Zwischen Schädelstätte und Endlosschleife

Seite 2: Nachtseite des Lebens

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Es ist noch immer heiß in New York. Scott Henderson wartet auf seine Hinrichtung, und der Barkeeper ist mit den Nerven fertig, weil täglich diese Frau da sitzt und ihn unablässig anschaut. Weil die Zahl 3 den Film strukturiert, wird sein Martyrium drei Tage dauern, so wie wir drei Tage des Prozesses gegen Henderson gesehen haben (und so wie drei tote Frauen in Fleurys Garten vergraben waren). Am Ende des dritten Tages ist Carol plötzlich verschwunden, als wäre sie selbst das Phantom im Titel. Aber nicht für lange. Die Szene hat man hundertmal gesehen. Eine Frau geht nachts durch dunkle, regennasse Straßen. Hinter ihr geht ein Mann, der sie verfolgt und sie vergewaltigen oder töten wird, wenn nicht im letzten Moment ein Retter kommt. Siodmak dreht das um, vollzieht einen Rollentausch, der für einen Hollywoodfilm der 1940er extrem ungewöhnlich und darum so wirkungsvoll ist. Der Barkeeper geht nach Hause und hört hinter sich das Klappern von Carols Stöckelschuhen, die ihn verfolgt. Das Wild hat sich in eine Jägerin verwandelt, aus dem Jäger ist der Gejagte geworden.

Phantom Lady

Form und Inhalt ergänzen sich in Phantom Lady perfekt. Inzwischen sind wir tief in die Film-noir-Welt eingedrungen, befinden wir uns in einer Umgebung, wo das Atmosphärische, die Stilisierung und die urbane Verunsicherung dominieren (das New York des Films wurde in Hollywood nachgebaut, kostengünstig und auf das Nötigste reduziert, was Siodmaks Hang zur Abstraktion entgegenkam). Phantom Lady hat etwas Phantastisches und zugleich, bei aller Stilisierung, etwas sehr Realistisches. Diese Mischung macht die albtraumhafte Qualität des Films aus. Man kann das gut an den Bildkompositionen des Kameramannes Woody Bredell sehen. Siodmak hätte gern wieder mit Eugen Schüfftan zusammengearbeitet wie schon in Deutschland (Menschen am Sonntag) und in Frankreich (Mollenard), was daran scheiterte, dass es Schüfftan nicht gelang, in die Gewerkschaft der Kameraleute aufgenommen zu werden (ohne Mitgliedschaft in der ASC konnte er höchstens als Berater tätig sein, und auch das nur mit Schwierigkeiten). Also tat Siodmak das Nächstbeste. Er bestand auf Bredell, der bei Filmen wie Sherlock Holmes and the Voice of Terror gezeigt hatte, was er mit Licht und Schatten anstellen konnte und erzählte ihm von Schüfftans ästhetischen Konzepten. Bredell, schreibt Siodmak in seiner Autobiographie, studierte dann das Hell-Dunkel in den Gemälden des von Schüfftan verehrten Rembrandt.

Phantom Lady

Manches in Phantom Lady könnte tatsächlich von Schüfftan sein. Er und Bredell verstanden es, Räume zu öffnen, indem sie von den Rändern her Licht in eine Einstellung fallen ließen und so die Kadrierung aufbrachen. Beide schufen kontrastreiche Bildkompositionen, in denen Hell und Dunkel genau austariert und die von den dunklen Bereichen her gedacht sind, was sie so rätselhaft macht (siehe dazu auch Karl Prümms Essay in Siodmak Bros., dem Buch zur Retrospektive der Berlinale). Bei vielen Kameramännern und Regisseuren galt ein diffuses, in Grautönen zerfließendes Licht als irgendwie geheimnisvoll und deshalb gut geeignet für Kriminalfilme. Bei Schüfftan, Bredell und Siodmak sind Hell und Dunkel klar voneinander abgegrenzt. Die Lichtsetzung hat eine erzählerische Funktion. Ein Schritt genügt, um - je nachdem - ins Licht zu gehen oder in der Dunkelheit zu verschwinden, vom Täter zum Opfer zu werden oder umgekehrt. So tritt der paradox erscheinende Fall ein, dass der harte Kontrast das Gegenteil einer manichäischen, scharf zwischen Gut und Böse, Schwarz und Weiß trennenden Weltsicht kennzeichnet.

Phantom Lady

Siodmak braucht keine Stimmungsmusik, um Atmosphäre zu erzeugen. Ihm genügen Bilder, Töne, die Montage, die Anordnung der Figuren im Raum. Musik gibt es nur, wenn es im Film eine Quelle dafür gibt, die Jukebox im "Anselmo’s" beispielsweise. Hier unterscheidet sich auch Bredell von Schüfftan, bei dem das Licht etwas Künstliches und mitunter fast Übernatürliches hat, für helle Akzente im Dunkeln sorgt, ohne dass wir immer wüssten, woher es kommt. In Phantom Lady wird man kein Licht ohne Quelle finden. Der Film gewinnt dadurch an Robustheit, obwohl wir mit Phantomen auf der Nachtseite des Lebens unterwegs sind.

Hut in der Gosse

Carol folgt dem Barkeeper zu einer Haltestelle der Hochbahn. Die beiden warten auf den nächsten Zug. Oberlichter werfen helle Kreise auf den Boden. Carol steht am Bahnsteigrand. Der Barkeeper nähert sich. Er wird sie fragen, warum sie ihn verfolgt, denkt man sich, was sie von ihm will? Stattdessen tritt er hinter ihr in einen der Kreise, blickt sich um. Wir teilen seine Perspektive, sehen ein Ausgangs- und ein Eingangsschild, schwarz umränderte Lichtkreise. Außer diesen beiden ist da kein Mensch. Das ist eine günstige Gelegenheit, sich die Frau vom Hals zu schaffen. Der Barkeeper macht einen Schritt nach vorne. Der Zug ist zu hören. Das ist so gruselig, weil jetzt nur noch der zweite Schritt fehlt, dann wird dieser New Yorker Durchschnittsbürger zum Mörder werden. Gleich wird er seine Verfolgerin vor den einfahrenden Zug stoßen, um sie endlich loszuwerden. Im letzten Moment hört er ein Geldstück fallen. Eine Frau hat das Fahrgeld eingeworfen, um Zugang zum Bahnsteig zu erhalten. Der Augenblick, der zwischen Tod und Leben entscheidet, ist vorüber. Der Zug fährt ein. Auf den Bahnsteig und die drei Leute dort fallen die Lichter aus den erleuchteten Fenstern. Sie sind rechteckig wie die Kader auf dem Filmstreifen, der durch den Projektor läuft und nun weiter Carols Geschichte transportiert - eine Geschichte, die kurz davor war, abrupt zu enden.

Phantom Lady

Zeitsprung. Der Zug, der nur aus Licht, Schatten und Geräuschen besteht, fährt wieder an. Der Barkeeper ist ausgestiegen, geht zu seiner Wohnung. Carol folgt ihm. Pfützen aus Licht auf den Straßen. Der Regen hat keine Abkühlung gebracht. Die Anwohner hat die Hitze in den Zimmern ins Freie getrieben, sie sitzen auf den Stufen vor den Hauseingängen. Gewalt liegt in der schwülen Luft. Carol hat den Barkeeper aus den Augen verloren. Plötzlich tritt er ihr entgegen und fragt, worauf wir seit Minuten warten: "Was wollen Sie von mir?" Carol gibt keine Antwort, und das ist auch nicht nötig, denn er weiß es längst. "Sie vergeuden Ihre Zeit", sagt er. "Sie wissen, was mit ihm passieren wird", erwidert Carol. "Sie können es verhindern. Sie wollen das doch nicht auf dem Gewissen haben." Das ist das große Thema des Films. Menschen sind in Gefahr, ihr Leben zu verlieren, und andere, die es verhindern könnten, tun nichts dagegen. Estela Monteiro, der Revuestar, kann aus Eitelkeit (eine der sieben Todsünden, wie auch Nicht-Katholiken seit David Finchers Seven wissen) nicht zugeben, dass sie die Frau mit dem Duplikat ihres Designerhuts gesehen hat. Inspektor Burgess macht nur seine Arbeit, was sicher auch der Karriere nützt, und erklärt den Rest zur Sache des Staatsanwalts. Jeder hat seine Gründe, und es gibt immer einen, dem sich die Verantwortung zuschieben lässt.

Phantom Lady

Beim Barkeeper war es die Gier. Er hat der Polizei gegenüber angegeben, sich nicht an Hendersons Zufallsbekanntschaft, die Frau mit Hut, erinnern zu können, weil er mit etwas Geld bestochen wurde. "Ich sage nichts", blafft er Carol an. "Sie haben nichts gegen mich in der Hand, verstehen Sie. Nichts. Wenn Sie was herausfinden wollen, dann fragen Sie den Kerl, der es mir gegeben hat." Inzwischen stehen ein paar Männer dabei, die glauben, dass der Barkeeper die junge Frau belästigt und von ihr gebeten werden, sich nicht einzumischen. Die Stimmung ist gereizt. "Wer hat Sie bestochen?", will Carol wissen. Der Barkeeper geht auf sie los, die Umstehenden greifen ein, es gibt ein Gerangel. Das ist typisch Siodmak: Wenn doch einer hilft ist es garantiert nicht der weiße Ritter, und man weiß nicht genau, ob die Hilfe mehr der Frau in Not gilt oder primär dem Aggressionsabbau dient. Der Barkeeper läuft aus der Einstellung, im Off kommt ein Auto (wieder auf Geräusche reduziert wie zuvor der Zug), nun wird der Mann selbst überfahren, wie er es Carol zugedacht hatte. Sein Hut fliegt in die Einstellung zurück, bleibt in der Gosse liegen. Siodmak-Filme können von einer schneidenden, an Zynismus grenzenden Ironie sein. Bevor man ihm das vorwirft sollte man bedenken, in was für einer zynischen Welt er lebte - als jüdischer Emigrant, der zweimal ein Land verlassen und wieder von vorn anfangen musste, um nicht von den Nazis ermordet zu werden.

Phantom Lady

Was macht das nun aus Carol ("Kansas"), die den Barkeeper in den Tod getrieben hat? Ist sie doch nicht die Unschuld vom Lande, sondern die böse Hexe mit dem schwarzen Hut (The Wizard of Oz)? Ein Todesengel? Beim Katholiken Alfred Hitchcock könnten wir hier an das Motiv der Schuldübertragung denken, das Eric Rohmer und Claude Chabrol als ein zentrales Anliegen seines Schaffens herausgefiltert haben. Am Ende der Verfolgungsjagd in Saboteur stürzt der deutsche Agent von der Freiheitsstatue in die Tiefe, und verantwortlich dafür ist auch der Held, der ihn dort hinauf getrieben hat und befleckt wieder herunter kommt. Siodmak hat ähnliche Themen, kommt aber zu anderen Ergebnissen. Sein Kino ist von einer nicht zu unterschätzenden Aggressivität. Er hegt große Sympathie für die "kleinen Leute" und für die in einer auf Stars fixierten Industrie oft übersehenen Nebendarsteller, nicht aber für Personen, die das Unglück unschuldiger Menschen billigend in Kauf nehmen, die wegschauen und vergessen, weil sie einen Vorteil davon haben. Wenn von diesem Barkeeper nur ein alter Hut in der Gosse übrig bleibt, sagt der Film, dann hat er sich das selber zuzuschreiben. In der Adenauerzeit, als Siodmak nach Deutschland zurückkehrte, machte er lächelnd bei dem Schmierentheater mit, das damals in der deutschen Presse aufgeführt wurde. Gegeben wurde das Stück vom Weltenbummler, der 1933 einen langen Urlaub angetreten hatte, aus Reiselust nach Paris und Hollywood gefahren und jetzt, als berühmter Regisseur, wieder da war, als sei weiter nichts gewesen. Der Hut in der Gosse gibt Aufschluss darüber, was Siodmak wirklich dachte.