Zwischen Schädelstätte und Endlosschleife

Pièges

Phantome, verschwundene Hüte und Enthauptungen: Teil 3

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Teil 2: Hinrichtung in Versailles

Einen Tag vor dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen und dem damit beginnenden Zweiten Weltkrieg, am 31. August 1939, bestieg Robert Siodmak, der Sohn jüdischer Eltern aus Dresden, mit seiner Frau Bertha (geborene Odenheimer) in Le Havre ein Schiff nach New York. Das war eine gute Idee, weil die Nazis, deretwegen die beiden im April 1933 nach Frankreich emigriert waren, nun bald in Paris sein würden. Mit im Gepäck hatten sie Pièges, den Film, den Robert zwischen der Verkündung des Todesurteils gegen den deutschen Serienmörder Eugen Weidmann und dessen Enthauptung in den Joinville Studios bei Paris gedreht hatte. 1940, als die Siodmaks schon in Hollywood waren, konnten sie Berichte darüber lesen, dass die Ateliers in Joinville-le-Pont als Folge von Kampfhandlungen zum großen Teil ausgebrannt waren. Spätestens da dürften sie gewusst haben, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatten.

Mit Moral und Chevalier und ohne Charme

Der Entschluss der Siodmaks, ihr Glück in den USA zu versuchen, mag damit zu tun gehabt haben, dass die Lage für Deutsche in Frankreich immer schwieriger wurde, auch wenn sie Gegner des NS-Regimes und Antifaschisten waren - und manchmal gerade deswegen. In Teilen der französischen Gesellschaft waren die Emigranten extrem unerwünscht. Pièges, mit dem Maurice Chevalier nach längerer Absenz auf die Leinwand zurückkehrte, lief zu Weihnachten 1939 in den Kinos an (Premiere war am 14. Dezember). Deborah Lazaroff Alpi schreibt in ihrer Siodmak-Biographie, dass der Krimi auf den für die Provinz bestimmten Plakaten als "Ein Film von Companéez und Neuville" (die Drehbuchautoren) beworben wurde, ohne Nennung des deutschen Regisseurs; das ist nicht ohne Ironie, weil der in der Ukraine geborene Jacques Companéez, der Sohn eines jüdischen Emigranten, in Deutschland als Dialogautor angefangen hatte, bevor er vor den Nazis nach Frankreich geflohen war und "Ernest Neuville" eigentlich Ernst Neubach hieß. Von Neubach, einem Österreicher jüdischer Abstammung und dem Verfasser von Schlagertexten wie "Heut’ ist der schönste Tag in meinem Leben", stammt auch die Idee zu Siodmaks Der Mann, der seinen Mörder sucht (mit ein wenig Unterstützung von Jules Verne - siehe Die Leiden eines Chinesen in China). Wahrscheinlich wird auf einem der Plakate außer den Darstellern nur noch der Dialogautor Simon Gantillon namentlich erwähnt (der war wirklich ein Franzose), weil das jemand gemerkt hatte. Auch Erich von Stroheim ist entfernt.

Der Kritiker der Action française (29.12.1939) lamentierte in seinem Verriss darüber, dass Ausländer wie Siodmak und Erich von Stroheim mehr Geld verdienten als heimische Talente und jetzt auch noch den Publikumsliebling Chevalier in einen Film gelockt hätten, in dem er auf schlimme Weise abgestürzt sei. Die Zeitung L’Action française war das Sprachrohr der gleichnamigen Organisation, in der sich deutschfeindliche Nationalisten, Royalisten, Antisemiten und reaktionäre Katholiken sammelten, die sich ideologisch immer mehr dem Faschismus annäherten. An Chevaliers Rolle in Pièges störten sich auch andere. Das lag nicht nur daran, dass Siodmak sich der dunklen Seite von dessen Star-Persona widmet. Die Bezüge zur Affäre Weidmann, damals Thema in allen Zeitungen, sind nicht zu übersehen. Vor diesem Hintergrund erhält es eine über den Film hinausreichende Bedeutung, wenn Robert Fleury (alias Maurice Chevalier, einer der prominentesten Besucher des Sensationsprozesses in Versailles) nach stundenlangen Verhören Morde gesteht, die er nicht begangen hat. Das soll nicht heißen, dass Weidmann womöglich unschuldig war. Wenn aber einer zwei Stunden vor der Hinrichtung nur deshalb vor dem Tod durch das Fallbeil bewahrt wird, weil eine patente junge Frau an seine Unschuld glaubt, ist das problematisch für das System der Todesstrafe (einem Enthaupteten nützt es nicht mehr viel, wenn später der wahre Täter ermittelt wird).

Interessant in diesem Zusammenhang ist die Reaktion derer, die eigentlich das Prinzip der Nächstenliebe auf ihre Fahnen geschrieben hatten. La Croix (12.1.1940) etwa, ein Flaggschiff der katholischen Publizistik, hielt es für geboten, bei "echten Verbrechern" (wie Eugen Weidmann) nicht "nach mildernden Umständen im Namen Freuds" zu suchen wie der Kommissar in Pièges. Ohne mildernde Umstände, so die unausgesprochne Konsequenz, blieb für einen in Frankreich verurteilten Serienmörder nur die Guillotine. Dass katholische Kritiker außerdem eine von ihnen erkannte Amoralität bemängelten, und in manchen Episoden eine beunruhigende Atmosphäre, mit schmutzigen Details, von denen man lieber gar nichts wissen wollte, überrascht nicht wirklich. Das Publikum focht das nicht an. Weidmann hatte bestimmt einen Anteil daran, dass Pièges Siodmaks größter Erfolg in Frankreich wurde, worauf der kluge Regisseur auch gehofft haben dürfte. Trotzdem ist der Film viel mehr als das Produkt einer kommerziellen Spekulation.

Siodmak macht die Affäre zum Vehikel, um seine Darstellung einer Gesellschaft zu transportieren, in der nicht mehr klar zwischen Gut und Böse, zwischen den Anständigen und den Verbrechern zu trennen ist. Pièges ist nicht amoralisch, sondern ein Film der moralischen Ambiguität. La Croix rügte, dass der Film trotz der Mitwirkung von Maurice Chevalier nicht charmant sei. Das ist richtig. Pièges ist kein netter Unterhaltungsfilm für die ganze Familie. Im Salon sprechen die feinen Leute über ihre Geschäfte, und im Keller sitzt der Chef der Mädchenhändlerbande, der das großbürgerliche Haus als Falle für seine Opfer nutzt, die angelockt und dann in die Bordelle Südamerikas verschifft werden. Adrienne geht in ihrem Zofenkleidchen aus Satin zwischen Salon und Keller hin und her. Chevalier alias Fleury, zum Treffen mit Investoren für seine Nachtclubs ins Haus gekommen, rennt Adrienne nach wie ein geiler Bock und wird erst vom Butler ausgebremst, der ein Fetischist ist und den der Anblick bestimmter Kleidungsstücke in Erregungszustände versetzt. Es ist diese Bissigkeit gegenüber Bürgertum und Scheinmoral, die Siodmaks beste Filme auszeichnet. Pièges gehört mit dazu.

Sterbende Mörder, von der Phantomfrau angelockt

Adrienne, der sehr erfrischenden Heldin, begegnen wir erstmals als Taxigirl, also als einer Frau, die in einer Bar gegen Bezahlung mit Männern tanzt. Das erinnert nicht von ungefähr an die Woolrich-Geschichte "Dime a Dance", die im Februar 1938 in Black Mask erschien. Im März 1939 druckte die Zeitschrift Detective Fiction Weekly Woolrichs Kurzroman "Those Who Kill" ab. Beim Lesen könnte man auf die Idee kommen, dass Jacques Companéez und Ernst Neubach dort wertvolle Anregungen fanden, als sie das Drehbuch zu Pièges schrieben. Im August 1939 erschien in Black Mask Woolrichs später meistens unter dem Titel "Guillotine" anthologisierte Geschichte "Men Must Die", in der ein französischer Krimineller um sein Rendezvous mit dem Henker herumkommen will. Weil auch "Those Who Kill" in Frankreich spielt hält es Woolrichs Biograph Francis M. Nevins für denkbar, dass die Macher von Pièges, in dem der Weidmann-Fall verarbeitet wird, den Plot bei Woolrich borgten, der sich seinerseits von diesem Sensationsprozess hatte inspirieren lassen. Ein Einfluss der Affäre Weidmann auf Woolrich ist gar nicht unwahrscheinlich, weil der Fall dank Jean de Koven, der amerikanischen Tänzerin, auch in den USA hohe Wellen schlug - erst durch ihr mysteriöses Verschwinden in Paris, dann durch das Auffinden ihrer Leiche im Garten der Villa Voulzie.

Pièges

Eine verlängerte Version von "Those Who Kill" erschien 1942 als sechsteiliger Fortsetzungsroman mit dem Titel Phantom Alibi, und dann, in Buchform, als Phantom Lady. Als Siodmak 1943 diesen Roman verfilmte, hatte der ursprüngliche, der Wirklichkeit abgeschaute Stoff also eine Reihe von Transformationen hinter sich, und der Regisseur drehte sowohl eine Woolrich-Adaption wie ein Remake seines eigenen Films von 1939. Es geht sogar noch besser. 1941 lief eine - wegen gewisser sexueller Unregelmäßigkeiten - um 12 Minuten gekürzte Fassung von Pièges unter dem amerikanischen Verleihtitel Personal Column in New York an. Völlig auszuschließen ist es demnach nicht, dass Woolrich Siodmaks Film gesehen hatte, als er an seinem genauso episodenhaft aufgebauten Roman arbeitete. Wer verschlungene Entstehungsgeschichten mag sollte außerdem noch wissen, dass ein anderer Emigrant, Douglas Sirk, 1947 den Thriller Lured inzenierte, ein von Paris nach London verlegtes Remake von Pièges. Lucille Ball ist das Taxigirl, George Sanders tritt in der Chevalier-Rolle auf und Boris Karloff als Erich von Stroheim. Companéez, Neubach und Gantillon werden verschämt als Autoren einer dem Film zugrunde liegenden "Story" genannt.

Lured hat denselben Plot wie Pièges, über weite Strecken die gleichen Szenen und Dialoge und sogar sehr ähnliche Regieeinfälle (die Musik wird auch recycelt). Abweichungen gibt es da, wo Zugeständnisse an den Production Code gemacht werden mussten. So ist etwa der Butler kein masochistischer Fetischist mehr, per Kleinanzeige wird ein Modell für Badeanzüge und nicht für Aktbilder gesucht, und Charles Coburn als Inspektor Temple erläutert so lange, was die Mädchenhändler treiben, bis man den Eindruck haben muss, dass die zwar mal ein Mädchen umbringen oder in eine Tanzbar vermitteln, aber eigentlich Juwelendiebe sind. Manches wird bei der Übernahme seines kulturellen Kontextes entkleidet. Die Szene, in der die Heldin dem Theaterproduzenten einen Knopf annähen soll, ist in Lured recht witzig. In Pièges ist sie das auch, setzt aber außerdem eine Handlung in Gang, an deren Ende Fleury (alias Chevalier) den Kopf verlieren würde, wenn Adrienne nicht wäre. Und ein verlorener Kopf wäre nicht so leicht wieder anzunähen wie ein Knopf (die scheinbar lockere Episodenstruktur ist trügerisch). In Lured kann das nicht funktionieren, weil der britische Henker keine Guillotine hat sondern einen Strick und der Produzent ohnehin freikommt, bevor man ihn verurteilt.

Zwischen Original und Remake gibt es auch Unterschiede. Weil in der Filmpublizistik gern mal einer vom anderen abschreibt, ohne dass jemand in der Kette den fraglichen Film gesehen hätte, kann man im Internet wie in Büchern Inhaltsangaben lesen, in denen Elemente aus Lured mit solchen aus Pièges vermischt werden. Autoren, bei denen George Sanders der Polizist ist, verwechseln wohl Lured mit The Lodger (1944), einem sehr guten Jack-the-Ripper-Film von John Brahm; da ist Sanders der Inspektor von Scotland Yard. Schade nur, dass Sirk nicht früher zum Zuge kam, 1941 oder 1942 beispielsweise. Er hätte dann zugleich das Remake von Phantom Lady drehen können und somit von einem Film, den es noch gar nicht gab - allerdings mit einem Baudelaire nachahmenden "Poetenmörder" anstelle des Krawattenkillers. Oder müsste man bei vertauschter Chronologie Lured als das "Original" (der Film bliebe weiter das Remake von Pièges) und Phantom Lady als das Remake einstufen? Dann hätten wir einen der seltenen Fälle, wo das Remake besser ist als das Original. (Man vergleiche auch Frenzy, wo wieder die Krawatte zum Einsatz kommt und wir gleich am Anfang zum Herstellen assoziativer Verbindungen ermuntert werden, weil Hitchcock ein genialer Fallensteller war.)

Der Blick der Medusa

Woolrichs alias Irishs Phantom Lady erschien erstmals 1952 in einer deutschen Übersetzung und hieß jetzt Der verschwundene Hut. Der das Mysteriöse in Banales verwandelnde Titel ist missglückt, aber nicht halb so dumm wie der, unter dem die Verfilmung in deutsche Kinos kam: Zeuge gesucht (der Zeuge ist eine Frau, falls nicht der Hut damit gemeint ist). Weil man auch Filme verleihen kann, die man nicht gesehen oder nicht verstanden hat, wurde Phantom Lady in den 1950ern in den USA als Condemned to Hang neu gestartet, obwohl Henderson zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt wird. Dann schon lieber den Hut im Titel, weil die Betonung von Objekten genauso zur Verfilmung passt wie der Männerkopf mit den weit aufgerissenen Augen auf dem Buchumschlag. Augen sind ganz wichtig. Das erfährt Anselmos Barkeeper, als plötzlich eine junge Frau an seiner Theke sitzt, ein Getränk bestellt und sonst nichts sagt. Carol sitzt nur da und schaut ihn an, kommt täglich, folgt jeder seiner Bewegungen mit ihren Blicken.

Eine von Siodmaks Stärken ist sein Umgang mit den Nebenfiguren, ist seine Fähigkeit, diese mit Hilfe genauer Beobachtungen treffend zu charakterisieren und daraus Rückschlüsse auf die Gesellschaft abzuleiten, in der sie leben. In Phantom Lady ist es die Anonymität der Großstadt, die durch sie zum Ausdruck kommt. Menschen werden nicht als Individuum wahrgenommen, sondern als Gesicht in der Menge, das man gleich wieder vergisst und höchstens im Gedächtnis behält, wenn es mit der eigenen Wirklichkeit in Verbindung zu bringen, auf die eigenen Wahrnehmungsmuster zu reduzieren ist. Al Alp erinnert sich mehr an den Fahrpreis, der für eine bestimmte Strecke zu entrichten war als an die Leute, die in seinem Taxi saßen, für den Barkeeper verschwinden die Gäste hinter den Getränken, die sie bestellt haben. Inmitten von Großstädtern, die einander bestenfalls kurz anschauen, meistens aber den Blick gleich wieder abwenden und hinterher nicht wissen, wen sie gesehen haben, verkehrt Carols Starren, ihr Insistieren auf dem Blickkontakt mit dem Barkeeper, die Anonymität in eine radikale Form von Individualität. Das ist so unheimlich, weil es so ungewöhnlich ist, das Gegenstück zur Normalität der New Yorker Alltagswirklichkeit.

Phantom Lady

In der Welt, die Siodmak uns zeigt, kann ein solcher Augenkontakt tödlich sein. Aus Carol Richman, die wir als moderne berufstätige Frau kennengelernt haben, wird in Anselmos Bar eine Medusa, die den Mann hinter dem Tresen kraft ihres Blickes zerrüttet. Wir erinnern uns: Es ging los mit einem Möchtegern-Theaterproduzenten namens Roger LeBlond, den der deutsche Serienkiller Eugen Weidmann 1937 durch Genickschuss ermordete. In Pièges wurde daraus der von Maurice Chevalier gespielte Nachtclubbesitzer und Produzent Robert Fleury, der unschuldig zum Tode durch die Guillotine verurteilt wird, weil der wahre Mörder drei Frauenleichen in seinem Garten vergraben hat (hier könnte man eine Meditation über den Zusammenhang zwischen Mord, Todesstrafe und staatlichem Gewaltmonopol einschieben). In Phantom Lady wird der Bonvivant durch den wenig charismatischen Bauingenieur Scott Henderson ersetzt, der in der Todeszelle landet, weil der Mörder Hendersons erdrosselte Gattin in der Wohnung des Paares zurückgelassen hat. Aus dem "unbekannten Phantom", dem beim Weidmann-Prozess die Presse elektrisierenden Mann im Hintergrund, wird die Phantomfrau, Hendersons Alibizeugin mit dem auffallenden Hut, die spurlos verschwunden ist und die Carol unbedingt finden muss, wenn ihr Chef, den sie liebt, nicht auf dem elektrischen Stuhl sterben soll.