Je weniger gewusst wird, desto radikaler die politischen Einstellungen?

Eine US-Studie behauptet, dass extreme politische Haltungen von weitgehend eingebildetem eigenen Verstehen unterstützt werden

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Ein Team aus Wissenschaftlern unterschiedlicher Universitäten – Harvard, Brown, UCLA und der London School of Business – ist der Frage nachgegangen, inwieweit vermeintliches Wissen in Zusammenhang steht mit extremeren politischen Positionen. Sie wollten der Frage nachgehen, ob Personen "ungerechtfertigtes Vertrauen" in ihr Verständnis komplexer politischer Mechanismen haben, und ob diese "Illusion" größeren Verständnisses letztlich zu einer radikaleren Haltung zu politischen Themen beiträgt.

Ihrer Studie, die mit einer Grundgesamtheit von knapp 200 Teilnehmern arbeitete, liegen drei Versuche zugrunde. Die Teilnehmer sollten ihre eigenen Kenntnisse zu sechs politischen Themen einschätzen. Darunter befanden sich Fragestellungen wie einseitige Sanktionen gegen Iran wegen des Nuklearprogramms; die Anhebung des Rentenalters, um die Sozialkassen zu entlasten; die Einführung einer nationalen Flat-Tax und die erfolgsabhängige Bezahlung von Lehrern. Mit der Einschätzung des eigenen Kenntnisstands sollten auch Bewertungen zu den Fragen abgegeben werden – von "stark dafür" bis "stark dagegen".

Nachdem Teilnehmer die Bewertungen abgegeben hatten, sollten sie zwei zufällig aus den sechs ausgewählten Themen in Details und in der Logik von Abläufen ("mechanistic explanations") erklären. Danach wurden sie erneut darum gebeten, ihre Haltung in einer mehrstufigen Skala von "stark dafür" bis "stark dagegen" anzugeben. Das Ergebnis entsprach der Annahme der Studienautoren: Die Haltungen unterschieden sich signifikant von denen, die vor den Erklärungsversuchen abgegeben wurden. Sie waren deutlich moderater. Auch die Gruppe von Teilnehmern, die nicht schon vor den Erklärungen nach ihrer Haltung gefragt wurden, sondern erst, nachdem sie das politische Problem erklären sollten, neigte in ihren Haltungen deutlich weniger zu extremen Antworten.

Um den Zusammenhang von politischen Haltungen mit vermittelbaren Kenntnissen (statt nicht weiter hinterfragter Überzeugung) näher zu untersuchen, wurden die Teilnehmer in einem anderen Experiment danach gefragt, Gründe für ihre Haltung anzugeben. Das konnte ein Gefühl sein, ein Wert oder eine Regel - eine Erklärung, wie die Politik in dem bestimmten Bereich funktioniert, war hier nicht notwendig. Dabei beobachteten den Forscher den Effekt des ersten Experiments nicht.

In einem dritten Versuch wollten die Wissenschaftler herausfinden, ob das veränderte Bewusstsein über den eigenen Kenntnisstand auch konkrete politische Konsequenzen hat. Als Indiz dafür nahmen sie Bereitschaft, einer der politischen Haltung der Befragten nahestehenden Organisation Geld zu spenden. Das Ergebnis fiel analog zum ersten Versuch aus. Die Bereitschaft zum Spenden nahm ab, wenn sich die Teilnehmer durch ihre Erklärung politischer Funktionsmechanismen gewahr wurden, dass ihre Sachkenntnis nicht so groß ist, wie sie zvuor angenommen hatten.

Für die Wissenschaftler ein klarer Beweis für ihre These, die bereits in der Überschrift der Studie formuliert wird: "Political Extremism is Supported by an Illusion of Understanding". Ihr Schluss daraus: Politische Debatten wären fruchtbarer, wenn die Protagonisten zunächst mehr Wert darauf legten, politische Themen nach Zusammenhängen, Folgen usw. aufzublättern und zu diskutieren, bevor man zur üblichen Diskussion über Vorlieben und Positionen übergeht.