Zwischen Schädelstätte und Endlosschleife

Seite 4: Mysterien einer Handtasche

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Cliff also verausgabt sich mit den Drumsticks, um dann mit "Jeannie" in seine versiffte Wohnung zu gehen, wo er mit ihr schlafen (auf der einen Ebene) oder sich (auf der anderen Ebene) postkoital entspannen will. Das ist ein schönes Beispiel für den Siodmak’schen Witz, der nie demonstrativ oder gar auftrumpfend und doch immer vorhanden (und mitunter sehr böse) ist. Wie bereits festgestellt sind wir mit Scott Henderson in einen Albtraum gefahren, als dieser in das Taxi von Al Alp stieg, und genau genommen sogar in einen doppelten, denn Henderson ist inzwischen selbst nicht mehr sicher, ob er die Frau mit dem komischen Hut wirklich gesehen oder sie nur geträumt hat. Ein anerkannter Führer durch die Traumwelt und die dort versteckte Sexualsymbolik ist Sigmund Freud, zu dessen Lektüre schon der Kommissar in Pièges geraten hat. Bei Freud finden sich interessante Einsichten in den Zusammenhang zwischen Handtaschen und Vaginas (Hitchcock hat das auch gelesen, vgl. etwa die Handtaschen in Marnie oder in The Birds).

Carol hat in ihrer Rolle als Hure Jeannie eine Handtasche dabei, die - nicht nur berufsbedingt - mit einem großen J markiert ist, damit man sie nicht übersieht. Wer das alles für übertrieben oder die schmutzige Phantasie des Verfassers hält: Das vom Herrscher über den Production Code, dem Superkatholiken Joe Breen gegängelte Hollywood beschäftigte Autoren wie den späteren Nobelpreisträger William Faulkner, die auf Szenen und Dialoge spezialisiert waren, die so mit sexueller Bedeutung aufgeladen sind, dass keine Fragen offen bleiben. Man studiere dazu To Have and Have Not (Lauren Bacall und Humphrey Bogart zünden eine Zigarette an) und The Big Sleep (Bogart und Bacall tauschen sich über Pferde und die richtige Gestaltung eines Rennens aus).

Phantom Lady

Unter dem Einfluss des Alkohols, der bei der Jam Session noch stimulierend wirkte, ist Cliff merklich erschlafft. Entsprechend ungelenk geht er zu Werke, als er Jeannie küssen und befingern will. Beim Versuch, in ihre Handtasche einzudringen (um bei der freudianischen Sexualsymbolik zu bleiben) stellt er fest, dass er schon drin ist. Beim Griff nach einer Zigarette fällt die Handtasche zu Boden und ein Zettel dabei heraus, auf dem Inspektor Burgess vom Morddezernat Cliffs Namen, Adresse, Alter und Beruf notiert hat. Der alkoholisierte Schlagzeuger ist erbost, weil er nicht weiß, was das bedeuten soll. Beim folgenden Handgemenge geht das Licht aus. Während Cliff nach einem Streichholz tastet und sich der psychoanalytisch vorgebildete Zuschauer fragen mag, ob wir jetzt alle in einer geschlossenen Handtasche gelandet sind (laut Dr. Freud das Symbol für eine vagina fermata), ergreift Carol die Gelegenheit zur Flucht. Vorher hat sie noch erfahren, dass Cliff sich sehr wohl an die Frau mit Hut erinnert, aber von einem Unbekannten 500 Dollar Schweigegeld erhalten hat. Dafür soll er behaupten, die Frau, die Hendersons Alibi bestätigen kann, nie gesehen zu haben. Ob Zufall oder nicht: 500 Dollar betrug das Lösegeld, das Eugen Weidmann von den Angehörigen der verschwundenen Jean de Koven forderte. In Phantom Lady zahlt der Mörder 500 Dollar dafür, dass die verschwundene Frau mit Hut ein Phantom bleibt.

Starauftritt

Mittlerweile ist mehr als die Hälfte des Films vorbei und man darf kurz darüber nachdenken, wer eigentlich die Hauptfigur von Phantom Lady ist? Die Phantomfrau des Titels kann es nicht sein, denn sie haben wir nicht mehr gesehen, seit sie sich vor Anselmos Bar von Henderson verabschiedet hat. Henderson ist es auch nicht, weil er schon seit geraumer Zeit im Gefängnis sitzt, bei seinem Prozess schlicht nicht gezeigt wurde und im Knast auf Besucher hoffen muss, um überhaupt noch präsent zu sein. Innerhalb des streng hierarchisch organisierten Starsystems von Hollywood ist die Antwort normalerweise klar. Der Star ist die Hauptfigur, und der Star ist der, der auf der Besetzungsliste und im Vorspann ganz oben steht. Bei Phantom Lady ist das der von der MGM ausgeliehene und dort vorwiegend als Playboy oder blasierter Liebhaber eigenwilliger Frauen besetzte Franchot Tone. Er war bis jetzt noch gar nicht im Bild zu sehen. Das wird sich nun ändern.

Phantom Lady

Der heimliche Star des Films ist natürlich - als würdige Nachfolgerin von Marie Déa in Pièges - die tolle Ella Raines, die von der Regie auch so behandelt wird. Ihre Flucht aus dem Haus mit Cliffs Apartment hat Siodmak mit der ihm eigenen Ironie inszeniert. Carol rennt die Treppe hinunter, zur Tür hinaus und auf die andere Straßenseite, als sei es höchste Zeit, dass sie sich endlich an den Rand der Geschichte begibt und den Platz im Zentrum der Handlung für den räumt, dem er den Hollywood-Gesetzen nach zusteht. Denn jetzt hat der nominelle Star seinen ersten Auftritt, Franchot Tone. Das Problem daran ist nur: Der Star ist auch der Mörder. Anderthalb Jahrzehnte vor Psycho wartete Phantom Lady mit der gleichen Überraschung auf, mit der später Hitchcock dem von Hollywood konditionierten, nach Identifikationsfiguren gierenden Zuschauer den Boden unter den Füßen wegzog, nur umgekehrt. In Psycho wird Janet Leigh, der Star des Films, urplötzlich und völlig unerwartet umgebracht. Der Star von Phantom Lady ist Täter und nicht Opfer. Franchot Tone nimmt jetzt seinen Schal ab, um den Drummer zu erdrosseln wie vorher Marcella Henderson, weil Cliff trotz der 500 Dolar geredet und nicht geschwiegen hat. Der Schatten des Mörders fällt auf sein Opfer wie der von Peter Lorre auf das Fahndungsplakat mit der Belohnung in Fritz Langs M, oder der Schatten Nosferatus auf Hutter. Als Carol mit dem inzwischen alarmierten Inspektor Burgess in die Wohnung zurückkehrt finden die beiden nur noch eine Leiche vor.

Phantom Lady

Marlows Hände

Inzwischen sind es noch 16 Tage bis zur Hinrichtung. Carol besucht Henderson im Gefängnis. Das ist wieder eine dieser extrem stilisierten Szenen, wo die Kameraarbeit die Kulissen ersetzt. Licht, Schatten, ein paar Studiowände und ein Geländer wie beim Einlass zu einer Großveranstaltung, mehr braucht man nicht (Henderson hat zugenommen wie eine gemästete Gans vor der Schlachtung, sagt er). Durch ein Fenster fällt das Licht der Sonne, dessen positive Konnotationen durch die vom Licht erzeugten Schatten der Gitterstäbe gleich wieder relativiert werden. Carol kriegt von Bredells Kamera das volle Hollywood-Star-Treatment, um klarzustellen, dass sie hier die Hauptfigur ist und nicht ihr Chef. Wäre Henderson ein etwas besserer Beobachter, würde er allmählich merken, dass die Frau ihn liebt. Dann erscheint Hendersons Freund in diesem abstraktesten aller Besucherräume, Jack Marlow, der in Woolrichs Roman Lombard heißt. Inszeniert wird sein Auftritt als der einer Lichtgestalt, als des Retters in der Not. Aber das ist genauso ironisch zu verstehen wie die Entscheidung, ihm den Namen von Raymond Chandlers Privatdetektiv Philip Marlowe zu geben (ohne das e), oder auch jenes Marlow, der bei Joseph Conrad von Kurtz und einer Reise ins Herz der Finsternis erzählt. Mit seinem dunklen Trenchcoat und dunklen Hut ist Jack Marlow mehr Todesengel als weißer Ritter. Gespielt wird er von Franchot Tone. Hendersons bester Freund war auch der Liebhaber seiner Frau Marcella, und er ist ihr Mörder.

Phantom Lady

Die Meinungen über Tones schauspielerische Leistung gehen weit auseinander. Manche finden sie grandios, andere sehen einen Darsteller, der von der für ihn neuen Rolle des Mörders überfordert war und erfolglos versuchte, sich in einen exhibitionistischen Manierismus zu retten. Siodmak erzählt in seinen Memoiren die Anekdote, dass Tone sich einen nervösen Tick zurechtgelegt und mit dem rechten Augenlid geblinzelt habe, wenn Marlow einen Mordimpuls verspürte. Bei Probevorführungen habe das Publikum darüber gelacht, und er, Siodmak, habe den nervösen Tick so weit herausgeschnitten, dass er nicht mehr auffiel. Das kann man ihm glauben, man muss es aber nicht. Tone als Marlow hat ein klar erkennbares Vorbild aus den 1920ern: Conrad Veidt in Orlacs Hände, einem für das outrierte Spiel der Akteure berühmten (oder doch berüchtigten?) Stummfilm des Caligari-Regisseurs Robert Wiene. Siodmak hätte das beim Drehen verhindert statt am Schneidetisch nachzubessern, wenn er es nicht so hätte haben wollen.

Phantom Lady

Veidt spielt in Orlacs Hände einen Konzertpianisten, der bei einem Eisenbahnunglück beide Hände verliert. Ihm werden neue transplantiert, und danach erfährt er, dass es die Hände eines hingerichteten Mörders sind. Fortan wird er von der in den Wahnsinn mündenden Angst geplagt, dass die Hände ein Eigenleben führen und wieder morden könnten. Phantom Lady knüpft daran an (nur ohne die Transplantation, das war mehr das Gebiet von Siodmaks Bruder Curt). Sollte das Übertriebene in Gestik und Mimik tatsächlich eine Eigeninitiative von Franchot Tone gewesen sein, gab sich Woody Bredell erstaunlich viel Mühe, in der Szene, in der Marlow den Schlagzeuger tötet, die Hände des Mörders durch Perspektive und Lichtsetzung wie eigenständige Wesen erscheinen zu lassen, die Marlow im Rest des Films immer wieder verwundert mustern wird, als sei er sich nicht sicher, ob das Teile seines Körpers sind.

Einmal sitzen Marlow und Inspektor Burgess in der Garderobe von Estela Monteiro, des Stars der Chica-Boom-Boom-Revue. Der Mörder, sagt der Inspektor, sei ein schizophrener Paranoiker wie Jack the Ripper oder Landru (der Frauenmörder, in dessen Zelle dann der vom selben Anwalt verteidigte und wie Landru enthauptete Eugen Weidmann saß). Leute wie Marlow könnten es nicht sein, weil sie zu normal seien. Marlow ist dabei zwei- oder dreifach zu sehen, weil der Garderobenspiegel mehrere Flügel hat. Tone führt die nun schon gewohnten Manierismen vor, knetet die Hände oder legt eine Hand auf sein Auge, weil in Marlows Kopf ein schier unerträglicher Schmerz pocht, ohne dass der Inspektor etwas bemerken oder gar seine Schlüsse daraus ziehen würde. Während Burgess darüber räsoniert, dass man einen Mörder nicht an seinem Aussehen erkennen kann (eine Beobachtung, die viele Kommentatoren beunruhigte, als in Eugen Weidmann ein adretter, attraktiver und charmanter junger Mann als Serienkiller vor Gericht stand), inspiziert Marlow fragend sein Spiegelbild. Einen Moment lang huscht ein Lächeln um seine Mundwinkel.

Phantom Lady

Ich glaube schon, dass Siodmak das so haben wollte. In Phantom Lady tauchen andauernd Leute auf, die andere nur noch in Form des bezahlten Fahrgelds (der Taxifahrer), der bestellten Getränke (der Barkeeper) oder eines komischen Huts auf dem Kopf (Henderson) wahrnehmen und einen Killer selbst dann nicht erkennen würden, wenn er sich so benehmen würde, wie man sich das vorstellt - so wie Conrad Veidt in Orlacs Hände beispielsweise. Die Bühnengarderobe ist für die Jekyll-und-Hyde-Szene des Films reserviert. Vor dem Spiegel verwandelt sich der brave Bürger in den Mörder mit den schwer zu kontrollierenden Händen und der zuckenden Augenbraue, und der Inspektor würde das vielleicht sogar erkennen, wenn er hinschauen würde. Als er es doch noch tut sitzt da wieder der ehrbare Gentleman.

Nie wieder Kansas

Der als vermeintlicher Retter in der Not aufgetauchte Marlow empfiehlt Carol, die Suche nach der Frau mit Hut ihm zu überlassen und zur Erholung nach Kansas zu fahren, in ihre Heimatstadt Wichita. Das Motiv für die vorgetäuschte Besorgnis ist klar: Carol soll die Suche einstellen, bevor sie eine Spur findet, die zu Marlow führen könnte, dem wahren Mörder. Zugleich wird Marlow zum Sprachrohr von Chauvis und Hollywood-Traditionalisten, was diesen nicht gefallen kann. Mörderjagd ist Männersache, sagt er, und so sahen das auch unzählige Produzenten, Regisseure und Autoren. Siodmak ist anderer Meinung, und wahrscheinlich sollte man hier auch seiner Produzentin Joan Harrison einen Einfluss attestieren, denn Phantom Lady geht kritischer mit den männlich dominierten Hollywood-Plots um wie jeder andere Siodmak-Film.

Der klassische Held ist aktiv und definiert sich dadurch, dass er sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt. Henderson, anfangs als Held angeboten, sitzt in der Todeszelle und ist zur Untätigkeit verdammt. Dann betritt ein neuer potentieller Held die Bühne, aber diese Möglichkeit wird gleich ad absurdum geführt, weil wir ihn schon als Mörder kennengelernt haben, als wir noch gar nicht wussten, dass das Jack Marlow ist, der beste Freund. Als männlicher Held ist er auch deshalb disqualifiziert, weil er unter Kopfschmerzen und Ohnmachtsanfällen leidet (in Filmen ist die Migräne ein typisches Frauenleiden, und die Ohnmacht sowieso). Bliebe noch, den Spätankömmling umgehend wieder auszugrenzen, aber das ist kompliziert. Henderson und Marlow sind spiegelbildlich angelegte Charaktere. Der eine ist unschuldig und im Gefängnis, der andere schuldig und in Freiheit. Der eine war mit Marcella verheiratet, der andere ihr Liebhaber. Der eine wollte sich von Marcella scheiden lassen (was sie verweigerte), der andere hat sie umgebracht, weil sie nicht mit ihm durchbrennen wollte. Freud würde nicht lange brauchen, um auf die Idee zu kommen, dass hier der eine den Mord des anderen begangen haben könnte (wie in Hitchcocks Strangers on a Train).

Phantom Lady

Den Gedanken, dass Carol zurück nach Kansas gehen könnte, haben wir schon mal gehört, bei ihrem ersten Besuch in der Haftanstalt. Henderson, soeben verurteilt, befindet sich im Untersuchungsgefängnis, und weil er dem Tod noch nicht so nah ist wie in der zweiten Besuchsszene, 18 Tage vor der Hinrichtung, gibt es ein paar Kulissen mehr und weniger Abstraktion als später. Henderson hat kein Geld und keine Kunden mehr, sein Ingenieursbüro ist geschlossen. Beim Abschied fragt er Carol, ob sie jetzt nach Kansas zurückkehren wird. Warum sollte sie? Weil sie nur von Wichita nach New York gekommen ist, um für Mr. Scott Henderson zu arbeiten? Weil es nur Hendersons Firma gibt und sonst keine? In Phantom Lady eingebaute Widerhaken wie dieser lassen fragen, ob der Mann, der sich nur noch an den "komischen Hut" der Frau erinnert, mit der er einen ganzen Abend verbracht hat, ein recht selbstzentrierter Mensch sein könnte. Über Marcella, seine tote Gattin, erfahren wir von ihm und Marlow nur Negatives. Aber wir begegnen ihr als Bild an der Wand und als Leiche im Off, und Phantom Lady ist ein Film, in dem erhöhte Vorsicht geboten ist, wenn sich das gesprochene Wort nicht am lebenden Objekt überprüfen lässt. Marcella, vom Schild an der Wohnungstür als "Mrs. Scott Henderson" ausgewiesen, könnte womöglich eine ganz andere Geschichte erzählen, wenn sie denn noch leben würde. Das Drehbuch ist genau gearbeitet. In der ersten Gefängnisszene sprechen Henderson und Carol über Marlow, der sie nach der zweiten Gefängnisszene zurück nach Kansas schicken will wie Henderson in der ersten.

Kunst, Kommerz und Menschlichkeit

Carol lässt sich nicht nach Hause schicken, und also suchen sie und Jack Marlow jetzt gemeinsam nach der Frau mit Hut. Die letzte Hoffnung ist Estela Monteiro, die in der Bühnenshow dasselbe Modell auf dem Kopf hatte, dies aber aus Eitelkeit nicht zugeben will. Der Name auf einer ihrer Hutschachteln führt Carol und Jack zu "Kettisha", einem Hutsalon für gehobene Ansprüche. Das flamboyante Gegenstück dazu ist Pears, der verrückte Modeschöpfer in Pièges. Pears hat ein mentales Problem, seit ein Konkurrent eines seiner Modelle kopiert und er sich unsterblich blamiert hat. Seither fühlt er sich von Spionen und Raubkopierern verfolgt. Adrienne antwortet auf seine Kleinanzeige und wird nach einem konspirativen Treffen in den Modesalon vorgelassen, wo sie Pears’ neueste Kreationen vorführen soll. Die Modenschau findet aber vor leeren Stühlen statt, die Kundschaft existiert nur noch im Kopf des aus der geistigen Balance geratenen Couturiers. Als Pears auch Adrienne verdächtigt, eine von den Spionen und Nachmachern zu sein, verliert er vollends die Contenance, zündet seine Modelle an und fackelt das Haus ab. Erich von Stroheim, der für seine Regieextravaganzen berüchtigte Verfechter der reinen Filmkunst, ist für diese bizarre Episode die Idealbesetzung.

Pièges

Was man beim Sehen von Pièges schon ahnen kann, wird durch Phantom Lady zur Gewissheit: die heimliche Sympathie von Robert Siodmak, dem anpassungsfähigen Zyniker, gehört Pears, dem König der Exzentriker. Pears lebt so sehr für seine Kunst und deren Originalität, dass er darüber den Verstand verliert. Madame Kettisha hingegen, die amerikanische Variante, ist eine knallharte Geschäftsfrau (es ist erlaubt, hier an die Filmindustrie in Hollywood zu denken), die sich von den bei ihr angestellten Kreativen die Entwürfe machen lässt und der die Füße wehtun, weil sie beim Verkauf von neuen Hüten an alte Frauen (man kombiniere: alter Hut) so viel stehen muss. Wie vorher im Theater, bei der Feier nach der letzten Vorstellung von Chica Boom Boom, wirft Siodmak einen Blick hinter die Kulissen der Inszenierung. Madame Kettisha führt da ein strenges Regiment.

Nachdem Carol den Entwurf zum verschwundenen Hut identifiziert hat, muss Miss Payton zum Rapport erscheinen. Gespielt wird sie von Victoria Horne, der Spezialistin für graue Mäuse (in Mein Freund Harvey ist sie die sexuell frustrierte Nichte von Elwood P. Dowd alias James Stewart). Inhaltsangaben zum Film gehen schnell über sie hinweg, weil uns das von Hollywood etablierte Geschäftsmodell, das Starsystem, darauf konditioniert hat, nur nach denen Ausschau zu halten, die auf der Besetzungsliste weit oben stehen. Dabei hat Siodmak, der Freund der unscheinbaren Nebenfiguren, in Gestalt von Miss Payton den kleinen Leuten ein Denkmal gesetzt, die im entscheidenden Moment ihren Mut zusammennehmen und das Richtige tun. Diese Frau hat schon so oft den Kopf eingezogen, dass sie nicht mehr aufrecht gehen kann. Sie versichert, nichts von einer Kopie des von ihr für Monteiro angefertigten Huts zu wissen, obwohl Carol ihr gesagt hat, dass das Leben eines Menschen davon abhängt. Dann darf sie wieder gehen. Für Scott Henderson könnte es das gewesen sein, wenn Payton nicht nach einer kurzen Nachdenkpause zurück in das Büro der strengen Chefin kommen würde.

Phantom Lady

Das ist nicht glamourös und betont schlicht inszeniert und doch ein großer Auftritt. Bisher ist Carol Leuten begegnet, die wegen Geld oder aus Eitelkeit gelogen haben und weggeschaut und die alle eine Mitschuld am Tod Hendersons hätten, wenn er auf dem elektrischen Stuhl sterben müsste. Da es um ein Menschenleben geht gibt Payton jetzt zu, den Hut für eine andere Kundin kopiert zu haben. Dafür hat sie 50 Dollar erhalten. Im Hintergrund kämpft Marlow, der dem Barkeeper und dem Schlagzeuger 500 Dollar dafür bezahlt hat, dass sie den Hut vergessen, mit seiner zuckenden Augenbraue. Die Moral steckt in der Handlung. Vom Barkeeper ist nur ein in der Gosse liegender Hut geblieben, und den Schlagzeuger hat Marlow mit einem Schal erdrosselt. Miss Payton muss jetzt den Zorn von Madame Kettisha aushalten und wird wohl ihren Job verlieren, aber nicht das Leben. Trotzdem muss sie einen Preis bezahlen, denn kopieren tut man nicht, sagt der Film. Siodmak konnte da noch nicht ahnen, dass Hollywood (mit Lured) bald Pièges nachmachen würde wie Miss Payton diesen Hut.