"Tatort" Thüringen
Ramelow Ministerpräsident - eine Sensation, die keine ist
Auch ein "Offener Brief von Wolf Biermann nach Erfurt", am Wahlmorgen von der F. A. Z. publiziert, hat das Ergebnis des Wahlkrimis nicht umschreiben können: Thüringen hat einen Ministerpräsidenten der Partei Die Linke. Dem Anschein nach handelte es sich um ein sensationelles politisches Ereignis; was sonst hätte über dreihundert Journalisten dazu bewegt, dem Schauspiel im thüringischen Landtag beizuwohnen, selbst Al Jazeera fehlte nicht.
Deutschlandweite Umfragen gingen voraus und mediale Wetten: "Schafft er es im ersten Wahlgang?" Ramelow brauchte den zweiten Gang zur Wahlkabine, in Folge einer enthaltsamen Simme im ersten, vermutlich wollte ihm einer seiner Koalitionäre einen kleinen Denkzettel mitgeben.
Nun sei "der erste linke Ministerpräsident in der Geschichte der Bundesrepublik" ins Amt gehoben, heißt es in den Kommentaren (womit nebenbei unterstellt wird, ehemalige oder jetzige Landesväter oder -mütter aus der SPD seien nicht "links"). Aber aufgeregte Reaktionen, von Befürchtungen oder (weitaus seltener) wie bei Gregor Gysi von euphorischen Gefühlen getrieben, halten einem Faktencheck nicht stand: "Revolutionäres" hat die neue Regierungskoalition in Erfurt nicht im Sinn.
Keineswegs muß sie, wie einst im politisch stürmischen Jahr 1923, durch "Reichsexekution" und mit militärischer Beihilfe aus ihrem Amt vertrieben werden. Auf ihr Programm hätte sich unter anderen politischen Umständen notfalls auch eine CDU-Landespartei einlassen können. Bodo Ramelow hat sich als begabter Arrangeur und Verhandler erwiesen, umstürzlerischer Neigungen ist er durchaus unverdächtig. Er dankte für seine Wahl mit freundlichen Worten auch an die nun oppositionelle CDU.
Auf bundespolitische Entscheidungen kann die thüringische Landesregierung keinen kursverändernden Einfluss nehmen. Sie wird in dieser Hinsicht auch Zurückhaltung üben; ihr Zusammenhalt ist fragil, Ramelow wird im Zweifelsfall seine Koalitionspartner nicht verärgern wollen.
Die Partei Die Linke kann in der Tatsache, dass erstmals einer der ihren Landesvater ist, einen Effekt der "Normalisierung" für sich sehen. Als koalitionsfähig auf Länderebene war sie aber von der SPD schon vorher akzeptiert. Unrealistisch wäre die Annahme, mit Ramelow als Ministerpräsidenten Thüringens wäre nun der Weg zu einer Koalition mit SPD und Grünen in der Bundespolitik angebahnt. Ob das Erfurter Regierungsbündnis hält und zu einem Erfolg wird, ist ungewiss. Aber davon abgesehen - im Bund bestehen bei Teilen der SPD und der Grünen massive Vorbehalte gegen eine Berliner Koalition mit der Partei Die Linke, die auch durch Ramelow als Landesvater nicht wegzuräumen sind. Auch werden SPD und Grüne ihre demoskopischen Aussichten für die nächste Bundestagswahl so nicht verbessern können.
Fazit: An den bundespolitischen Kräfteverhältnissen und Machtperspektiven ändert sich durch die MP-Wahl in Thüringen nichts. Dieser Polit-"Tatort" hatte seine Hochspannung nur virtuell.