Aufhalter und Schwellenfigur
Obamas Wiederwahl signalisiert ein geschichtliches Moratorium. Sie verschiebt den Eintritt Amerikas in ein postpolitisches Zeitalter um weitere vier Jahre
Der Felsbrocken, der dem politischen Feuilleton vom Herz gefallen ist, hat man bis in die Uckermark plumpsen hören. So erleichtert und erfreut reagierte die Kommentatorenclique auf Barack Obamas "zweite Chance". Wäre Mitt Romney, dessen Wahl eigentlich nie echt zur Debatte stand, tatsächlich ins Amt berufen worden, der Untergang Amerikas, den der "Spiegel" schon seit Monaten auf seiner Agenda hat, wäre wohl unmittelbar herbeigeschrieben worden. Mit Obamas zweiter Präsidentschaft ist der aber zumindest mal um vier Jahre verschoben. Alle diesbezüglich vorgefertigten Texte müssen erstmal wieder archiviert werden.
Nicht um den Schlaf gebracht
Dennoch, von jenen Jubelarien, die noch vor vier Jahren den Blätterwald füllten, hat man mittlerweile Abstand genommen. Zu groß waren die Ernüchterung und Enttäuschung über den politischen Kurs eines Präsidenten, den die meisten hierzulande für europäisch und cool, politisch aufgeklärt und links halten. Die hohen Erwartungen, die er damals geweckt und mit wohl kalkulierter Sprachkunst gefüllt hat, konnte er jedenfalls nicht bestätigen.
Sogar Adrian Kreye, Feuilletonchef der SZ, der sich damals von Obamas "Change"-Gefasel einlullen ließ und vor dessen "Yes, we can" Ausrufen publizistisch förmlich in die Knie ging, enthielt sich diesmal aller neuerlichen Elogen. Stattdessen belustigte er sich lieber über die kindliche Verehrung, die die Deutschen dem schwarzen Präsidenten entgegenbrachten.
So fand er es ziemlich skurril, dass eine große Zahl von ihnen die ganze Nacht über die Wahlberichterstattung in den Medien verfolgt hatten. Wen er da genau meinte, ob die in den Newsrooms oder die im Amerika-Haus, weiß ich nicht. Mich jedenfalls hat weder die US-Wahl noch der Präsident in der Nacht um meinen wohlverdienten Schlaf gebracht.
Glaube, Wille, Hoffnung
Nicht nur strahlend und optimistisch, auch leidenschaftlich und zupackend präsentierte Obama sich noch am Abend seiner Wiederwahl. All der Kleinmut und die Verzagtheit, die er in den Wochen vor der Wahl mitunter gezeigt hatte, all die Zweifel und Unsicherheit schienen plötzlich wie weggeblasen. Auf einmal war wieder Leben in ihm. Die Augen flackerten und es blitzte heftig, als er seine große Stärke auspackte und eine große patriotische Rede an die Nation hielt.
Viel war darin vom "Wir" und vom "Wollen" die Rede, vom Leben in einem Land ohne Schulden, vom Zugang zu den besten Schulen, und von einem sicheren Land, das weltweit respektiert und bewundert wird; ebenso vom "Glauben" an ein "großzügiges" und "mitfühlendes" Amerika, das offen für alle ist, die den amerikanischen Traum leben wollen; und schließlich auch von der "Hoffnung" nach einem Amerika, in dem Herkunft und Hautfarbe keine Rolle spielen, wenn jemand den sozialen Aufstieg mit eigener Hände Arbeit schaffen wolle.
Immer noch lebe man im "großartigsten Land der Welt". Amerika habe seine Zukunft noch keinesfalls hinter sich. Die Nation könne gar "vervollkommnet" werden, wenn alle anpackten, sich als große "Familie" verstünden und sich zu den "gemeinsamen Werten" bekennten. Dann, so der große Versöhner, würde "das Beste für die Vereinigten Staaten noch kommen".
Dem Dolchstoß erlegen
Allzu ernst nehmen sollte man das allerdings nicht. Im Fabrizieren hehrer Worte verdiente sich der alte und neue Präsident immer schon Bestnoten. In Prag und Kairo genauso wie vor der UN. Gäbe es einen Titel dafür, Obama war gewiss einer der ersten Anwärter. Genau wie vor vier Jahren, als er wie einst Abraham Lincoln mit einem historischen Zug nach Washington fuhr, machte er sich erneut die Gründerväter zupass.
Für ihn scheint die Gegenwart nicht bloß ein "Zukunftsprojekt" zu sein, sondern zuallererst eine "Geschichte der Vergangenheit". Die Kunst, sich zu ihr direkt in Beziehung zu setzen und ihre Werte und Tugenden friktionslos in die Zukunft zu extrapolieren, darauf gründet wohl auch ein sein "Charisma", das ihm allenthalben zugesprochen wird.
Mit den politischen Realitäten hat das nicht unbedingt was zu tun. Vier lange Jahre lang hatte er Zeit. Wenig bis nichts davon, was er vollmundig angekündigt hatte, ist geschehen. Weder hat er das Haushaltsloch verkleinert noch ist ihm das Versöhnen und Zusammenführen der Nation gelungen. Im Gegenteil, um das heroische Bild von ihm am Leben zu halten, greifen deutsche Feuilletonisten auch gern mal zu "Dolchstoßlegenden".
Laut Patrick Bahners, ehemals Feuilletonchef der FAZ, tragen allein die Republikaner Schuld an der derzeitigen Misere. Mit ihrer Blockadepolitik hätten sie "das Land in Geiselhaft" absichtlich und gezielt genommen. Um eine zweite Amtszeit zu verhindern, hätten sie jede Gesetzesinitiative Obamas boykottiert.
Realitätscheck machen
Das ist freilich etwas grobschlächtig gedacht und erinnert nicht zufällig an verschwörerische Mottenkisten. Sieht man sich nämlich Obamas politische Bilanz genauer an, dann wird genau anders herum ein Schuh draus. Den großen Worten sind keine Taten gefolgt. Der "große Kommunikator" hat es nicht verstanden, zu kommunizieren. Aus dem "neuen Amerika", das sich mancher Zeitgenosse ausgemalt hat, ist jedenfalls nichts geworden. Nicht nur, was die Außenpolitik angeht.
Zwar wurde der Irak-Krieg beendet und der Truppenabzug aus Afghanistan beschlossen; ein Dialog mit der islamischen Welt wurde in Gang zu setzen versucht und der geopolitische Schwerpunkt in den pazifischen Raum verlegt - Themen und Dinge, um die auch ein anderer Präsident nicht herumgekommen wäre. Gleichwohl köchelt das Iran-Problem ebenso munter vor sich hin wie der Nahe Osten unbefriedet bleibt, während die rechtlosen Camps weiter bestehen und der Drohnenkrieg über den Hindukusch ausgeweitet wurde.
Innenpolitisch hat es Obama versäumt, sich mit dem politischen Gegner rechtzeitig zu arrangieren. Das Aussöhnen und Zusammenführen, das er erneut favorisiert, ist ihm schon davor nicht gelungen; zudem hat er lange Zeit auf die falschen Berater gesetzt und notwendige politische Entscheidungen hinausgezögert; schließlich hat er es nicht verstanden, wie in Washington und auf dem Capitol Hill Politik gemacht werden muss.
Es war eben auch diese Nicht-Politik (und nicht nur der politische Gegner), die dazu geführt, dass etwa die Schere zwischen Arm und Reich größer geworden ist, die Infrastruktur des Landes: Brücken, Straßen, Stromtrassen, wie man am Hurrikan "Sandy" erneut verfolgen konnte, weiter am Boden liegt, und der Sicherheitswahn im Land in all den Jahren keinesfalls geringer geworden ist.
Neuer Anlauf
Wer das nicht glaubt, der sollte sich noch mal die ausführliche Reportage von Michael Lewis in Vanity Fair ansehen, der den Präsidenten ein halbes Jahr beobachten und ihn auf diversen Reisen begleiten durfte. Darin gewinnt man einen recht guten Einblick in das, was Obama unter Politik versteht, nämlich Basketball spielen und sich fit im Amt halten.
Viele wichtige Minister, Timothy Geithner, Leon Panetta und Hillary Clinton etwa, haben ihre Demission angekündigt und suchen amtsmüde oder entnervt das Weite. Auch personell steht der Präsident vor einem Neuanfang, der dadurch nicht leichter wird, dass mögliche Kandidaten, wie etwa die Botschafterin Susan Rice, selbst noch mit politischen Kalamitäten (Attentat in Bengasi) zu kämpfen haben.
Gelingt es Obama nicht in den nächsten Wochen auf den Kongress zuzugehen und einen Plan vorzulegen, wie das Land die "Finanzklippe" (http://en.wikipedia.org/wiki/United_States_fiscal_cliff) umschiffen kann, droht erneut großes Ungemach, nicht nur wirtschaftlich und politisch, sondern mehr noch für ihn und das Land. Mit dem bloßen Schröpfen der Reichen wird das kaum gelingen.
Der Glaube ist dahin
Folgt man meinen lieben Freund Sepp Gumbrecht, dann kann Obama für das politische Dilemma, in dem er steckt, allein nicht verantwortlich gemacht werden. Nach Stanforder Sicht tendieren die Gestaltungsmöglichkeiten moderner Politik längst gegen Null.
Die Krisen des 21. Jahrhunderts: Klimawandel, demografischer Wandel und Kampf um knapper werdende Rohstoffe und Ressourcen, die sogar einen WK III möglich machen, sorgten dafür, dass Zukünfte schwinden und die Gegenwart unendlich breit werde. Außer pragmatischen Lösungen, die einem Sich-Durchwursteln sehr nahe kommen, sei von der Politik folglich nur noch wenig zu erwarten.
Obwohl Obama sich darüber im Klaren sei, habe er mit seinem Versprechen, jene Zukunftsbilder von Jefferson und Co. fortführen zu wollen, noch mal jenen Glauben der Aufklärung befeuert, Zukunft politisch gestalten und eine bessere und sozial gerechtere Welt möglich machen zu können.
So gesehen wäre er der letzte Repräsentant eines "Ideals von Politik", das die meisten von uns nicht nur abhanden gekommen ist oder für überholt, verbraucht und falsifiziert halten, sondern an das wir uns häufig nur noch wehmütig oder mitleidig erinnerten. Statt an offene Horizonte zu glauben, in Zukunftsprojekte zu investieren und aus einem Reservoir von Möglichkeiten auszuwählen, übten wir uns mittlerweile in Krisenvermeidung und Bedrohungsabwehr.
Neuer Wein in alte Schläuche
Ob das jemals anders war, Politik jemals mehr als das Bohren dicker Bretter bedeutete, diese Frage stellt sich Gumbrecht lieber nicht. Auch nicht, ob die ganze Projektemacherei, wie der jüngst verstorbene große Freiburger Politologe Wilhelm Hennis zu Lebzeiten nicht müde zu betonen wurde, erst zu diesen Kalamitäten geführt hat, in die sich die Politik gebracht hat.
Überraschen kann der apokalyptische Ton und die posthistorische Verlust- oder Verfallsdiagnose kaum. Möglicherweise lässt sie sich vom Rande des Pazifik aus, also von dort, wo die Sonne untergeht, leichter formulieren als im kalten und nebligen Bayern.
Dass die Welt "kristallin" wird, Politik und Geschichte ihre beste Zeit schon hinter sich haben und nur noch von Geschichten statt von Geschichte oder Geschichte machen die Rede sein kann, diese Behauptung ist schon länger in Umlauf. Von verschiedenster Seite, von Alexandre Kojève über Arnold Gehlen bis hin zu Jean Baudrillard, ist sie immer wieder anders und neu aufgelegt worden, mal als Desaster, mal als Triumph.
Unhistorisch gedacht
Ihren Reiz und ihre Faszination bezieht die Behauptung vom Fall in eine postpolitische Ära bekanntlich aus ihrer geschichtspolitischen Unbestimmtheit. Wie ihr Pendant, das "Ende der Geschichte", ist sie so breit, flexibel und großflächig angelegt, dass sie allen Widrigkeiten und Paradoxien zum Trotz, die der Geschichtsverlauf nimmt, widerstehen kann. Ständig ändert sie ihren Wohnsitz und Adresse und passt die Straßen ihrem Namen an.
So sah Alexandre Kojève, der geniale Verbreiter dieser These, die Geschichte zunächst in Amerika, später, nach einer Reise nach Fernost, im kaiserlichen Japan zuende gehen. Als die Mauer dann zu Fall kam, beglückte sein Schüler Francis Fukuyama dann die ganze Welt damit. Fortan gäbe es keine Alternative zum westlichen Denken. Wie unhistorisch und politisch naiv das ist oder sein kann, zeigte sich gut eine Dekade später, als erst mit dem politischen Islam und dann mit den "gelenkten" Demokratien das geopolitische Schachbrett erneuert wurde und seitdem das Gameplay wieder von vorne beginnt.
Aufhalter des Antichristen
Schon deswegen erstaunt es, wenn jetzt ausgerechnet Obama zu einer Art "Schwellenfigur" aufbauscht wird, der mit großer Gestik das Abhandenkommen politischen Gestaltungswillen nicht nur dissimuliert, sondern um vier Jahre hinauszögert. Da soll wohl dessen Zaudern und Zögern, seine politische Unentschlossenheit intellektuell veredelt und als politische Tugend ausgewiesen werden.
Zum einen hat das Paul Vilrilio vor zwanzig Jahren schon mal auf etwas andere Art Silvio Berlusconi nachgesagt. Statt Orientierung zu geben und Zukunft zu gestalten, würden seit ihm nur noch Meinungen und Umfragen transportiert. Und Slavoj Zizek war sich vor einigen Jahren nicht zu schade, all das auf den "Irren von Teheran" zu übertragen. Zum anderen zeigt dies, dass Europa, was den Übergang "vom politischen ins postpolitische Zeitalter" angeht, diesmal die Nase vorn hat. Weder kommt Obama eine Art "Vorreiterrolle" zu noch steht Europa "der Vollzug diese Einsicht noch bevor".
Walten und Verwalten
Allein die Krise um den Euro zeigt das. Sie macht nicht bloß auf das Scheitern modernen Projektedenkens aufmerksam, sie hat zudem auch jenen "postdemokratischen" Zustand beschleunigt, der in linkshegelianischen Kreisen gern beschworen wird. Dem Briten Colin Crouch zufolge, der das in die Diskussion geworfen hat, wird die Politik im Wesentlichen nicht mehr von gewählten politischen Kräften gemacht, sondern von Technokraten, Verfahrensjuristen und Verwaltungsbeamten, die von Behörden oder Organisationen bestellt werden und sich dem Volkswillen weitestgehend entziehen. Nicht zufällig tragen die Repräsentanten dieses Systems den Titel "Kommissar", Bezeichnungen wie sie auch im Stalinismus üblich waren.
Neu ist diese Übertragung der Politik an eigens berufene Experten auch wieder nicht. Schon der Sozialist Saint-Simon und der Soziologe Auguste Comte sahen eine solche Machtübernahme unweigerlich mit der beginnenden Moderne kommen. Allerdings war die noch vom Fortschrittsglauben der Aufklärung geprägt. Ein Jahrhundert später ist diese Überzeugung weitestgehend dahin. Bei Alexandre Kojève regieren Verwaltungsbeamte, die von politischen Ideen und Ideale gar nichts mehr wissen oder wissen wollen.
Weshalb er sich nach WK II wohlweislich von der Philosophie verabschiedet und sich in Brüssel verdingt hatte, um dort als hoher Ministerialbeamter im Wirtschaftsministerium zwanzig Jahre in der europäischen Bürokratie zu verbringen. Seit Beginn der Euro-Rettung beginnt dieses System sich Schritt um Schritt auf den Rest Europas auszuweiten. Schon walten und verwalten in Rom und Athen Experten, die weniger dem Volk als vielmehr einer kleinen Schar von Kommissären verpflichtet sind, die von niemanden gewählt worden sind. Es gehört wenig Fantasie dazu, sich diesen postpolitisch "alternativlosen" Zustand auch bald in Madrid, Paris und Berlin vorzustellen.