sauberkeit, die berüchtigten "Sekundärtugenden", hohe Güter waren. Ich erkenne ein ziemlich konsequentes Entfernen von Worten und Konzepten, die unangenehme Assoziationen wecken und den Killer nicht nur mit einer Hutverkäuferin in New York, sondern auch mit dem Kinopublikum im Nachkriegsdeutschland in Verbindung bringen konnten. Man musste nicht Der ewige Jude gesehen haben, um zu wissen, wen die NS-Propaganda mit in der Kloake lebenden Ratten verglichen hatte und was daraus geworden war. Einen Film, der so sehr mit Assoziationen arbeitet wie Phantom Lady, beschädigt man durch solche Eingriffe doppelt. Auch seinen besten Freund, den er über die Klinge springen lassen möchte, weil nun mal einer sterben muss, bringt Marlow über das Abwassersystem in Verbindung mit den Ratten. Henderson sei ein mittelmäßiger Bauingenieur, der in Kloaken und Abwasserrohren arbeite. In der deutschen Fassung bleibt Henderson "ein mittelmäßiger Ingenieur", aber eine Kanalratte ist er keine mehr: "Was kann er schon? Baut Fabriken und Brücken." Mit solchen Dialogsätzen wird der Zusammenhang amputiert. Bevor er seinen Freund zum entbehrlichen Kanalarbeiter erklärt steht Marlow unter einem runden Oberlicht. Visuell korrespondiert das mit den Oberlichtern und den Lichtkreisen der Hochbahn, wo der Barkeeper um ein Haar zu Carols Mörder geworden war, bevor sein Hut in der Gosse landete. Die Kloake und die Ratten, die man braucht, um nachvollziehen zu können, was für ein komplexes Beziehungsgeflecht Siodmak da geknüpft hat, sind in der deutschen Synchronfassung leider nicht mehr drin. Darauf hinzuweisen wäre ein Service gewesen, den deutsche DVD-Anbieter nicht im Programm haben.

Sturz in die Endlosschleife

Für eine der bitterbösen Ironien des Films braucht man ein wenig Vorwissen. Arno Breker, der Bildhauer des Führers, sollte die von Albert Speer, dem Architekten des Führers, neu zu bauende Hauptstadt des Dritten Reichs mit seinen Skulpturen ausgestalten. Marlow ist da schon ein Stück weiter. Er kommt gerade aus Rio de Janeiro zurück, wo er einen großen Auftrag auszuführen hat. Es geht um Stadtgestaltung. Eine der Skulpturen im Atelier sieht aus wie ein im Fieberwahn angefertigter Jesuskopf. Ob er wohl plant, das Wahrzeichen von Rio, die Christusstatue auf dem Corcovado, durch ein neues Kunstwerk zu ersetzen? Wie dem auch sei: Zur Entstehungszeit von Phantom Lady förderte das von Nelson Rockefeller geführte Office of Inter-American Affairs den Kulturaustausch zwischen Nord- und Südamerika, um in Ländern wie Brasilien den Einfluss der Nazis zurückzudrängen (das ist derselbe Rockefeller, der in den Tagträumen der Weidmann-Komplizin Colette Tricot deren Geliebter war). Darum gastiert Estela Monteiro, die Besitzerin des Originalhuts, mit der nicht sehr originellen Chica-Boom-Boom-Revue in New York. Im Gegenzug schicken die US-Amerikaner Jack Marlow, den Übermenschen mit den Naziideen, nach Rio, damit er den Brasilianern ihre Stadt verschönert. Vor seiner Abreise hat er Marcella ermordet, nach seiner Rückkehr musste der Schlagzeuger sterben, und jetzt will er Carol erdrosseln, um endlich nach Rio zurückkehren und den Kulturaustausch weiter vorantreiben zu können. Aber dann kommt doch noch die Polizei und klingelt an der Tür.

Phantom Lady

Carol ist gerettet, Henderson ist es auch, und Marlow entzieht sich der Festnahme, indem er durch ein geschlossenes Fenster springt. Der Fenstersturz war ein Schreckensszenario jener Zeit. In Emigrantenkreisen in Hollywood erzählte man sich Geschichten von Verfolgten des NS-Regimes, die aus dem Fenster in den Tod sprangen, als die Gestapo kam (wie der jüdische Kulturphilosoph Egon Friedell im angeschlossenen Österreich des Jahres 1938) oder die von der Gestapo hinausgeworfen wurden, was dann als gescheiterter Fluchtversuch ausgegeben wurde. Aus Zensurgründen ist das auch die von Inspektor Burgess angebotene Erklärung. Marlow durfte verhaftet, zum Tode verurteilt und hingerichtet werden, aber er durfte sich nicht aus dem Fenster stürzen. Suizid war laut Production Code verboten. Also sehen wir jetzt die zerbrochene Fensterscheibe, durch die Marlow gesprungen ist. Dann sind wir im neuen Büro des rehabilitierten Henderson. Inspektor Burgess erläutert, dass Marlow beim Fluchtversuch vom Fenstersims in den Tod gestürzt ist. Scheinbar wollte er durch die Scheibe auf das Sims springen und wusste nicht, dass man Fenster auch öffnen kann (in der Synchronfassung ist er gesprungen, weil man sich in Deutschland an anderen Dingen störte als in Amerika).

Phantom Lady

Der Fenstersturz bedeutet nicht, dass Marlow ein Regimegegner ist und Burgess von der Gestapo. Da kommt wieder der aggressive Robert Siodmak zum Vorschein, der mit den Tätern kurzen Prozess macht und den Spieß umdreht. Der Übermensch stürzt in den Tod und nicht einer von den "Untermenschen", die so lange entwürdigt und entmenschlicht wurden, bis man sie ohne viel Widerstand ermorden konnte. Vielleicht liegt Marlows Leiche neben dem Hut des Barkeepers, der weggeschaut und geschwiegen hat, statt zu reden. Und Carol Richman? Die Frau, der Henderson so viel zu verdanken hat, wie Inspektor Burgess sagt? Kriegt sie ihr wohlverdientes Happy Ending?

Carol steht am Schluss in einem neuen Büro und ist doch wieder da, wo die Geschichte für sie angefangen hat: neben Hendersons Diktiergerät. Entwickelt wurden diese Geräte übrigens von Thomas Alva Edison, dem Erfinder der Glühbirne, und zwar zur Senkung der Bürokosten. Was der Chef auf die Walze sprach, konnten schlecht bezahlte Angestellte hinterher abtippen. Beworben wurde der Apparat als die ideale Stenotypistin: selbst bei höchster Diktiergeschwindigkeit äußerst präzise, sei er rund um die Uhr arbeitsbereit, gehe nie mit einem Mann aus, sei nie krank oder unzufrieden, und er verlange keine Gehaltserhöhung. Zum problemlosen Abtippen in Großraumbüros hatte jedes Diktiergerät einen Hörschlauch.

Phantom Lady

Aus einem dieser Dinger dringt jetzt wieder Hendersons Stimme wie am Anfang. "Du weißt doch, dass du heute mit mir zu Abend isst", sagt sie. "Und morgen Abend. Und den Abend danach. Und dann: Jeden Abend." An dieser Stelle bleibt der Tonabnehmer an der Walze hängen. Carol scheint überglücklich, während die Stimme die Botschaft in Form einer Endlosschleife wiederholt: "Every night … every night … every night …" Vielleicht wäre Carol doch besser in Wichita geblieben, um auf den Wirbelsturm zu warten, der sie von Kansas in das zauberhafte Land bringt. Für überbordende Glückseligkeit war im filmischen Universum des Robert Siodmak kein Platz. Nicht 1944, als bereits Millionen von Menschen zu Phantomen geworden waren und nicht in den Jahren danach, als man sich verwundert fragte, wie das hatte passieren können.