Weniger ist mehr
Warum die jüngste Klage über die grassierende Informationsflut, die unsere Gehirne deformieren soll, eine Scheindebatte ist.
"Multitasking ist Körperverletzung", klagt Frank Schirrmacher in "Payback" ( Im Mediengewitter ratlos), seinem seitdem vieldiskutierten Werk. Mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, Schreiben, Lesen, Zuhören und Sprechen, heißt bei ihm, "ständig abgelenkt" zu sein, nicht mehr "zwischen wichtig und unwichtig zu unterscheiden" und so die Kontrolle über all das zu verlieren, was Menschen von Rechenmaschinen unterscheidet, nämlich "Kreativität, Flexibilität und Spontaneität".
Nun könnte man kühl dagegen einwenden, dass "die" Menschen, die der FAZ-Herausgeber und selbsternannte Netzavantgardist vor Augen hat, über diese Fähigkeiten, zumindest in der dargestellten Breite, gar nicht verfügen. Weder im realen noch im virtuellen Leben.
"Sind das noch Menschen", fragt sich 1874 schon Nietzsche, "oder vielleicht nur Denk-, Schreib- und Rechenmaschinen" ( Jesus und der Drucker), ehe er sich acht Jahre später eine Malling-Hansen Schreibkugel zulegt, um fortan selbst zur Schreibmaschine zu werden, die statt ausgefeilter Gedanken und Argumenten fortan nur noch Aphorismen, Wortspiele und SMS absondert.
Folgt man US-Studien zum Internetverhalten, dann weisen amerikanische Surfer, und die Zahlen dürften hierzulande nicht viel anders sein, im Schnitt einen Intelligenzquotienten von gerade Mal 100 auf, einen Wert, der von der realen Gesamtbevölkerung nicht entscheidend abweichen dürfte.
Erst recht entdramatisiert wird Schirrmachers Behauptung durch den so genannten "Flynn-Effekt". Dieser besagt, kurz gefasst, dass im Laufe der Jahrzehnte der Intelligenzquotient der Bevölkerungen in den reicheren Gesellschaften stetig gewachsen ist ( Die Menschen werden immer intelligenter).
Dass Medientechnologien diesen Vorgang beschleunigt haben, will der Wirtschaftsökonom Tyler Cowen zwar nicht unbedingt behaupten. Gleichwohl hat er aber auch nicht den Eindruck ( Three Tweets for the Web), dass die Leute dadurch irgendwie dümmer oder unaufmerksamer geworden seien. "Eine von Multitasking gestresste Gesellschaft", so seine Schlussfolgerung, "scheint folglich durchaus kompatibel zu sein mit höheren IQ-Werten."
So düster, wie Schirrmacher sie uns schildert, kann die Lage also nicht sein. Zweifellos leben wir inmitten einer Zeit großer kultureller Veränderungen. An ihnen ist das Internet mit Sicherheit nicht ganz "schuldlos". Vernetzte Computer verändern unser Denken und unser Tun, aber auch unsere Expressivität und wie wir uns gegenüber anderen verhalten.
Die Frage, die Schirrmacher jetzt gemeinsam mit dem US-amerikanischen Literaturagenten John Brockman in der FAZ aufwirft ( Die Frage des Jahres 2010) und seine Leser inständig bittet, sich daran doch zu beteiligen ( Wie hat das Internet Ihr Denken verändert?), ist so neu auch wieder nicht.
Noch zu allen Zeiten kam es, wenn ein neues Medium, ein neuer Stil oder eine neue Mode die Menschen ereilt hat, zu kulturellen Schwanengesängen. Das war bei der Einführung des Fernsehens, der Comic- oder Heftchenkultur nicht anders wie beim Rock'n'Roll oder beim Longhair-Look junger Männer. Warum sollte das ausgerechnet bei der Internetkultur anders sein?
Gewiss lenkt sie so manchen User vom Wesentlichen ab. Die Netzkultur zerstreut seine Gedanken, macht ihn unaufmerksamer und stört häufig auch seine Konzentration. Vor allem, wenn es dabei noch ständig fiept und piept, Botschaften per Handy oder Email empfangen werden, während gleichzeitig der iPod tobt, ein Nachbar daherquasselt und er mit dem anderen Auge vielleicht auch noch die Kursverläufe an den internationalen Finanzmärkten verfolgen will.
Wer sich häufig auf Flughäfen, an Bushaltestellen und anderen Terminals aufhält oder sich auf Konferenzen oder Tagungen bewegt, wird vielfach nur noch Leute beobachten, die ständig nervös mit der einen Hand hastig etwas in ihr Handy hineintasten, während sie mit der anderen am Laptop herumscrollen und mit den Ohren jener Stimme lauscht, die vor ihm eine Powerpoint Show abzieht.
Gewiss verändert die Internetkultur auch die kognitiven Strukturen des menschlichen Gehirns nachhaltig. Unter Kognitionsforschern ist unstrittig, dass diese Anpassung auf einer tieferen biologischen Ebene stattfindet und die Art und Weise betrifft, wie sich unsere Nervenzellen oder Neuronen miteinander verbinden. Technologien, mit deren Hilfe wir denken oder Informationen erlangen, aufbewahren und mitteilen suchen, sind wichtige Bestandteile unserer intellektuellen Umwelt und prägen unser Denken, Tun und Lassen in hohem Maße.
ADS und ADHS, die Kinder und Jugendlichen zunehmend ereilen, aber auch die notorische Unaufgeräumtheit, die viele Netzarbeiter an den Tag legen, signalisieren, jenseits ihrer psychomedikalen Zurichtung, derer sich Seelendoktoren befleißigen, dass der ungehemmte Bildschirmkonsum auch seine Opfer fordert und der Zappelphilipp keine bloße Erscheinung der im Abdanken begriffenen Gutenberg-Galaxis mehr ist.
Freilich ist das Internet nicht die erste Kultur, die diese vermeintliche "Deformierung" des Gehirns anrichtet. Seit Platons "Phaidon" wissen wir, dass der Philosoph Sokrates, von dem bekanntlich nichts Schriftliches übermittelt ist, schon damals, beim Übergang von der Sprache zur Schrift, befürchtet hat, dass das Gedächtnis der Menschen künftig lückenhafter würde und sie daher immer vergesslicher würden, sollten sie ihre Gedanken veräußerlichen und sich zunehmend auf das geschriebene Wort verlassen.
Zwar erhielten die Menschen via Schrift eine Unzahl an Informationen, die sie als überaus wissend erscheinen lassen. Weil sie aber nicht über die nötigen Instruktionen verfügten, wie damit zu verfahren sei, würden sie, so der Philosoph, über kurz oder lang zu Nichtwissenden. Statt daran zu reifen, klug und weise zu werden, erlangten sie beides nur noch in eingebildeter Form.
Diese Beobachtung gilt zum großen Teil auch noch heute, wo wir die Epoche des Schriftlichen langsam hinter uns zu lassen beginnen. Nicht nur, dass die meisten Leute sich ein Gedicht, einen Monolog oder einen Liedtext für längere Zeit nicht mehr merken können, es hat auch den Anschein, als ob sie, statt auf ihre eigenen Erfahrung und Intuitionen zu vertrauen, sich mehr und mehr auf das verlassen, was ihnen das Netz an Wissen, Erkenntnissen und Weisheiten liefert. In steter Habachtstellung verweilen sie davor oder warten verzweifelt und im Minutentakt auf das nächste "Hallo" oder "Hi, my love", im irrigen Glauben, die nächste Botschaft könnte ihr Leben entscheidend verändern.
Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass das Leiden an der "Informationsflut" auch und vor allem eine Frage der Filterung und ihrer Qualität ist. Niemand wird gezwungen, bei Twitter.com einen Account zu haben, bei Flickr.com Bilder hochzuladen oder sich bei Facebook.com zusätzliche Freundschaften neben seinen anderen zu suchen.
Niemand fordert, dass man alle fünf Minuten seinen Mailbox checken oder eine nichtssagende SMS versenden oder sofort lesen muss. Und niemand verlangt, dass man Aberhunderte von Graswurzelblogs abonnieren oder sich mit Videos, Spielen oder Onlinechats allabend- oder allmorgendlich die Zeit stehlen lassen muss.
Wer nicht die richtigen Werkzeuge besitzt oder nicht weiß, wie er sich des Netzes bedient oder sich darin richtig bewegt, wird dort wie im Straßenverkehr, im Betrieb oder an der Börse scheitern. Kognitiver Schaden entsteht nicht durch die Vielfalt neuer Medientechnologien, sondern nur dann, wenn mein sein Tun nicht im Griff hat und das Ganze aus dem Ruder läuft. Auch im Alltag, etwa im Umgang mit Drogen, Beziehungen oder Haushalt muss jeder Einzelne Tag für Tag Verantwortlichkeiten beweisen, beim Einkaufen und im Konsumieren von Alkohol genauso wie beim Sex oder im Fitnessstudio.
Kommen Leute damit nicht zu Rande, heißt das im Umkehrschluss nicht, dass andere auch damit nicht zurechtkommen und daran verzweifeln müssen. Funktionieren die Filter, verschwindet auch schnell das Gefühl des ständigen Überfordertseins. Ist sie unter individueller Kontrolle, wird das gleichzeitige Tun vieler Dinge auch nicht zum Problem. Wer an all dem scheitert oder laut darüber klagt, verrät nur viel über seine eigene Unfähigkeit, Ordnung, Organisation und Sinn in seinen Alltag zu bringen. Man geht daher sicher nicht fehl in der Annahme, dass kluge Leute auch in diesen Dingen Talent und Begabung offenbaren.
Um auf dem Stand der Dinge zu sein, reichen ein paar ausgewählte, kulturpolitisch ebenso relevante wie unterschiedlich eingefärbte Netzadressen aus, denen man einigermaßen Vertrauen und Glaubwürdigkeit entgegenbringt. Werden diese enttäuscht oder untergraben, dann ist es dank der neuen Medientechnologien ein Leichtes, diese Adresse aus seinem Speicher zu löschen und rasch zu einer anderen weiterzuziehen.
Bindungen wie früher muss man nicht mehr eingehen. Wenn es dem geneigten User an etwas fehlt, dann sicherlich nicht an Menge oder Masse, sondern an virtuellen Leuchttürmen, die Qualitäten vermitteln und ihm Vertrauen und Verlässlichkeit signalisieren. Es liegt an Frank Schirrmacher, dafür ein Zeichen zu setzen. Das Missionieren dagegen sollte er lieber anderen überlassen.