Zwischen den Corona-Wellen
Der Telepolis-Wochenrückblick mit Ausblick
Liebe Leserinnen und Leser,
ein schöner Effekt der sinkenden Inzidenzen ist die wiedereröffnete Gastronomie, die man bei den aktuellen Temperaturen landesweit fast nur in den Außenbereichen genießen möchte. So ging es bei mir dieser Tage zu einem griechischen Mesedopolío, einem Restaurant, in dem man sich das Menü aus mediterranen Kleingerichten zusammenstellt. Gegen Ende des Restaurantbesuchs wechselten am Nebentisch die Gäste. Zwischen den Neuankömmlingen, einem Elternpaar mit Sohn und dessen Freundin, entspann sich ein Dialog über Sprachen.
Unter zustimmungsheischenden Blicken ließ sich der Vater über "die Russen" und "die Chinesen" aus. Dann fiel sein Blick auf die Serviette mit griechischem Basisvokabular. "Pináo" stand da für: "Ich habe Hunger." Wie es sein könne, so der etwas zu nationale und etwas zu selbstbewusste Gast, dass "der Grieche“ nur ein Wort benutze, wo wir Deutschen doch drei verwendeten. "Und der Engländer immerhin zwei", fügte er an: "I’m hungry“.
Statt in eine Diskussion über Syntax, Personalpronomen und Verben im Englischen einzusteigen, schoss mir in diesem Moment neben anderem griechischen Vokabular, das ich lieber für mich behalte, tatsächlich kurz der Gedanke durch den Kopf, ob der Lockdown nicht auch Vorteile gehabt hat.
Konkret könnte diese Überlegung im Herbst werden, sollte sich die Delta-Variante von Sars-CoV-2 weiter ausbreiten und die Impfkampagne im bisherigen oder gar verminderten Tempo voranschreiten. Anfang der Woche beschrieb ich in einem Kommentar das Gefühl eines Déjà-vus, denn wieder öffnet sich das Land und wieder muss man von einer neuen Infektionswelle im Herbst ausgehen, ohne dass hinreichende Vorbereitungsmaßnahmen getroffen werden. Weniger noch vielleicht als vor einem Jahr, denn damals mussten die verantwortlichen Politiker parallel noch keinen Wahlkampf führen.
Telepolis-Redakteur Thomas Pany befasste sich auch mit der Delta-Virus-Variante – und mit der Verschwendung von Geldern für Schutzmasken. Dabei gehe es um Milliarden, keine "Peanuts". "Das geht aus einem zweiten Bericht des Bundesrechnungshofes über Corona-Ausgaben der Bundesregierung hervor", so Pany. "Chaotisch", "dubios", "sachfremd" und "unrealistisch" – so lauteten die Bewertungen, die ins Auge springen.
Warum wir António Guterres‘ ruhigen Stil gut finden
Mit einer anderen Art von Kritik befasste sich Telepolis-Autor Richard Hauley. Er beschrieb, wie einige deutsche Leitmedien über den wiedergewählten UN-Generalsekretär António Guterres berichteten. Weil sich der portugiesische Sozialdemokrat in neuen geopolitischen Konflikten nicht positioniert, sondern auf Ausgleich bedacht ist, wurde er etwa auf tagesschau.de im Abstand von mehreren Monaten von unterschiedlichen Autoren als "stiller Portugiese" und "zu stiller Generalsekretär" bezeichnet.
Hauley, der auch auf Guterres‘ Initiative für einen globalen Waffenstillstand verwies, kam zu einem anderen Urteil:
Der neunte UN-Generalsekretär vermeidet einseitige Schuldzuweisungen, agiert besonnen und gibt sich als Brückenbauer und ehrlicher Makler zwischen den unterschiedlichen Interessen. Das ist heute viel wert. Guterres warnte in den vergangenen Jahren mehrfach (hier oder hier) vor einem erneuten Kalten Krieg - mit den USA bzw. dem Westen auf der einen sowie China und Russland auf den anderen Seiten. Er betonte stets, dass man in einer multipolaren Welt miteinander reden und den Multilaterismus stärken müsse.
Richard Hauley, Telepolis
Neben einer stabilen Friedensordnung drängt das Thema der Klimapolitik – wie man es auch bewerten möge – immer mehr ins Zentrum der Debatten. Telepolis-Autor Wolfgang Pomrehn berichtete in der vergangenen Woche, dass sich die Deutschen wegen des Klimawandels sorgen. Dieses Gefühl möge zwar noch nicht immer wahlentscheidend sein, wie jüngst die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt gezeigt habe, so Pomrehn: "Aber 80 Prozent der Bevölkerung treiben die Veränderungen des Klimas um, wie die Deutsche Welle berichtet."
Demnach ist dies das Ergebnis einer Befragung von repräsentativ ausgesuchten 2.000 Personen, die die Organisation "More in Common" in Auftrag gegeben hatte. 65 Prozent der Befragten geben an, dass für sie der Klimawandel bereits spürbar sei. Auffallend ist, dass der gesellschaftlich besonders engagierte Teil der Interviewten sich mit 88 Prozent die meisten Sorgen macht und auch mit 73 Prozent die ersten Auswirkungen bereits wahrnimmt.
Überfall auf die Sowjetunion 1941
In die neue Woche starten wir geschichtlich: Am morgigen 22. Juni wird des 80. Jahrestags des Überfalls der Wehrmacht auf die Sowjetunion gedacht. Telepolis-Autor Jens Mattern hatte 2011 der polnischen Zeitzeugen Czeslaw Modzelewski getroffen, der ihm schilderte, wie er jene Tage im Sommer 1941 erlebte.
Rüdiger Suchsland wird sich am morgigen Dienstag mit der Frage befassen, ob das Jahr 1941 den eigentlichen Zivilisationsbruch markiert hat – und nicht 1933 oder 1939. Ich selbst werde mich zum Jahrestag dem politischen Umgang mit dem Datum widmen – der jüngsten Aussprache dazu im Bundestag und der folgenden Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Ebenfalls diese Woche lesen Sie bei Telepolis eine Einschätzung des Politikwissenschaftlers und Armutsforschers Christoph Butterwegge über die Corona-Pandemie und das Phänomen der Ungleichheit. Zwischen beidem gebe es zwar keinen kausalen Zusammenhang, so Butterwegge, Armut und Ungleichheit seien deutlicher sichtbar gemacht und weiter verschärft worden.
Weil die Pandemie als ökonomischer, sozialer und politischer Spaltpilz wirkte, legte sie auch lange verschüttete Klassenstrukturen offen. Wie nie zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg wurde erkennbar, dass trotz eines verhältnismäßig hohen Lebens- und Sozialstandards des Landes im Weltmaßstab sowie entgegen allen Beteuerungen der politisch Verantwortlichen, die Bundesrepublik sei eine „klassenlose“ Gesellschaft mit gesicherter Wohlständigkeit all ihrer Mitglieder, ein großer Teil der Bevölkerung nicht einmal für wenige Wochen ohne seine ungeschmälerten Regeleinkünfte auskommt.
Christoph Butterwegge
Und schließlich hat diese Wochenkolumne ab heute ein neues Element zum Komplex Klima und Umwelt. Weil sie am Ende steht, drängte sich der Titel auf: "Und nun das Wetter …"
Bis dahin, blieben Sie uns gewogen, Ihr
Harald Neuber
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