Zuchtmeister ohne Mumm
Wirtschaftlich ein Riese, politisch ein Zwerg. Die Forderungen nach deutscher Führung in Europa nehmen zu
Kürzlich erschien in sechs renommierten europäischen Zeitungen ein Essay des deutsches Finanzministers Wolfgang Schäuble. Überschrieben war der Artikel mit den Worten: "Kein deutsches Europa!" Das "besondere politische Gebilde Europa" eigne sich nicht dafür, so der Autor, dass ein Land Takt und Ton vorgebe, nach denen alle anderen zu tanzen hätten.
Nicht wegen der besonderen Geschichte Deutschlands, wie der Leser des Textes vielleicht ad hoc hätte meinen können und der Schreiberling des Artikels auch flugs versicherte. Sondern weil Deutschland, das Land in der Mitte Europas, eine besondere Verantwortung zukomme, mitnichten eine Sonderrolle anstrebe und überhaupt eine dienende Funktion für die Gemeinschaft habe.
"Ein 'deutsches Europa' - das könnten am wenigsten die Deutschen selbst ertragen", so der Ghostwriter Schäubles. "Vielmehr wollen wir Deutschland in den Dienst der wirtschaftlichen Gesundung der europäischen Gemeinschaft stellen - ohne darüber selbst schwach zu werden." Wen der Finanzminister da mit dem "Wir" gemeint hatte, ob nur die Flak-Generation oder auch die junge Generation, war nicht so recht auszumachen. Und wie diese Quadratur des Kreises bewältigt werden könnte, darüber erfuhr der Leser in diesem europäischen Wort zum Sonntag auch nichts.
Krise wegkommunizieren
Zugleich lobte der Schreiber aber in höchsten Tönen die Anstrengungen, die die europäischen Schuldnerländer zur Behebung der Krise unternommen haben. "Es verdient unsere höchste Anerkennung, wie die europäischen Länder, die in Schwierigkeiten sind, ihre Arbeitsmärkte und Sozialsysteme reformieren, ihre Verwaltungen, ihre Rechts- und Steuersysteme modernisieren und ihre Haushalte konsolidieren."
Kein Wort darüber, dass die Verbindlichkeiten in diesem Jahren in der Euro-Zone weiter gewachsen sind und bereits über 90 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachen; kein Wort dazu, dass die Grande Nation bislang keinen rechten Willen gezeigt hat, ihr Land auf Vordermann zu bringen; kein Wort davon, dass die Lage in Griechenland trotz Schuldenschnitt höchst dramatisch ist und das Land neuer Milliardenhilfen bedarf; und auch kein Wort davon, dass der Schuldenstand in Italien, Portugal und Irland sich weiter kontinuierlich nach oben bewegt.
Cooles Appeasement
Mein Freund Niels Werber, der auch in geo-und machtpolitischen Kategorien denkt und mit dem ich am Wochenende kurz darüber diskutiert habe, sah darin auch sofort ein strategisch geschicktes Manöver des Finanzministers, die europäischen Nachbarn zu beschwichtigen, sie in Sicherheit zu wiegen und über die wahren Absichten des Landes im Unklaren zu lassen. Appeasement-Politik lautet seit dem Münchner Abkommen von 1938 bekanntlich das Schlagwort dafür.
Ganz falsch liegen dürfte mein Freund nicht. Vor allem, wenn man sich nochmals die Rede vergegenwärtigt, die Wolfgang Schäuble vor drei Jahren, und zwar Anfang November, an der Sorbonne gehalten hat. Darin bekannte er sich klar zu einer Führungsrolle Deutschlands und Frankreichs. Nur eine "Führungsnation" oder ein "wohlwollender Hegemon" könne in seinen Augen eine stabile Weltwirtschaft schaffen und erhalten.
Die Weltwirtschaft sei post 1929 deswegen an die Wand gefahren, so der Finanzminister damals, weil es praktisch kein Land gegeben habe, das Verantwortung übernehmen wollte. Weder die USA, die nicht wollten, noch Großbritannien, das nicht mehr konnte, bekannten sich dazu. Um ein solches Szenario in Zukunft auszuschließen, sollten Deutschland und Frankreich zu jenen Hegemonen in Europa werden, die die Welt in den dreißiger Jahren gebraucht und vermisst hätte.
Wie man weiß, hat dieses stete Sich-Klein-Machen hierzulande Tradition. Schon immer haben die deutschen Regierungen ihre wiedergewonnene wirtschaftliche Stärke - und zwar auch schon vor dem Mauerfall und der Wiedervereinigung der beiden Staaten - in wohlklingende Worte gekleidet, um die anderen von den guten Absichten des Landes zu überzeugen.
Ging es allerdings darum, außenpolitisch Flagge und militärische Robustheit zu zeigen, zückten seine politischen Führer lieber das Scheckbuch, sie hissten die weißen Fahnen und kauften sich auf diese Weise von der Beteiligung an gewaltsamen Konflikten frei. Zugleich setzten sie sich dann gern auf ein hohes moralisches Ross, gaben den globalen Durchblicker, Sinndeuter und Sinnstifter ab und hielten den anderen ihr mentales Versagen vor. Nicht zufällig hat das Schlagwort: "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen" immer wieder mal Konjunktur.
Hegemon wider Willen
Vermutlich wurde das Finanzministerium, und allen voran ihr Vorsteher, der siebzigjährige Schäuble, von Forderungen aufgeschreckt, die in den letzten Jahren von Intellektuellen und Politikern, von Journalisten und Essayisten an Deutschland herangetragen wurden, nämlich künftig mutiger aufzutreten, weniger zögerlich, selbstbezogen und kurzfristig zu denken und die hegemoniale Stellung, die es in Europa einnimmt, endlich ernst zu nehmen.
Zuletzt hatte das der britische "Economist", das Magazin der globalen Wirtschaftselite, diese Führungsrolle angemahnt, es hatte vom "widerwilligen Hegemon" gesprochen und dem Thema einen vierzehnseitigen Special Report gewidmet. Deutschland pflege eine "Kleinstaatsmentalität" wie die Schweiz, hatte Zanny Minton Beddoes, die Chefökonomin des Blattes, geschrieben. Dabei komme dem Land inzwischen ein ähnliche Stellung zu wie den USA post WK II.
Anders als die Deutschen hätten sich die Amerikaner damals zu ihrer Führung bekannt, einen Plan für den Wiederaufbau vorgelegt und damit die Grundlage für "ein neues Wirtschaftssystem" gelegt. Es sei an der Zeit, dass Deutschland das auch mache, das es mithin seine Rolle in Europa und in der Welt überdenke, von einer "verzerrten Lesart seiner Geschichte" Abschied nehme und sich folglich neu erfinde. Nicht zuletzt die "Zukunft der Währungsunion" hänge davon ab, schreibt die Chefreporterin.
Powerstaat Deutschland
Dieser Appell der renommierten Zeitschrift mag verwundern. Auf den ersten Blick jedenfalls. Noch kurz vor der Jahrtausendwende hatte das Blatt Deutschland als "den kranken Mann Europas" bezeichnet. Drei Jahre später noch hatte es vom "verunsicherten Riesen" gesprochen. Mitte der Nullerjahre lobte man bereits die Schröder-Regierung wegen ihrer Arbeitsmarktreformen und sah den Patienten auf dem Weg der Besserung. Anno 2010 wiederum machte man das Land zum "Motor Europas".
Jetzt strotze das Land wirtschaftlich dank der starken Exportwirtschaft, den Lohnzurückhaltungen und des Booms in den Schwellenländern, die nach deutschen Exportgütern, nach Maschinen, Chemie und Autos, nachgefragt hätten, nur so vor Kraft. So seien die Lohnstückkosten im vergangenen Jahrzehnt nur um fünf Prozent gewachsen, während sie in Italien im gleichen Zeitraum über zwanzig Prozent gestiegen sind.
Zwar gehe in Europa nichts ohne Intervention oder Unterstützung der Kanzlerin. Doch wenn Merkel und Co. sich nicht zu mehr Führung aufrafften, sich ihrer politischen Verantwortung bewusst würden, "schlafwandle Europa in ein Desaster". Ohne ein solches neues Deutschland, werde es Europa jedenfalls bald noch schlechter gehen als derzeit, glaubt der "Economist".
Kein Stabilitätsgarant
Ganz Ähnliches konnte man im Mai auch schon in der Zeitschrift für "Internationale Politik" lesen. Deutschlands politische Führer, klagte darin der Autor, steckten sich keine langfristigen Ziele. Statt wie die USA nach dem Krieg "von ihrer aufgeklärten Macht Gebrauch zu machen", nämlich Handelsüberschüsse zu reduzieren und eine gemäßigte Inflation zuzulassen, um den verschuldeten Ökonomien zu helfen, durch mehr Wachstum ihre Schulden zu verringern, denke man in nationalen Interessen, verfolge eigene Präferenzen und bestehe auf strengen Sparprogrammen. Auf diese Weise sei die Arbeitslosigkeit in Deutschland zwar gefallen, anderswo sei sie aber auf Rekordhöhen geklettert.
Diese Politik führe bei den Nachbarn zu Unsicherheit und erzeuge dort Instabilität. Außerdem setzten die Handelsüberschüsse, die die starke deutsche Exportwirtschaft anhäufe, andere unter wirtschaftlichen Druck. Zentrale Aufgabe eines "Hegemonen" sei es aber "Stabilisator" und nicht "Unsicherheitsfaktor" zu sein. Erst wenn Deutschland bereit sei, Opfer zu bringen, mithin mehr Inflation akzeptiere, vom Gedanken der Preisstabilität abrücke und einer Vergemeinschaftung der Schulden zustimme, werde es dieser Rolle gerecht werden.
Überforderter Hegemon
Daher sei das Land auch bei dem Versuch, wirtschaftliche und finanzpolitische Normen zu setzen und das deutsche Wirtschaftsmodell in Europa durchzudrücken, meist nur auf Widerstände bei den Mitgliedern der Euro-Zone gestoßen. Deutschland sei zwar mächtig, aber innerhalb Europas so isoliert wie niemals zuvor. Von dem, was den USA post WK II gelang, nämlich das Einverständnis der Europäer zu erlangen und zugleich ein "Stabilitätsgarant" zu sein, sei das Land meilenweit entfernt.
Von Henry Kissinger stammt bekanntlich der Satz; "Deutschland ist zu groß für Europa, aber zu klein für die Welt." Diese kritische Größe, die Deutschland in der "Mitte Europas" einnimmt, war in der Vergangenheit ein Problem und ist es offenbar jetzt wieder. Und weil Deutschland trotz boomender Exporte nicht so mächtig ist, dass es alles allein entscheiden könne, müsse es stets versuchen, die anderen mitzunehmen.
Schon deswegen könne bislang nicht von einem "deutschen" Europa die Rede sein. Ehe müsse man von einem "chaotischen" Europa ausgehen, da der Hegemon keinen Mumm zeigt, keine Eier in der Hose habe und mit der neuen Aufgabenstellung politisch und mental "überfordert" wirke.
Solange das Land seine nationalen Interessen über die aller anderen stellt, solange es im Wesentlichen eine "negative oder Vetomacht" ist, solange die "hegemoniale Rolle" Anathema bleibt, und solange es seine Zurückhaltung in anderen, außenpolitischen Fragen nicht aufgibt, wird es diese ihr zugedachte, oder besser: zugefallene Rolle auch nicht ein- und übernehmen können. Zum Nachteil Europas und dem Land selbst, wenn man den Kommentatoren glauben und folgen will.
Bald aber, so die Erwartung, würden die weiteren internationalen Entwicklungen das Land aus seiner postmodernen "Komfort-Zone", in der es sich behaglich eingerichtet hat, hinaustreiben. Dann werde sich zeigen, ob der politische Zwerg, der wirtschaftlich eine Riese ist, den kommenden Aufgaben gewachsen sein wird.