Menschenrecht auf Vorhaut?

Ein Einschnitt in die Freiheit und der Vorrang des Körpers vor dem Geist - was die Debatte um die Knabenbeschneidung uns verrät. Ein Meinungsbeitrag

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Das viel diskutierte Kölner Urteil zur Knabenbeschneidung und die anschließende Debatte sind nicht nur höchst inkonsequent. Sie haben überdies mit den ins Feld geführten Menschen- und Kinderrechten nichts zu tun, belegen aber dafür einmal mehr die modische doppelte Vergötzung des Körpers und der Religion sowie die Feindschaft der deutschen Mehrheitsgesellschaft gegenüber Judentum und Islam.

Die Vergötzung des Körpers liegt darin, dass der gesundheitliche Gewinn einer Impfung, eine Korrektur des Gebisses oder der Segelohren als guter Grund für einen chirurgischen Eingriff gilt, der sozial-kulturelle Gewinn der Beschneidung aber als schlechter Grund. Das Urteil nimmt sehr wichtig, was möglicherweise durch die Beschneidung dem Körper eines acht Tage alten Kindes angetan wird, und ignoriert, was möglicherweise durch die Nichtbeschneidung der sozialen Person des Kindes angetan wird. Deutsche Gerichte ignorieren Taufen, sie ignorieren die religiöse und weltanschauliche Erziehung durch die Eltern und die Schule, sie ignorieren mögliche Traumata durch Medienkonsum. In solchen Fällen argumentieren sie nie mit der eingeschränkten Freiheit des Kindes oder dem Kindeswohl, der UN-Kinderrechtskonvention, dem kindlichen Selbstbestimmungsrecht und dem Recht des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung wie im Fall der Beschneidung. Aber sie halten hier plötzlich Naturkitsch für wichtig, also das, was "die Natur" "will", und dass "die Evolution" das inkriminierte Teil offensichtlich nicht für störend hält.

Nun könnte es aber ja sein, dass auch die Nichtbeschneidung dem Kindeswohl schadet und dass es neben dem körperlichen auch ein geistiges, ein seelisches und ein emotionales Kindeswohl gibt.

Die Freiheit zur Erziehung der Kinder

Die Vergötzung der Religion liegt darin, dass die Gegner des Kölner Urteils mit Religionsfreiheit argumentieren, anstatt mit dem viel naheliegenderen Elternrecht. Denn es geht bei dem Kölner Urteil nicht etwa um die Frage, ob körperliche Unversehrtheit wichtiger ist oder Religionsfreiheit. Bei dieser Frage wäre die Antwort klar. Natürlich ist körperliche Unversehrtheit wichtiger. Nur: Was heißt denn eigentlich körperliche Unversehrtheit? Ob mit der Beschneidung überhaupt der Körper versehrt wird, liegt im Auge des Betrachters.

Sehr wohl aber gibt es noch das Elternrecht. Die Freiheit also zur Erziehung der Kinder, die engen Grenzen, die dem Staat bei einer Einmischung in die Privatsphäre gesetzt sind. Die Gesellschaft ist sich völlig einig, dass es erlaubt ist, dass Eltern ihren Kindern Zwang und Gewalt antun, wenn sie sie etwa gegen ihren Willen zum Schulbesuch zwingen, zum Essen.

Auch Schmerzfreiheit kann ganz und gar nicht das einzige oder ausschließliche Ziel elterlicher Sorge und ärztlichen Handelns sein. Schon bei der Geburt geht es los: Kinder haben Schmerzen und können Traumata entwickeln, während sie geboren werden. Bei der Abtrennung der Nabelschnur hört man keineswegs auf "die Natur" und lässt jene einfach abfallen.

Aber es geht viel weiter: Das Wegschneiden von - gar nicht so seltenen - sechsten Fingern und Zehen und anderen "Fehlbildungen" wird selbstverständlich unternommen. Später dann sind Impfungen so selbstverständlich wie Zahnspangen, Brillen, korrigierte Segelohren und andere Ohrstellungen sowie ähnliche Schönheitsoperationen. Vom Ohrlochstechen und Tattoos zu schweigen. Bei allem gilt: Traumata hin, mögliche Nebenfolgen her, und Schmerzen muss man in Kauf nehmen. Nur bei der Knabenbeschneidung darf all das nicht mehr gelten?

Dabei stehen einige Fakten fest: Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt generell die Männerbeschneidung zur Reduktion von AIDS, für weitere Reduktionen medizinischer Risiken, etwa der für Peniskarzinome und aus allgemein hygienischen Gründen. Ein Drittel der männlichen Menschheit ist beschnitten. Seit Jahrtausenden ist Knabenbeschneidung die weitverbreitetste chirurgische Maßnahme. Sollten von ihr tatsächlich besondere Schäden zurückbleiben, hätte man das vielleicht inzwischen merken können.

Wir wollen jetzt nicht in die unwesentlichen Details gehen, ob der Sex wirklich "besser" ist, wie manche Frauen behaupten, wenn Männer beschnitten sind, ob Männer mit oder ohne "länger können", darüber, ob Männer ein "Menschrecht auf Vorhaut" hätten, wie einige jetzt allen Ernstes behaupten.

Judentum und Islam sind offenkundig nicht erwünscht

In all dem aber liegt die große Inkonsequenz der Rede über die Knabenbeschneidung. Es ist eine typisch deutsche Debatte: Man redet nicht über Integration, nicht über Elternrecht und Kinderschutz. Die deutsche Politik ignoriert konsequent alle möglichen Chancen, Kinder in Deutschland wirksam zu schützen, etwa durch Bildung, auch der zukünftigen Eltern und durch ausreichende Bereitstellung von Kindertagestätten- und Kindergartenplätzen.

Aber bei der Frage der Beschneidung kümmert das Kindeswohl plötzlich alle. Es ist kaum ein Zufall, dass dies bei einer Frage geschieht, die das Christentum nicht, Islam und Judentum aber essentiell betrifft, dass hier Ängste vor dem Anderen, Fremden sich an einem symbolischen Akt bündeln lassen. Judentum und Islam sind offenkundig nicht erwünscht. Der einzelne Mensch mag erwünscht sein. Aber zentrale Punkte der ausgeübten Religion - Bau von Gotteshäusern, Schächten, nun Beschneidung - werden vom Strafrecht her sanktioniert. Dies ist ein Zeichen des Unerwünschtseins.

Nichts aber macht einem mehr Angst und Bange als der Furor all der selbstgewissen, all der billig und gerecht denkenden Deutschen, die jetzt zwei große Weltreligionen darüber belehren wollen, was dem Kindeswohl zu dienen hat und welche Traditionen man sich bitteschön abschminken soll. Als deutscher Staatsbürger kann man nicht wünschen, dass es religiösen Juden in Deutschland unmöglich gemacht wird, ihren Glauben zu leben.

Noch einmal abschließend: Manche Psychologen argumentieren damit, in "einzelnen Fällen" der Beschneidungen käme es zu Traumatisierungen. Das mag schon sein. Aber es kommt auch in anderen "einzelnen Fällen" zu Traumatisierungen. Wenn Kinder ins Internat gesteckt werden zum Beispiel. Durch schlechte Lehrer. Durch das kalte Wasser bei der Taufe. Wird all dies deshalb zu einer strafbaren Handlung?

Der Staat muss und sollte Beschneidungen gar nicht ausdrücklich erlauben. Es genügt völlig, dass er sie duldet und nicht für strafbar erklärt. Wenn der Staat die positive Religionsfreiheit ungebührlich einschränkt, dann muss man sie verteidigen.