Schinkel, Speer und die Französische Revolution

Abb. 4: "Große Halle", Gipsmodell 1939Bild: Deutsches Bundesarchiv (Bild 146-1986-029-02). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Was kann der klassizistische Architekt für den Nazi-Architekten?

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"Erst bauen die Menschen die Häuser, dann bauen die Häuser die Menschen. Architektur ist, mit dem Soziologen Emile Durkheim gesprochen, gebaute soziale Tatsache. Die Nazis nutzten das und sprachen von "steingewordener Weltanschauung". Albert Speer bekannte sich zum Klassizismus und nahm zur Rechtfertigung seiner Bauten Karl Friedrich Schinkel in Anspruch. Er legitimierte sein Werk durch ältere Erzeugnisse, die zur Geschichte geronnen sind, aber ihrerseits von Menschen und Gemeinwesen geschaffen wurden. Speer baute die Geschichte noch einmal. Indem er sie baute, beendete er sie. Es war das Werk der Zerstörung.

Die Frage nach der sozialen und politischen Verantwortung des Architekten bekommt im Verhältnis von Schinkel (1781-1841) und Speer (1905-1981) eine radikale Fassung: Steckt im deutschen Klassizismus etwas, das ihn willfährig macht gegenüber der monströsen Vereinnahmung durch die Nazis? Oder gibt es widerständige, weil widersprüchliche Elemente in Schinkels Architektur und Städtebau?

Diesen Fragen ging der Berliner Religionsphilosoph Klaus Heinrich 1978 bis 1980 in seinen Vorlesungen an der Freien Universität nach, die er selbst 1948 in West-Berlin mitgegründet hatte. Er gehörte zu einer Gruppe von Studenten, die es gewagt hatten, an der (Ost-)Berliner Universität Selbstbestimmungsrechte einzufordern, vergeblich. Heinrichs Vorlesungen waren legendär. Skripte hatte er nicht. Der Gedanke verfertigte sich beim Sprechen und das Sprechen beim Gehen, beim Wandeln im antiken Sinn. Die Transkriptionen von Mitschnitten hat ARCH+ zusammen mit einem aktuellen Interview des 88-jährigen nun herausgegeben.

Abb.1: "Altes Museum" (1825/30) mit Lustgarten. Bild: Bernhard Wiens

Wandeln - Wandern - Marschieren ist zugleich die Bewegungsform, an Hand derer Heinrich den Fortschritt der preußisch-deutschen Architektur beschreibt, der ein Rückschritt ist, da auf Zurichtungspraktiken hinauslaufend. Schon hier wird eine Differenz deutlich. Schinkel besann sich auf Wandelhallen und legte seine Architektur- und Freiräume auf das Promenieren in wechselnden Grüppchen an, während Speer die Gruppen zur Masse formierte. Zwischen architektonischen Kulissen, welche etwa die Wandelhallen nur vorblendeten (geplanter Führerpalast) und militärischen Formationen schmiedete er Baukörper und Menschenblöcke, eines wie das andere. Siegfried Kracauer nennt es "Ornament der Masse". Die Masse ist das Ornament, das sie bildet. Die Menschen werden verdinglicht.

Abb. 2: Wo ihm die Architektur nicht reichte, inszenierte Speer Lichtdom (Nürnberg 1936). Bild: Deutsches Bundesarchiv (Bild 183-1982-1130-502 ). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Den von Schinkel und Peter Joseph Lenné hauptstädtisch-repräsentativ und mit Grünflächen ausgestalteten Lustgarten verwandelten die Nazis in eine Steinplattenwüste. Mit Hakenkreuz-Stoffbahnen bespannte Kulissenwände schnitten einen Raum aus, der den Aufmarsch der Massen zum mystischen Erlebnis macht. Die Wände liefen wie Fluchtlinien auf Schinkels "Neues Museum" (heute: "Altes Museum"; Abb.1) zu, das mit seiner Vorhalle aus kannelierten Säulen sich perfekt in den Nazikult einzupassen schien. Die Freitreppe wurde als Tribüne einbezogen. Speer plante für seine Große Halle (Abb. 4), die aus Berlin die Welthauptstadt Germania machen sollte, einen Säulenvorbau, der sich die Kolonnaden des Alten Museums zum Muster nahm.

Abb. 3: Rotunde, Altes Museum. Bild: Bernhard Wiens

Der 290 m hohe Kuppelbau für bis zu 180.000 Menschen wäre eine Geste imperialer Weltherrschaft geworden. Wer hingegen Schinkels Museum betritt, findet sich in einer Rotunde (Abb.3) wieder, die zwar dem Pantheon Roms nachempfunden ist, gleichwohl von außen nicht sichtbar, da durch ein kubisches Gebilde verblendet. Heinrich: "Schinkels Rotunde ist nicht für die Masse, sondern für umherwandelnde Einzelne gedacht." Die im Rund angeordneten antiken Figurenplastiken machen aus dem Haus eine Anstalt zur ästhetischen Erziehung.

Es ist eine bürgerliche Veranstaltung. "Der Lustgarten bekommt als Pendant zum königlichen Schloss ein Bürgerpalais. Dieses Bürgerpalais ist das Alte Museum. Da sollen die Bürger und auch der Adel als Bürger hineingehen und sich als Menschen vis-à-vis den antiken Standbildern finden." Sogar der König geriert sich dort als ästhetisch gebildeter Bürger. Das Treppenhaus bricht gleich am Eingang die Perspektiven. Innen und Außen sind verschränkt. Das Haus öffnet sich der Stadtgesellschaft. Unweit des Schlosses plante Schinkel ein Denkmal für Friedrich II. Für das begehbare Dach der Vorhalle sah er eine Baumpflanzung vor, eine Art Parkpromenade für die Bürger.

Totenkugel und "Raumschiff Erde"

Sowohl Schinkel als auch Speer zitieren, jeder auf seine Weise, das römische Pantheon (Abb.5). Innen vermittelt es das Gefühl des Schwebens. Der Grund ist unsichtbar. Würde die Wölbung der Kuppel zur Kugel vervollständigt, berührte sie den Boden des Baus, dieses Zwitters aus klassischem Tempel und archaischer Grabstätte. In geschlossener Form taucht die Kugel am Vorabend der Französischen Revolution auf, aber in fiktional bleibenden Entwürfen, da kaum realisierbar. Diese Revolutionsarchitektur ist die gemeinsame Quelle von Schinkel und Speer.

Abb. 5: Pantheon, Rom, 2. Jahrhundert n.Chr. Bild: perlblau. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Die bekannteste Kugel riesigen Ausmaßes ist die des Kenotaphen für Isaac Newton (Abb.6), 1784 von Etienne-Louis Boullée entworfen. Dieses Ehrenmal für einen abwesenden Toten stellt die Naturwissenschaften in einen kosmologischen Zusammenhang. Newton steht für einen naturwissenschaftlichen oder physikalischen Positivismus. Er beschrieb Gesetze, die unabhängig davon wirken, ob jemand erklären konnte, wie diese Gesetze zu ihrer Wirkung gebracht worden waren. Daraus entwickelten sich die "sozialen Tatsachen". August Comte zufolge verhält sich die Gesellschaft nach den unabänderlichen Gesetzen der Physik, wie ein Ding. Seine Soziologie ist eine (Vernunft-)Religion.

Abb. 6: Kenotaph für Isaac Newton, Entwurf 1784. Bild: Eisenacher-commonswiki. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Im Boulléeschen Kenotaphen ist das Außen nach innen verlegt. Die Kuppel ist zielgerichtet mit Löchern durchbohrt, sodass auch bei Tage der Nachthimmel erscheint. Alle Sterne sind fixiert in diesem planetarischen Illusionstheater. Alle Punkte sind in der Kugel gleich weit vom Mittelpunkt entfernt, so auch die Teile der Masse Mensch, die dort zusammenströmt, um den Ahnenkult mit der Apotheose der Zukunft zu verbinden. Alle sind gleich, aber zur Leblosigkeit vor den Naturgesetzen verurteilt. Es ist eine Gattungshöhle. Im Akt der Vereinigung mit den Ahnen wird die Masse zugleich zum Opfer. Kenotaphe sind nicht nur Tempel der ewigen Vernunft, sie sind eine universale Sepulkralarchitektur.

Unter den wenigen gebauten Zeugnissen jener Architektur ist die Saline in Arc-et-Senans (Abb.7) eines der eindrucksvollsten. Die Fabrikstadt ist wie ein Panoptikum aufgebaut, ein kreisförmiges Gefängnis, in dessen Mittelpunkt ursprünglich die Wache, das universelle Auge, liegen sollte. Der Architekt, Claude-Nicolas Ledoux, fügte noch die Pläne für ein Kolumbarium hinzu, das nicht realisiert wurde. In dessen Mitte liegt die Totenkugel, die sich dann nebst anderen Gestirnen ins Weltall erhebt, als künstlerisches Produkt. Die Kugeln schwebten weiter bis ins zwanzigste Jahrhundert, als Buckminster Fuller (Raumschiff Erde) sie aufgriff oder auch - in Form kleinerer Blasen oder Raumanzüge - Haus Rucker Co.

Abb. 7: Entwurf zur Idealstadt "Chaux" der Saline in Arc-et-Senans. Bild: Justelipse. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Die Gattungshöhlen der französischen Revolution können ebenso gut Geburtskugeln sein. Aus solchen Kugeln entspringt heute der Neuwagen, wenn mancherorts die Übergabe wie ein Geburtsvorgang zelebriert wird.1 Die Regie verzichtet auf den Hinweis, dass die Kugel intrauteriner Geborgenheit sich urplötzlich in eine "Tombe", wie Heinrich die Grabstätten nennt, verwandeln kann.

Abb. 8: Achse vom Südbahnhof über den Triumphbogen und die Große Halle nach Norden. Modell 1939Bild: Deutsches Bundesarchiv (Bild 146III-373). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Der aus der Werbung stammende Slogan "Reduce to the max" trifft mehr noch als auf heutige Automobile auf das Gemeinsame der klassizistischen Revolutionsarchitektur und Speers Entwürfe zu. Die Fassadenelemente sind vergröbert und zur Serie vervielfältigt, die Ornamentik ist zurückgenommen, und die Formen werden stereometrisch, das heißt strenge geometrische Körper. Die Baukörper der Repräsentativbauten werden aufgeblasen, bis die Menschen ameisenhaft sind. La Métropolitaine, Boullées gigantischer Kathedralenentwurf von 1781, wird ein Vorbild für Speers Große Halle gewesen sein.

Vom friedlichen Arkadien zur Mobilisierung der Angst

Hitlers Formel fürs Bauen war einfacher. Bei jedem Entwurf, bei jedem Modell ging es darum, schon bestehende Bauwerke anderer Länder zu übertreffen. Makaber war der "Showdown" zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Pavillon auf der Pariser Weltausstellung von 1937 (Abb.9), die sich gegenüberlagen. Speer trickste, um für Deutschland die Dominanz, gemessen in Höhenmetern, zu erringen. Nach dem Krieg stellte sich Speer als "verführten Künstler" dar. Sicher war er von seinem "Auftraggeber" abhängig. Aber wer verführte wen? Der Architekt wird schnell herausgefunden haben, dass Hitlers Megalomanie ein Minderwertigkeitskomplex zugrunde lag, an dem er ihn leicht packen und für seine eigenen, Macht und Gewinn bringenden Zwecke ausnutzen konnte.

Abb. 9: Weltausstellung Paris 1937. Links der deutsche Pavillon und rechts der sowjetische. Bild: Sagredo. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Was an den Entwürfen der Revolutionsarchitektur Utopie war, wurde in der NS-Architektur wörtlich genommen. Kunst, Religion und Politik verschmolzen endgültig. Der Kult der Gattung wurde zum Totenkult mit realen sozialen Folgen. Das Reich sollte mit einem Kranz von Totenburgen umgeben werden, und die Ehrentempel am Münchener Königsplatz waren das Allerheiligste dieses Kults. Dass das deutsche Volk die überlegene Rasse sei, ist die Kehrseite, gleichsam Kompensation, der Alarmierung der eigenen Bevölkerung. Die monumentale NS-Architektur ist nicht nur einschüchternd, sie symbolisiert Einkerkerung, hinter der eine Todesdrohung steht. Heinrich sagt, dass damit das System der Lagerarchitektur, das System der Konzentrationslager, auch die Städte ergriffen hat.

Die Nazis inszenierten einen Blutrausch des Untergangs, zuletzt des eigenen. Hitler, Goebbels und Speer interpretierten die Bombardements Berlins als willkommene Abrisshilfe für den totalen Neuaufbau Berlins.

Die geplante städtebauliche Neuordnung war so totalitär wie stereotyp: Zur Ost/West-Achse eine triumphale Nord/Süd-Achse (Abb.8), die sich in der Nähe des Brandenburger Tors kreuzen, außen Ringe und Radialen, die von der Mitte aus darauf zulaufen. Landschaftliche Gegebenheiten zählten so wenig wie in der Revolutionsarchitektur. Schinkel wollte dagegen Berlin weg von der barocken Festungsstadt entwickeln. Ihm ging es um die lockere und "bequeme" Gruppierung der staatlichen Bauten im Perspektivenwechsel von Straßen und Freiräumen, um die Bühnenwirkung beim "Flanieren". Bei Speer ist das Wandeln von Perspektive zu Perspektive durch Marschieren ersetzt.

Eine geschlossene stadträumliche Gestaltung, die den Beschauer in eine Richtung zwingt, sollte sich zwar mit der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchsetzen, aber Schinkel und Lenné schwebte vor, die Landschaft, die sie in Potsdam mit vereinten Kräften in ein preußisches Arkadien verwandelten, in die Stadt hineinzuführen. Dieses Konzept erhielt neue Nahrung nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, als beim Neuaufbau des Berliner Hansaviertels demonstriert wurde, wie Landschaft zum Gesetz der Stadtentwicklung werden kann.

Willfährigkeit und Widerständigkeit des Eklektizismus

Über seinen Lehrer Friedrich Gilly war Schinkel auf die Revolutionsarchitektur gekommen. Zwei seiner Werke muten besonders französisch an: die Neue Wache (Abb.10) und das Mausoleum im Schloss Charlottenburg (Abb.11). Seit ihrer Einweihung 1818 hat die Neue Wache bereits fünf Verwandlungsstufen als Gedächtnisort hinter sich, je nachdem, woher der ideologische Wind wehte und welche Opfer gerade zur nationalen Identitätsstiftung herhalten mussten. Die Umgestaltung von 1931 für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs stammte von Heinrich Tessenow, dem Lehrer Speers. Muss sich die Architektur an ihrer Rezeptionsgeschichte messen lassen? Goerd Peschken bezog die Rezeption auf das Werk zurück und stieß bei der Neuen Wache auf "faschistoide Elemente", zumindest in einigen Entwurfsphasen.2

Abb.10: Neue Wache (1816/18), Unter den Linden. Bild: Bernhard Wiens

Diese Faschismus-Keule überzeichnet die Widersprüchlichkeit in Schinkels Werk zur Einseitigkeit. Unter Verweis auf ein anderes Beispiel, Schloss Orianda auf der Krim, sagt Heinrich: "Selbst wenn der Schinkelsche Klassizismus den Totenkult beschwört, (...) schlägt sich die Unterwelt (...) in das Licht hoch." Schinkel, der seine Laufbahn mit Um- und Ausbauten begann, suchte die gattungsgeschichtlichen Fundamente sichtbar zu machen, statt die Gattung dem leeren kosmischen Raum zu unterwerfen.

Abb.11: Mausoleum im Schlosspark Charlottenburg, 1810 von Schinkel und Heinrich Gentz realisiert. Bild: Bernhard Wiens

Heinrich zieht zur Verdeutlichung die epochemachenden Radierungen Piranesis heran, die Carceri. Piranesi holt Elemente der Oberwelt nach unten, in die Kerker. Es ist eine Gattungsunterwelt. In einer anderen Bildserie kehrt er aber auch die Unterwelt nach oben. Die gleichzeitige Ambivalenz von Lebendigem und Totem ist auch ein Kampf von Licht und Finsternis, beides auf die Bühne gehoben in Mozarts "Zauberflöte", für die Schinkel Bühnenbilder entwarf. Der Kontrast zu Albert Speers Lichtdomen, jenen aus der Natur herausgesprengten ausweglosen Scheinwerfergefängnissen, könnte nicht größer sein.

Abb.12: Humboldt-Schlösschen in Berlin-Tegel, 1820-24 von Schinkel umgestaltet. Bild: Tohma 3. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Nicht immer gelang Schinkel die Umsetzung dieses von Heinrich suggerierten Programms, aber wo er den differenzierten Gebrauch von Licht und Perspektive mit Einfachheit verband, kam eine klare und zugleich zierliche Architektur heraus, die bürgerlicher Repräsentativität diente. Das Humboldt-Schlösschen (Abb.12) verfügt über ein wie ein Museum ausgestattetes Vestibül, während mit dem Grundriss der anderen Räume die Privatheit der Familie organisiert wurde.

Abb.13: Neuer Pavillon (1824/25) im Schloßgarten Charlottenburg. Bild: Bernhard Wiens

Im Pavillon für Friedrich Wilhelm III. im Schlosspark Charlottenburg (Abb.13 u.14) ist Repräsentativität zugunsten von Privatheit und Intimität zurückgenommen. Das geht auf Kosten der Verbindungsräume und der Treppe, die im Barock noch überragende Bedeutung hatte. Die Übergänge von Haus und Garten sind fließend. Der Bau ist einem Kubus angenähert und betont die Horizontale. Hier wird verständlich, wieso viele Architekten aus dem Umkreis des "Bauhaus" sich auf Schinkel beriefen.

Abb.14: "Exedra" im Gartensaal des Neuen Pavillons. Die Draperie erinnert an Schinkels Bühnenbild (Himmelsgewölbe) für die "Zauberflöte". Bild: Bernhard Wiens

Wird diese Modernität von Schinkels Eklektizismus durchkreuzt? Er schwankte zwischen Klassizismus und einer romantisierten Gotik. Er fand keine Tradition mehr, an die er hätte anknüpfen können. Die Tradition war Geschichte geworden. Die Beliebigkeit der Stile führt zu ihrer Ablösung und das "Architektonische" kann klar hervortreten, so Julius Posener.3 Schinkel lebte in einer Zeit des sozialen Umbruchs, revolutionär gesprochen, oder des Übergangs, reformerisch gesprochen. Der Adel konnte nicht mehr imperial auftreten, und das Bürgertum noch nicht.

Abb.15: Schinkels Bauakademie auf Planen. Der Wiederaufbau stockt, nicht so der des Schlosses (Hintergrund). Bild: Bernhard Wiens

Zwischen den Zeiten zu bauen, bietet die Chance, neue soziale Räume zu schaffen. Schinkels Auftraggeber, meist aus dem Hochadel, gewährten ihm diese Chance, oder sie nahmen sie ihm. Dann misslang ihm die multiperspektivische Sicht. Die Ambivalenz des Sichtbaren und des Nicht-Sichtbaren kippte. Die Bauherrin von Schloss Babelsberg drückte ihm eine überladene Tudor-Gotik auf. Aus dem Klassizismus wird leicht ein Historismus, dessen verzuckerte Fassaden gerade die Vergegenwärtigung der Geschichte - als Untergrund der Gesellschaft - abweisen. Im ergänzenden Interview kommt Klaus Heinrich auf die Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses (Abb.15) zu sprechen. Unter Anspielung auf die rationalistisch-abstrakte Ostfront (Abb.16), die mit den vorgehängten Barockfassaden konkurriert, sagt er:

Was im Falle der Schlossrekonstruktion tatsächlich entsteht, ist ein Gerüst, dem man die Fassaden des alten Schlosses überhängen kann oder auch nicht, sodass der eine sagt: 'Guck mal, das Schloss, und der andere sagt: Guck mal, das neutrale Gerüst'. Wenn diese Tendenzen behaupten, dass sie sich auf Schinkel berufen, so können wir mit Bestimmtheit antworten: Wenn Schinkel baute, baute er immer gegen schon Bestehendes an.

Abb.16: Die Ostfront steht. Architekten des barocken Schlosses waren Andreas Schlüter und J. Eosander v. Göthe. Heute ist es Franco Stella. Bild: Bernhard Wiens

Schinkel musste sich persönlich mit einzelnen Auftraggebern auseinandersetzen, manchmal auch gegen sie anbauen. Er spielte mit Konventionen, er rekonstruierte sie nicht. Liegt die Verantwortung des Groß-Architekten in der postfeudalen Demokratie stattdessen darin, für viele Auftraggeber zu bauen, die er nicht genau kennt? Jeder bekommt die Fassade, die zu ihm passen könnte. Ein Potpourri. Und alle geh'n zufrieden in das Haus.