Zwischen den Corona-Wellen

Seite 3: Im Leserdialog: Gibt es in China eine gesellschaftliche Entwicklung?

Anlässlich der Publikation des Friedensgutachtens 2021 hatte ich mit dem Sinologen Pascal Abb gesprochen und "die chinesische Vision von gesellschaftlicher Entwicklung" erwähnt. User asxdef fühlte sich von der Formulierung offenbar provoziert und schrieb:

"Woher kommt das? Wie wäre es, wenn wir in "Ergänzung" unseres "Liberalismus" Magazine wie Telepolis wegen Staatsfeindlichkeit einfach verbieten? Oder träumt Herr Neuber davon, dass er als "Gottkönig" eines Tages alles Störende verbieten kann?"

Auf diesen Einwurf möchte ich auf drei Ebenen antworten. Zum einen betrifft das dem medialen Umgang mit China, bei dem der Blick gemeinhin auf die regierende Kommunistische Partei (PCCh) gerichtet ist. Aus westlicher Sicht werden Defizite in der demokratischen Entwicklung stark akzentuiert. So scheint es erklärbar, dass schon eine Formulierung, die China eine gesellschaftliche Entwicklung zugesteht, mitunter als Provokation aufgefasst wird.

Auf einer zweiten Ebene kann man zur Überprüfung der Fortschrittsthese die makroökonomische Entwicklung heranziehen. Mitte April hatte Telepolis-Autor Uwe Kerkow auf die "wohl bedeutendste Errungenschaft der 1,4 Milliarden Menschen und der regierenden Kommunistischen Partei des fernöstlichen Landes" verwiesen: ihr Sieg über die absolute Armut. "Es ist nicht übertrieben, von einem welthistorisch bedeutenden Moment zu sprechen. Noch nie in der Geschichte der Menschheit ist es gelungen, über 700 Millionen Menschen aus bitterster Armut zu befreien – und das in nur 40 Jahren", schrieb Kerkow.

Ursprünglich sei die Abschaffung der absoluten Armut für 2020 geplant gewesen – doch dieses Ziel habe wegen der wirtschaftlichen Einbußen aufgrund der Corona-Pandemie nicht gehalten werden können. Also habe man die Erreichung des Ziels auf die erste Jahreshälfte 2021 verschoben, "verkündete aber gleichzeitig schon, dass neue Pläne für die Hebung des allgemeinen Lebensstandards beschlossen worden seien".

Hinter der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Chinas steht drittens keine diffuse Politik, sondern konkrete Konzepte. In Reaktion auf die soziale Polarisierung in der chinesischen Gesellschaft, die im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung vor allem in Stadt-Land-Gefälle nicht von der Hand zu weisen ist, hat die Kommunistische Partei schon vor Jahren das Konzept der "harmonischen sozialistischen Gesellschaft" (shehuizhuyi hexie shehui) aufgenommen.

Die China-Expertin Heike Holbig von der Goethe-Universität in Frankfurt am Main bezeichnet diese "harmonische sozialistische Gesellschaft", zusammen mit den anderen beiden Entwicklungsmodellen des "wissenschaftlichen Entwicklungskonzepts" (kexue fazhan guan) und der "eigenständigen Innovationskraft" (zizhu chuangxin nengli) als neue Visionen für die weitere Entwicklung des Landes im politischen Programm der chinesischen Führung von 2003 bis 2013 unter Hu Jintao und Wen Jibao, hieß es in einer studentischen Arbeit im Jahr 2008.

Schon im Jahr 2005 hatte der damalige chinesische Staatschef Hu anlässlich des 60. Jahrestags der Vereinten Nationen erstmals zum Aufbau einer "harmonischen Welt" aufgerufen. Dieses Konzept ist seither eine der Grundlagen der chinesischen Außenpolitik, die sich auch in der Belt-and-Road-Initiative bzw. der Neuen Seidenstraße zeigt.

Es ist also nicht von der Hand zu weisen, dass China seinen Einfluss in der Welt auf gesellschaftliche Visionen stützt, die – neben dem schieren wirtschaftlichen Einfluss – eine Grundlage des geopolitischen Einflusses bildet.

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