Stadt der Träume

Eingang der Neuen Reichskanzlei. Bild: W. Obigt, Deutsches Bundesarchiv (Bild 146-1988-092-32). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Berlins weiter Weg zum demokratischen Utopia - Ein Plädoyer

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

"Bottom Up" heißt heutzutage eine Entwicklung von unten; für moderne Stadtarchitektur bedeutet es ein hierarchisches Planungsprinzip von unten nach oben. Berlin ist auch Jahrzehnte nach dem Ende der Diktatur eher nicht die Vorzeigestadt der Selbstverwirklicher und Selbstgestalter; als demokratisches Utopia muss sich die Metropole erst noch aus den Fesseln des Gestern befreien. Dazu gehört unbedingt eine vernünftige Partizipation der Bürger.

Ja, während man an der einen Stelle zu heilen sucht, verschlimmert man die Wunde an anderen Stellen.

Thomas Morus

Blick zurück

Berlin in Trümmern, 1945. Nach 363 Luftangriffen, davon 35 Großangriffen, sind zigtausende Tonnen Sprengstoff und Phosphor auf die Metropole niedergegangen, mehr als auf jede andere deutsche Stadt. 50.000 Menschen fanden unter Trümmerbergen, in lodernden Straßen und im blutigen Finale 1945 den Tod, die doppelte Zahl wurde verletzt. Dennoch, die Stadt war weniger stark zerstört als andere in Deutschland, aber als Hauptstadt des Dritten Reiches und Machtzentrum des Führerstaats kam und kommt ihr ein beträchtlicher Symbolwert zu.

Berlin, Hitlers Regierungssitz, fünf Jahre zuvor. Die Schreckensherrschaft ist unangefochten. Erste Adresse im Herzen der Reichshauptstadt ist Hitlers pompöses Hauptquartier, die neue Reichskanzlei. Wer auf dem Höhepunkt der NS-Macht hier vom "Führer" empfangen wird, darf sich darauf einstellen, der eigenen Ohnmacht zu begegnen. Die körperliche Wucht der steingewordenen Weltanschauung ist kalkuliert. Politischer Besuch landet zunächst im "Ehrenhof"; darauf folgt die "Diplomaten-Route", die über Etappen ins Allerheiligste führt, sie ist lang und lässt eine einschüchternde Raumfolge erleben.

Ehrenhof 1939. Bild: Deutsches Bundesarchiv (Bild 183-E00418). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

300 Meter misst der Weg bis zu Hitlers Empfangszimmer. Er führt durch monumentale Säle und endlose Korridore. In der Gebäudemitte die prunkvolle "Marmorgalerie", sie übertrifft mit 146 Metern Länge den Spiegelsaal von Versailles um das Doppelte. Auf Effekt hin ist auch das Arbeitszimmer Hitlers, der Schlusspunkt der Prozession, berechnet. 400 Quadratmeter Grundfläche und 10 Meter Höhe lassen hier den Gast die eigene Bedeutungslosigkeit erfahren.

Der Traum von der Welthauptstadt

Hitler bestimmt die Reichshauptstadt Berlin zu einem ehrgeizigen urbanistischen Großprojekt. Er hält sie in der bestehenden Form für eine chaotische Anhäufung von Bauwerken und Stilen ohne Sinn und Richtung.

Marmorgalerie. Bild: Hoffman, Deutsches Bundesarchiv (Bild 183-K1216-501). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Der "Führer" beschwört Ewigkeitswerte: Nach Reichsbankneubau (Grundsteinlegung am 5. Mai 1934) und Bau des "Reichssportfeldes" (heute Olympiapark) zeugen das Reichsluftfahrt-Ministerium (1935/36), das den Krieg fast unversehrt überstand, und der ambitionierte Neubau des Flughafens auf dem Tempelhofer Feld (1934-1939, Richtfest am 4. Dezember 1937) vom neuen Geist. Der Flughafen Tempelhof, von Ernst Sagebiel (1892-1970) errichtet, wird das flächenmäßig größte Gebäude der Welt, ein Symbol nationaler Hybris. Von sechs Millionen Passagieren träumen die Planer. Sagebiel stieg unter den Nationalsozialisten zu einem der führenden Industriearchitekten auf.

Reichsluftfahrtministerium. Bild: Otto Hagemann, Deutsches Bundesarchiv (Bild 146-1979-074-36A ). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Zu Hitlers fünfzigstem Geburtstag walzt sein Baumeister Albert Speer die Berliner Ost-West-Achse auf zwölf Kilometern Länge zur Prachtstraße aus. Berlin soll zur "Welthauptstadt Germania" werden. Aber es soll auch eine neue Nord-Süd-Achse geben, die alles in den Schatten stellt. Speer träumt vom ganz großen Wurf - einer Metropole, die von zehn Millionen Ariern bewohnt wird. Die "Achse" wird hier zum Raumtypus. Erst kürzlich entdeckte die NS-Forschung die Bedeutung der "großen Achse" mit ihrer kalkulierten Wirkung neu. Eine Studie von 2014 beschreibt deren Rolle in der Stadtplanung des Dritten Reiches so:

Riesige Achsen, in der Regel durch zentrale Monumente fokussiert, beherrschen (…) die Stadtplanung des Dritten Reiches. Die Achse ist wiederum ein Archetypus des Raumes und wurde von den Nationalsozialisten lediglich übernommen, um sie für ihre ideologischen Zwecke zu instrumentalisieren (…) Traditionsbezug, Rivalitätsdenken und Hegemonialanspruch waren hierbei die zugrunde liegenden Motive.

Titanisches Schaffen. Schmähliches Ende

Am Brandenburger Tor sollen sich die Fluchten kreuzen. Ein monströser Kuppelbau, die "Große Halle", soll mit 290 Metern Höhe und 230 Metern Durchmesser die Blicke der Welt auf sich ziehen. Die geplante Nord-Süd-Achse ist als die elementarste und längste Geschäftsstraße der Welt gedacht, der Massenverkehr der Metropole soll auf neuartigen breitspurigen Untergrundtrassen abrollen. Ein Ausbau der Spree auf dreifache Breite gehört dazu; im Endstadium wird die Riesenstadt nach dem Willen der Planer 50 Kilometer im Radius messen.

Modell der Neugestaltung Berlins: Germania. Bild: Deutsches Bundesarchiv (Bild 146III-373). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Speer nennt in seinen Erinnerungen die Umbildung der Hauptstadt "Hitlers größte Bauaufgabe". Das Muster der Berliner Nord-Süd-Achse wird zum Schema für die Umbildung deutscher Städte nach den Grundsätzen der nationalsozialistischen Elite. Einem Brief Speers zufolge plant das Regime in mehr als 40 Orten sogenannte "Gauforen", jedes Forum gedacht als tonangebende städtebauliche Metamorphose. In solchen Foren sollen die zentralen Verwaltungen eines jeden NSDAP-Gaus zusammengefasst werden.

Germania - Die große Halle. Bild: Deutsches Bundesarchiv (Bild 146-1986-029-02). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Zwar stößt der heutige Betrachter rückblickend überall auf Traditionsbezüge; jedoch vieles an der Baukunst der Altvorderen kam Hitler "passiv und zukunftslos" vor, er beklagte die "charakterlose Effekthascherei". Mit solchen Titulierungen schuf der Kleinbürger Hitler sich die nötige Distanz zur zusammengereimten Erbärmlichkeit sämtlicher Vorläufer und Konkurrenten - und konnte sich der Bauherr Hitler umso mehr den Wahnvorstellungen eines titanischen Schaffens hingeben. Das ärmliche "Kulturgestotter" seiner Antipoden verachtend, ging es ihm um - Ewigkeit.

Eine Ewigkeit, die nicht lange währte. Als das "Dritte Reich" kapitulierte, war es nurmehr ein Trümmerreich.

Auferstanden aus Ruinen?

"Deutsches Bauschaffen" beschwor voller Emphase angebliche "Ewigkeitswerte"; Verantwortliche von heute tun sich offenbar schwer, eine moderne, demokratische Vorstellung von Stadt- und Zukunftsplanung umzusetzen. Übersehen die Stadtplaner von heute, dass Architektur auch eine gesellschaftliche Verpflichtung hat, und das gerade in Berlin?

Berlin 2015. Eine Stadt, immer noch auf der Suche nach Identität. "Kritische Rekonstruktion" nennt man ein architektonisches Konzept, das die Wiedergewinnung historischer Stadtbilder einschließt - dies auch im Sinne einer vorgeblichen "Identitätsstiftung". Der Architekturhistoriker und Soziologe Werner Durth charakterisiert diesen baupolitischen Anspruch so:

Vom Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses über die Dresdner Frauenkirche bis hin zu Vorschlägen für eine historisierende Bebauung des Römerbergs in Frankfurt am Main mehren sich die Zeichen einer kompensatorischen Ästhetik, die in Kontrast zur Architektur der Nachkriegsmoderne die Suche nach kultureller Identität in regionaler Differenzierung als Korrektiv zur Globalisierung dokumentiert.

Werner Durth

Auferstanden aus Ruinen? Vor dem "Hintergrund eines schwerwiegenden Verlustes an Geschichte", so Katharina Brichetti1, wurde und wird die "Kritische Rekonstruktion" seit 1991 lebhaft diskutiert.

Einer der Kernbegriffe der Debatte lautet: "Stadtidentität". Das klingt schön, birgt jedoch auch Gefahren: Durch die Hintertür kommen leicht monumentale Wunschträume wieder hereinspaziert.

Seltsame Renaissance

Ein Beispiel ist die seltsame Potsdamer Renaissance. Zwar hat das wiederbelebte Potsdamer Stadtschloss am Alten Markt, eine äußerliche Rekonstruktion des Originals und heute Sitz des Brandenburgischen Landtags, bei Touristen binnen kurzem sogar Sanssouci den Rang abgelaufen. Hier ist die Sehnsucht nach dem alten Stadtbild Stein geworden.

Potsdamer Stadtschloss. Dahinter die Nikolaikirche. Bild: Roland.h.bueb. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Aber nicht alle sind begeistert: Kritiker bemängeln den eklatanten Mangel an Vision. "Potsdam" wird ihnen geradezu zum Synonym für die Rekonstruktion einer toten Vergangenheit; prachtvolle Fassaden erscheinen nurmehr als Symptom politischer Hilf- und Ideenlosigkeit.

Und die Berliner Innenstadt, Speers einstiges Tummelfeld, das Herzstück der neuen Republik? Stefanie Hennecke vom Fachbereich Architektur der Universität Kassel hat das Planwerk der Innenstadt Berlin durchleuchtet. Anhand der Abgeordnetenhausprotokolle zwischen 1996 und 1999 hat sie akribisch die parlamentarische Debatte um die politisch-architektonische Konzeption des Stadtzentrums Berlins analysiert. Sie kommt zu einem ernüchternden Ergebnis.

Mit ihrer Untersuchung zeigt sie auf, dass das architektonische Leitbild Berlins und dessen Umsetzung weit von einem offenen und transparenten Meinungsbildungsprozess entfernt ist. Ihr Fazit: Von einem politischen Konsens bei der Gestaltung der bundesdeutschen Hauptstadt kann keine Rede sein. "Vielmehr bestimmten einige wenige Personen die Inhalte des Leitbildes und setzten ihre persönlichen Überzeugungen und Interessen mit dessen Hilfe strategisch durch."2 Ein Votum, das aufhorchen lässt.

"Keine gemeinsame Vision"

Hier stellt sich die Frage, wie es um den Gestaltungswillen bestellt ist, aus dem Berlin für sich ein nachhaltiges positives Image in einem globalisierten Kontext ziehen könnte. Bloße "Kapitalarchitektur" einerseits, durchsetzt mit den Symbolen einer "utopisch-gestrigen Ideologie" (Hanno Rauterberg3) - das wäre nach der Meinung von Kritikern zu wenig.

Francesca Ferguson, Initiatorin des Make City Berlin Festivals, kritisiert den neoliberalen Ausverkauf der Städte und speziell Berlins aktuelle Liegenschaftspolitik. Mit "Make City" verbindet sie die Hoffung, den Blick für das öffentliche Gemeinwohl zu weiten, betont jedoch: "Ich bin keine Nostalgikerin". Statt Nostalgie wünscht sie sich Gestaltungsstrategien zusammen mit der Politik. Einstweilen lautet ihr Kernsatz für Berlin: "Es gibt keine gemeinsame Vision".

Eine zunehmende Eindimensionalität urbaner Räume beklagt schon länger Claus Leggewie, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen und Moderator der Arbeitsgruppe "Zukunft des urbanen Lebens":

Immobilienwirtschaft, Verkehrsplanung und Eventkultur beschränken öffentliche Räume. Innenstädte veröden zunehmend, weil Geschäfte wegziehen und uniforme Kommerzmeilen dominieren. Der urbane Raum wird immer häufiger nur noch zum Konsumieren genutzt.

Demokratisches Utopia. Ein würdiges Anliegen

Die Hochglanzarchitekturen der internationalen Investorenprojekte drängen derweil so manche bürgernahe Idee in den Hinterhof. Aber es gibt auch Anzeichen für mehr Demokratie.

Ein breites Berliner Bündnis aus Bürgerinitiativen und Nachbarn blockierte per Volksabstimmung die Randbebauung des Flughafens Tempelhof - Plädoyer für eine offene Stadt. Das Flughafendach, 1,2 Kilometer lang, soll nun in eine Terrasse umgebaut werden. Eigentlich hatte die Luftwaffe vor, die geschichtsträchtige Dachfläche in eine opulente Tribüne für Flugschauen zu verwandeln.

Flughafen Tempelhof 1954. Bild: Brodde, Deutsches Bundesarchiv (B 145 Bild-F001298-0007). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

"Bottom Up", das ist Entwicklung von unten; in der modernen Stadtarchitektur bedeutet es auch: die Suche nach neuen Stadttypologien. Berlin scheint sieben Jahrzehnte nach dem Ende der Diktatur in mancher Hinsicht in einer Sackgasse festgefahren; sicher gibt es Aufbruch und Heilung, aber dicht daneben - vertane Chancen.

Planer und Politiker könnten das demokratische Utopia entschlossener als Aufgabe begreifen; dazu gehört die politische Teilhabe der Bürger, aber auch eine kluge Liegenschaftspolitik und ein ressortübergreifender Masterplan, der frei ist von Vetternwirtschaft und autoritärem Gehabe.

Wo könnte dieses Ziel angesagter sein als in Berlin, der ehemaligen Reichshauptstadt, der Trümmerstadt, der heutigen Bundeshauptstadt - dem europäischen Utopia?