transArchitektur
Seite 3: Entbergen und Verbergen
Heideggers Aufsatz "Die Frage nach der Technik, aus dem alle Zitate dieses Kapitels stammen, können die Probleme zu erhellen helfen, die entstehen, wenn wir die Informationstechnologie als eine der unvertrauten Andersartigkeit der Architektur betrachten.
Das Ge-stell ist das Versammelnde jenes Stellens, das den Menschen stellt, das Wirkliche in der Weise des Bestellens als Bestand zu entbergen.
Martin Heidegger
Ein neuer öffentlicher Raum wurde durch die Entwicklung von VRML (Virtual Reality Modeling Language), einem Standard zum Austausch von dreidimensionalen Daten, und Browsing- sowie Server-Software geschaffen, die es vielen Benutzern ermöglicht, auf dieselbe Datenmenge zuzugreifen und in verteilten virtuellen Umgebungen sich zu sehen, zusammen zu sein und miteinander zu interagieren.
Dreidimensionale, übertragbare und navigierbare Modelle des Pavillions von Barcelona, von Le Corbusiers ungebauten Villen, von Kirchen, Tempeln und Museen, von Stadtteilen, von gebauten und ungebauten Projekten aller Art sind bereits im Web als Bestand verfügbar. Architektur wurde in ein virtuelles Regal gestellt und ist jetzt bei Bedarf für jeden Zweck verfügbar. Ganz ähnlich wurde der körperliche Raum durch technologische und soziale Arrangements abstrakt gemacht, die es uns erlauben, fast jeden Raum für fast jeden Zweck zu nutzen. Durch die Loslösung der Form von der Funktion und der Realität von der Aktualität haben wir Bedeutung in eine Reihe von unabhängigen Dimensionen vektorisiert. Wir fügen zuammen, was wir benötigen, indem wir aus einer endlosen Menge von Optionen auswählen. Während das Digitale das Analoge ersetzt, ersetzen Kontrollisten die Ausübung des Urteilsvermögens und das Zählen von Vielheiten die Messung von Größen.
Heideggers die Zukunft vorwegnehmenden Bemerkungen über die Technik wurden am Beginn des Computerzeitalters geschrieben, zu einer Zeit, als das Word "Daten" noch nicht die Allgegenwart erlangt hat, die wir ihm jetzt verleihen. Das Wort "datum" bedeutet "das, was gegeben ist", und daher "das, was als Bestand vorhanden ist."
Jeder benutzt überall das Internet als eine Enzyklopädie. Wenn in der Nähe eines Computers, der mit dem Netz verbunden ist, eine Frage entsteht, ist eine übliche Reaktion, eine Suche mit der besten verfügbaren Suchmaschine zu starten. Meist erhält man eine Antwort. Es scheint nichts auszumachen, wie ungewöhnlich das Thema ist. Mit einem bißchen Geschick kann man bis ins Einzelne gehende Informationen über Milliarden von Themen erhalten. Wenn man nach der absolut neuesten Information Ausschau hält, ist das Internet offensichtlich die beste verfügbare Quelle. Wissen selbst wird zu einer global verfügbaren Ressource, zu einem Informationsstrom, aus dem wir Elektrizität für unseren Geist beziehen, wenn wir dies wollen. Rechenkapazität, die einst auf lokale Ressourcen beschränkt war, wird zu einem allgegenwärtigen, globalen Werkzeug.
Die Verfügbarkeit von Information auf dem Internet bestätigt Heideggers Bemerkung in einem überraschendem Maß. Wissen, auch solches, das kaum dieser Bezeichnung wert ist oder das einst auf Spezialisten oder Angehörigen von unwahrscheinlichsten Randgruppen beschränkt war, wird in einen Bestand umgewandelt. Aber man kann dabei ein Paradox beobachten: Wenn man auf eine Site mit vielen Links zu anderen Informationen stößt, ist die am meisten beobachtbare Reaktion, daß den Links manisch gefolgt wird, ohne eine Pause einzulegen, um die Inhalte eines einzelnen genauer anzusehen. Wie verrückte Kartographen suchen wir das Territorium zu vermessen, ohne an einem Platz zu verweilen. Wir sind vorwiegend damit beschäftigt, unsere Ressourcen zu bestellen, aber wir genießen sie nicht.
Das Ge-stell ist eine geschickhafte Weise des Entbergens, nämlich das herausfordernde. Eine solche geschickhafte Weise ist auch das hervorbringende Entbergen, die poiesis.
Martin Heidegger
Das Gestell ist Geschick und Geschick ist Poiesis. Heidegger zeigt den fiktionalen und poietischen Charakter des Bestellens des Wirklichen in dem Bestand.
Das Wesen der modernen Technik beruht im Ge-stell. Dieses gehört in das Geschick der Entbergung.
Martin Heidegger
Das Entbergen, das Verständnis der tragenden Struktur des Wirklichen, ist eine poietische Handlung, die das, was ist, von dem her offenbart, was nicht ist. Wir verwenden diese Operation, um die Wirklichkeit in eine elektronisch vermittelte graphen-theoretische Darstellung von Links und Knoten zu reduzieren, diese dann anzuordnen und die Knoten und Verknüpfungen zu zählen, wodurch wir uns des Reichtums unseres Bestandes an verfügbaren Daten versichern. Wir konstruieren Tragwerke aus Verknüpfungen, aber haben keine Zeit für das Fleisch des Bekannten.
Es ist daher keine Überraschung, wenn wir bei Heidegger lesen:
"Das Geschick der Entbergung ist in sich nicht irgendeine, sondern die Gefahr ... Das Ge-stell verstellt das Scheinen und Walten der Wahrheit. Das Geschick, das in das Bestellen schickt, ist somit die äußerste Gefahr ... Die in der modernen Technik verborgene Gefahr liegt darin, daß wir durch das Bemühen, das Wirkliche in einen Bestand zu verwandeln, alles, eingeschlossen uns selbst und jeden anderen, als Bestand sehen. Weder das Wirkliche noch wir als Bestandteile des Wirklichen oder als Besteller des Wirklichen sind noch in einer besonderen Einzelheit sichtbar. Was übrigbleibt, ist eine allgemeine Wahrnehmung des Ganzen und der Summe. Jeder Teil, gleich ob es eine Person, eine Idee oder ein Sachverhalt ist, wird entbehrlich. Das Selbst und der Sachverhalt werden durch Komponenten ersetzt und diese für eine unbestimmte Zukunft katalogisiert, die unendlich aufgeschoben wird. In dieser Situation bleiben ganze Wissenskonstellationen unverarbeitet und ganze Erfahrungsfelder werden nicht erlebt."
Aber es ist nicht alles verloren. Wie Heidegger feststellt, erfordert der andauernde Wandel der Technik unser ganzes Engagement bei der Wahrheitsfindung durch Vorstellungsakte oder durch Gewährenlassen. Durch dieses Engagement treffen wir auf die von ihm so genannte "rettende Kraft":
"Allein, wenn dieses Geschick, das Ge-stell, die äußerste Gefahr ist, nicht nur für das Menschenwesen, sondern für alles Entbergen, darf dann dieses Schicken noch ein Gewähren heißen? Allerdings, und vollends dann, wenn in diesem Geschick das Rettende wachsen sollte. Jedes Geschick eines Entbergens ereignet sich aus dem Gewähren und als ein solches. Denn dieses trägt dem Menschen erst jenen Anteil am Entbergen zu, den das Ereignis der Entbergung braucht. Als der so Gebrauchte ist der Mensch dem Ereignis der Wahrheit vereignet.
Das Wesende der Technik bedroht das Entbergen, droht mit der Möglichkeit, daß alles Entbergen im Bestellen aufgeht und alles sich nur in der Unverborgenheit des Bestandes darstellt. Menschliches Tun kann nie unmittelbar dieser Gefahr begegnen. Menschliche Leistung kann nie allein die Gefahr bannen. Doch menschliche Besinnung kann bedenken, daß alles Rettende höheren, aber zugleich verwandten Wesens sein muß wie das Gefährdete.
Weil das Wesen der Technik nichts Technisches ist, darum muß die wesentliche Besinnung auf die Technik und die entscheidende Auseinandersetzung mit ihr in einem Bereich geschehen, der einerseits mit dem Wesen der Technik verwandt und andererseits von ihm doch grundverschieden ist. Ein solcher Bereich ist die Kunst. Freilich nur dann, wenn die künstlerische Besinnung ihrerseits sich der Konstellation der Wahrheit nicht verschließt, nach der wir fragen."
Heidegger hat so vorweggenommen, was wir gegenwärtig beobachten können: das erneute Zusammenwachsen von Kunst, Wissenschaft und Technik in die techné, in ein "einziges vielfältiges Entbergen" der Wahrnehmungsweisen der Welt, das weder nur instrumentalisiert noch nur ästhetisiert, sondern das unsere gegenwärtigen Annäherungen an die Wahrheit in den Bereich der erlebten Erfahrung durch Infragestellung bringt.
In jedem Augenblick der menschlichen Geschichte hatte die vorderste Front des Denkens eine bestimmte Form. Manchmal erkannte die Gesellschaft einer bestimmten Zeit diese Formen als Teil der Matrix des Alltagslebens. In unserer Zeit befinden sich die Formen der herrschenden Wissensränder zusammen mit allem anderen im Bestand. transArchitektur kann dabei helfen, sie wieder zur vollen Erfahrung zu bringen.