Kaufrausch, Kaufsucht, Zwangskonsumenten

Die heute in Deutschland und Österreich zeitgleich vorgestellten aktuellen Studien zur Kaufsuchtgefährdung im Jahr 2011 bieten einen skurrilen Schnappschuss der Konsumgesellschaft: "Wirtschaftskrise gibt's im Fernsehen, aber nicht im Kaufhaus"

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Obsessiver Kaufzwang

Trotz der im Sommer 2011 erneut ausgeuferten Europäischen Finanzkrise ist die Zahl der Kaufsuchtgefährdeten gleich hoch geblieben wie 2010: 19 Prozent insgesamt in Deutschland, 28 Prozent insgesamt in Österreich.

Bei der Kaufsuchtgefährdung, gemessen mit dem Hohenheimer Kaufsuchtindikator, der seit den 90er Jahren vielfach getestet und auch klinisch validiert wurde, unterscheidet man zwei obsessive Verbrauchertypen. Zum einen die ausgeprägt kompensatorisch konsumierenden, kaufsuchtgefährdeten Verbraucher, und zum anderen solche Verbraucher, die schon ein de facto süchtiges, zwanghaftes Kaufverhalten aufweisen.

Deutschland

Der Prozentsatz der Personen, die so ein "süchtiges" Kaufverhalten aufweisen, ist von 7 Prozent (2010) auf nunmehr 9 Prozent gestiegen, die Gruppe mit einem ausgeprägt kompensatorischen, suchtgefährdeten Kaufverhalten ist von 12 Prozent (2010) auf 10 Prozent gesunken.

Insgesamt sind wie im Vorjahr 19 Prozent betroffen. Männer und Frauen haben sich beim "süchtigen" Verhalten nunmehr angeglichen. Die Angleichung, die zwischen Ost und West (Deutschland) in den letzten Jahren zu beobachten war, hat sich in diesem Jahr wieder umgekehrt. ( Pressemitteilung, Bericht in den nächsten Tagen hier).

Österreich

2011 beträgt der Anteil der kaufsuchtgefährdeten Bevölkerungsgruppe (also jener Gruppe, die ausgeprägt kompensatorisch kauft) wie im Vorjahr rund 20 Prozent. Dazu kommt der Anteil der stark Kaufsuchtgefährdeten (also jener Gruppe, die de facto kaufsüchtig konsumiert), der 2011 bei knapp 8 Prozent und damit auf gleichem Niveau wie 2010 liegt. Insgesamt sind es wie im Vorjahr 28 Prozent der Bevölkerung.

Der Anteil weiblicher Kaufsuchtgefährdeter liegt auf einem sehr hohen Niveau deutlich über dem der männlichen Verbraucher. In der jüngsten Altersgruppe von 14 bis 24 Jahren ist der Anteil kaufsuchtgefährdeter Personen im Vergleich zum Vorjahr um 10 Prozent gestiegen, junge Frauen sind zu insgesamt 70 Prozent betroffen. Bei den älteren Gruppen hat er leicht abgenommen. ( Kurzbericht oder hier).

Was macht die Unterschiede?

Zum einen mag die Konsumgebundenheit von sozialer Anerkennung (Anerkennung ist ja ganz wichtig für Menschen) kulturell gewissermaßen von Süd nach Nord abnehmen. Dafür spricht, dass die Skandinavier die geringste Ausprägung von Kaufsucht und kompensatorischen Konsum aufweisen: 10 Prozent waren es 2010, die aktuellen dänischen Zahlen kommen erst im Januar 2012.

Ein zweiter Unterschied liegt vermutlich in der unterschiedlichen Ausprägung von Postmaterialismus und Materialismus. 10 Prozent der Deutschen sind Materialisten, aber 35 Prozent der Österreicher; Postmaterialisten gibt es in Deutschland 27 Prozent, in Österreich 10 Prozent. Daten für Dänemark gibt es hier leider nicht.

Gründe für kompensatorischen Konsum und Kaufsucht

Kaufentscheidungen sind ausgeprägt sozial verflochten (wobei sozial, von den Peer-Groups abgesehen, durch "medial vermittelt" ersetzt wurde). Positionale und kompensatorische Motive spielen eine große Rolle bei Konsumaktivitäten.

Konsum, genauer: das Verfügen über Konsumgüter und deren Symbolik, ist auch vielfältig mit personaler Identitätskonstruktion verbunden. Diese identitätskonstruktive Funktion von Konsum hat mit der werblichen und (sub)kulturellen Aufladung von Waren (und Dienstleistungen) zu tun, die insofern grundsätzlich sozial unverträglich wird, da sie nie auf die individuell verfügbaren Einkommens- und Konsummöglichkeiten abstellt, die ja in der Praxis für viele eng beschränkt sind. In der Werbung, abgesehen bei der Preiswerbung der Diskonter, gibt es keine finanzielle Knappheit.

Über viel Geld und viele ganz moderne Konsumgüter zu verfügen, das – so wird den Menschen von Werbung und Medien klargemacht – heißt Glück.

Für rund 34 Prozent der 14- bis 24-Jährigen und beispielsweise 25 Prozent der unteren Einkommensgruppe ist dezidiert Konsum ein Weg, um dem unerfreulichen Alltag zu entkommen (österreichische Daten).

Bei den 14- bis 24-Jährigen sagen z.B., dass das für sie zutrifft oder sehr zutrifft:

  • Wenn ich durch die Innenstadt oder durch ein Kaufhaus gehe, fühle ich ein starkes Verlangen, etwas zu kaufen: 48 %
  • Oft habe ich das Gefühl, dass ich etwas Bestimmtes unbedingt haben muss: 48 %
  • Manchmal sehe ich etwas und fühle einen unwiderstehlichen Impuls, es zu kaufen: 41 %
  • Oft verspüre ich einen unerklärlichen Drang, einen ganz plötzlichen dringenden Wunsch, loszugehen und irgend etwas zu kaufen: 41 %

Das muss man sich ja für sich vorstellen: Sie verspüren oft(!) einen ganz plötzlichen Drang(!), aufzuspringen und irgendetwas(!) zu kaufen. Selbst wenn es zutrifft, sagen Sie da in jedem Fall, ja, das trifft auch mich zu?

Identität und soziale Anerkennung aus Arbeit oder Konsum?

Berufsarbeit und der Konsum- und Freizeitbereich (der aber auch wieder meist auf Konsum basiert) sind heute die zwei relevanten Anerkennungsfelder. Die Familie, die früher einmal sehr bedeutsam war, ist es längst nicht mehr, Stichwort: Scheidungsraten.

Mit der Arbeit sind heute viele unzufrieden, Unzufriedenheit führt oft zu kompensatorischem Verhalten - bleibt nur der Konsum fürs Glück, hat es den Anschein. Eigentlich eine depressiv machende Gesellschaft. Man könnte das verändern, aber da bekommt man es schnell mit den Unternehmerinteressen zu tun, und da sind die meisten politischen Akteure gefügig. Natürlich lobt die Politik den eifrigen Verbraucher, sonst gerät unsere Wirtschaft in die Rezession. Und das Hohelied des Konsums wird tagtäglich in den Medien auf und abgespielt: Kauf, Baby, kauf!