Der Tag, an dem Bünyamin starb

Ein US-Drohnenangriff in Pakistan tötete 2010 einen deutschen Staatsbürger, für die Bundesanwaltschaft 2010 nach den Regeln des Konfliktvölkerrechts gerechtfertigt

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Bünyamin Erdogan sei ein islamistischer Terrorist und damit ein legitimes Ziel gewesen, behauptet die Bundesanwaltschaft und lehnt Ermittlungen wegen Mordes ab. Das Opfer sei unschuldig hingerichtet worden, sagt der Bruder. Er hat die Tötung miterlebt.

Der Tod kommt oft langsam und mit Vorwarnung. Manchmal aber auch ganz plötzlich, beim Abendessen. Manchmal fällt er vom Himmel. In Form einer Rakete. So auch am 4.Oktober 2010. Ein Gehöft in Mir Ali, einer Ortschaft im pakistanischen Stammesgebiet Waziristan, unweit der Grenze zu Afghanistan. Acht Männer kamen hier an jenem Abend zum Essen zusammen. Eingeladen hatte sie der Hausherr, ein Deutsch-Kurde aus Wuppertal. Emrah Erdogan war in die Bergwelt Nordwest-Pakistans gekommen, um gemeinsam mit seiner Frau und seinem Sohn ein islamisches Leben zu führen, sagt er. Um ein islamistischer Gotteskrieger zu werden, behauptet die Staatsanwaltschaft.

Emrah Erdogan steht derzeit vor dem Frankfurter Oberlandesgericht. Der Wuppertaler soll ein Terrorist sein, ein Al-Qaida-Mitglied. Im Herbst 2010 versetzte er mit seinen Anrufen aus den Bergen Pakistans die deutschen Sicherheitsbehörden in Alarmbereitschaft. Emrah erzählte von angeblich geplanten Anschlägen in Deutschland.

Bevor er dem Richter aus seinem Leben, von seiner verkorksten Jugend, den Drogen, der Zeit im Knast, seiner Radikalisierung und seiner Dschihad-Karriere erzählte, betonte Emrah jedoch: "Ich bin hier nicht, um irgendwelche Namen zu verraten, damit jemand hingerichtet wird."

Er weiß, wovon er spricht, denn er hat hautnah miterlebt, wie Menschen getötet wurden. Ohne Gerichtsprozess, ohne Anhörung, ohne Beweise. Einer von ihnen war sein kleiner Bruder Bünyamin.

An jenem Abend des 4.Oktober 2010 aßen Emrah, Bünyamin und die anderen im fernen Waziristan gemeinsam zu Abend. Der damals 20-jährige Bünyamin war erst wenige Wochen zuvor seinem älteren Bruder nach Waziristan gefolgt. In ihrer Heimat Wuppertal hatten "Bünno" und "Emo", wie Freunde sie nannten, zum fundamentalistischen Islam gefunden. Nun waren sie ausgewandert. In eine Region der Welt in der statt Demokratie die Scharia herrscht, in der Taliban-Clans und Al-Qaida regieren und der pakistanische Staat schwach ist. Und in der die USA mit Drohnen Jagd auf Terroristen machen.

So auch an jenem Abend. Während sein kleiner Bruder anschließend den Tisch abräumte, verließ Emrah die Runde und ging über den Innenhof in einen anderen Teil des Gehöfts. In diesem Moment gab es eine gewaltige Explosion.

Die Druckwelle habe ihm die Klamotten vom Leib gerissen und ihn durch die Luft geschleudert, erzählt Emrah heute. In Panik sei er zurückgelaufen, in den Innenhof, dort wo die Raketen eingeschlagen waren. Die Lehmwände seien zerstört gewesen. Überall lag Schutt. In den Trümmern habe er mit bloßen Händen gewühlt und nach Überlebenden gesucht.

Zunächst fand Emrah den Deutsch-Iraner Shahab Dashti, der im März 2009 mit einer größeren Islamisten-Gruppe aus Hamburg nach Pakistan gekommen war. Die Beine von Dashti seien abgerissen worden, berichtet Emrah später. Der Hamburger verblutete noch vor Ort.

Als Emrah weiter grub, stieß er auf einen Leichnam. Ein Raketensplitter steckte im Kopf des Mannes - es war sein kleiner Bruder Bünyamin. "Der hat nicht geantwortet", erzählte Emrah später der Familie in Wuppertal per Telefon. "Sein hinterer Kopf alles zerfetzt, sein ganzes Gehirn war draußen." Sein Bruder sei ein Märtyrer geworden.