"Es ist so schön das Leben. So lang"

Existentielles Kino: Mit dem Sterbedrama "Amour" gewinnt der Österreicher Michael Haneke nach nur drei Jahren zum zweiten Mal die Goldene Palme in Cannes

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der Österreicher Michael Haneke gewinnt für seinen Film "Amour" bei den Filmfestspielen in Cannes seine zweite "Goldene Palme"! Mit dieser sehr verdienten, für viele Beobachter gleichwohl überraschenden Entscheidung ging gestern Abend die 65. Ausgabe des wichtigsten Filmfestivals der Welt zuende.

Am Ende eines Wettbewerbs ohne klare Favoriten und vor allem ohne echte filmische Meisterwerke, mit dann doch recht vielen Männer- und Männerbundsfilmen, lautet das generelle Urteil der professionellen Besucher: Ein eher schwaches, insgesamt enttäuschendes Jahr.

Weitere Preise gingen an den Mexikaner Carlos Reygadas, der die Silberne Palme für die "Beste Regie" bekam (für seine finstere Höllenfahrt "Post Tenebras Lux"), den Italiener Matteo Garrone ("Großer Preis der Jury" (Grand prix du jury) für den Theaterfilm "Reality"), an den Briten Ken Loach (Jury-Preis für Underdogkomödie "The Angel's Share") sowie den Rumänen Cristi Mungiu für das "Beste Drehbuch" für "Beyond the Hill". Dessen Hauptdarstellerinnen Cosmina Stratan und Cristina Flutur teilen sich gemeinsam auch sehr verdient den Preis für die "Beste Darstellerin". "Bester Darsteller" wurde Mads Mikkelsen für Thomas Vinterbergs "Jagten".

Allgemein hatten die professionellen Besucher des Filmfestivals nicht mit einer zweiten Goldenen Palme für Haneke innerhalb von nur drei Jahren gerechnet. Erst 2009 hat der Wiener mit seiner sechsten Wettbewerbs-Teilnahme in Cannes für "Das Weiße Band" endlich den ersehnten Hauptpreis gewonnen.

Auch der Preis für Reygadas und die Schauspielpreise gehen in Ordnung. Stirnrunzeln kann man hingegen nur über die Auszeichnungen für Garrone und Loach und Mungius' Drehbuchpreis. Am meisten überrascht allerdings, dass diesmal zum ersten Mal seit zehn Jahren kein einziger Preis an einen französischen Film ging: Für Leos Carax surrealen "Holy Motors" wäre er hochverdient gewesen - erwartet hatte man ihn eher für Jacques Audiards arg braves Sozialdrama "De Rouille et d'Os".

Der Ernst des Lebens hat brutal zugeschlagen

In "Amour" (Liebe) erzählt Haneke von zwei Menschen und deren letztem gemeinsamen Weg. Es ist eine Abwärtsspirale, ein Weg zum Tode. Aber "Amour" handelt nicht von Sterbehilfe, auch nicht vom Freitod. Vielleicht handelt er nicht einmal vom Tod. Sondern vom Sterben.

amour1.jpg
Fotos/Verleih: filmcoopi

Man lernt ein Paar kennen, Georges und Anne, beide in den 80ern, aber wach und rüstig, gespielt von Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva. Der Film beginnt mit einem gemeinsamen Abend im Konzert, schnell spürt man Vertrautheit, Intimität, Liebe. Beide sind in aller Vertrautheit unglaublich freundlich und achtsam zueinander, voller Respekt. Man lernt die Verhältnisse kennen: Sehr bürgerlich, wohlhabend, eine wunderschöne große Altbauwohnung. Musik spielt in beider Leben eine zentrale Rolle. Sie waren Musikprofessoren - wie vor elf Jahren Isabelle Hupperts Erika Kohut in der spektakulären Jellinek-Verfilmung "Die Klavierspielerin", die auch am liebsten Schubert spielte. Viele alte Möbel, Bilder und Bücher umgeben sie, es gibt ein Klavier, keinen Fernseher und PC, aber eine CD-Anlage und ein Mobiltelefon.

Wir verstehen: Sie finden Glück in der Kunst, kennen keine Langeweile, hatten ein offenkundig erfülltes Leben. Aber am Ende nutzt es alles nichts: Eines Morgens hat sie einen ersten Schlaganfall. Nach der Operation kommt sie im Rollstuhl nach Haus. Sie will dann nur eins von ihm: "Versprich mir: nie wieder zurück ins Hospital." Der Ernst des Lebens hat brutal zugeschlagen, nichts wird wieder wirklich in Ordnung sein, das ist klar. Die Gesichter erzählen alles, was hier geschieht, und Haneke beobachtet: Voller Anteilnahme, sehr neugierig, ruhig und genau, nicht zu schnell oder zu langsam. "Amour" ist ein Kammerspiel, völlig konzentriert auf die zwei Menschen, nur gelegentlich unterbrochen vom Besuch der Tochter (gespielt von Isabelle Huppert).

amour2.jpg

Wir sehen Intimität: Georges hilft beim Aufstehen, bei der Toilette, bei der Gymnastik. Wenn sie ins Bett gemacht hat. Noch haben sie schöne Momente, noch kann sie reden. Einmal sagt sie ihm "Ich kann nicht mehr. Ich bin müde". Einmal blättert sie in einem Fotoalbum, passiert Stationen ihres Lebens: "Es ist so schön das Leben. So lang."

Das Töten als Liebeshandlung

Stück für Stück wird alles schwerer, unangenehmer, schlimmer. Auch Geld hilft nicht. Zwei Pflegerinnen kann man zahlen. Trotzdem wird alles immer hässlicher. Haneke stellt nichts aus. Aber die Krankheit stellt aus und bloß; sie beutet aus. So ist dies immer wieder ein erschütternder Film. Man möchte nicht so hinfällig werden. Man möchte sich mit alldem ganz und gar nicht konfrontieren, ist aber doch froh, dass und wie Haneke es tut - und trotz allem gibt es viele schöne Momente. Irgendwann, sehr unvermittelt, erstickt Georges Anne plötzlich mit dem Kopfkissen. Der Todeskampf ist lang - trotzdem begreift jeder: Dies ist eine Liebeshandlung.

amour3.jpg
Haneke bei den Dreharbeiten

Haneke stellt sich der Angst vor dem Alter, vor der Krankheit, die wir alle kennen. "Amour" ist Kino mit existentieller Dimension, packend, ungemein präzis erzählt, dabei unaufdringlich. Haneke ist vor allem neugierig. Auf die Menschen, auf die Zustände, die er zeigt. Ein Meisterwerk - und ein verdienter Sieger im Wettbewerb.