Hysterie oder autistisches Schweigen

Die Aussichten, in den Banlieues Stimmen zu gewinnen, sind gering. Vielleicht hat die französische Politik auch deshalb so wenig gute Ideen zum Thema

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Die "problematischen Zonen" werden beim französischen Wahlkampf bislang nicht angefasst. Es geht den beiden großen Rivalen vor allem um die Wirtschaft, um das Update des Modells Mitterand (Hollande) oder des deutschen Modells à la Schröder (Sarkozy). Inwieweit ein Update der Politik in den Banlieues nötig wäre, ist eine Frage, die man anscheinend den rechten Populisten überlässt.

Der Grund für die Abwesenheit der Banlieues als Thema liegt im Kalkül, das Engagement im Wahlkampf rechnet sich nicht, klärt Le Monde auf. Zwar würden die Bewohner der "zones urbaines sensibles (ZUS)" insgesamt etwa 10 Prozent der Einwohner Frankreichs stellen, aber die Quote derjenigen, die nicht zur Wahl gehen, ist in den Vorstädten beinahe schon traditionell hoch. Dazu komme, wie Experten bei einer Konferenz herausstellten, dass sich viele Viertelbewohner nicht groß um das Personal der Parteipolitik kümmern. Das werde als entfernte Welt wahrgenommen, erklärt ein Politikprofessor.

Clichy-sous-Bois (Chemin des postes). Bild: Marianna. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

So erscheint es für die Parteien auch als nicht besonders lohnend, sich vor Ort ins Zeug zu legen. Auch der FN, die Partei Marine Le Pens, hält sich dort zurück. Die Aussichten in den Banlieues Stimmen zu gewinnen, sind gering. Das gilt auch für Sarkozy.

Doch gibt es die großen nationalen Themen, wo die Banlieues eine wichtige Rolle spielen, etwa bei der Jugendarbeitslosigkeit, Sicherheit und Wohnungsbau - ganz dezidiert beim Riesenprojekt der Renovierung der Städte (rénovation urbaine, ANRU), dessen Volumen mittlerweile auf zwischen 40 und 50 Milliarden Euro angesetzt wird. Da kommt dann die Rede auch auf die Problemviertel, allerdings kaum so, dass neue Erkenntnisse oder gar Lösungsvorschläge erwartet werden können.

Während die rechte Seite dazu neige, das Thema "Vorstädte" zu hysterisieren, herrsche auf der linken ein "autistisches Schweigen", diagnostiziert Gilles Kepel in einem lesenswerten Interview. Kepel ist ein Politologe, der sich als Experte des politischen Islams weltweit einen Namen gemacht hat. Seine zuletzt erschienene Arbeit Banlieue de la République untersucht die Lebensverhältnisse in den Vorstädten mit einer beachtlichen intellektuellen Sorgfalt, der jahrelange Ortsstudien vorausgingen.

Problem im Zentrum der Staatsentwicklung

Die Banlieues sind kein periphäres Phänomen, sondern eins, das emblematisch für Probleme steht, die im Zentrum der Entwicklung moderner Staaten auftauchen - es wäre gut und ratsam; da genauer hinzusehen, so könnte man den Appell Kepels übersetzen. Gemeint ist damit sowohl eine theoretische, wie eine konkrete Anstrengung. So machte Kepel darauf aufmerksam, dass die Nahverkehrsverbindungen zwischen den Vorstädten und dem Zentrum Paris so schlecht sind, dass das Pendeln für die Bewohner draußen zu einer ernsthaften Hürde wird. Dies bilde ein weiteres Moment, das die Entkoppelung zwischen den "problematischen Zonen" und dem Rest des Landes ausfrechterhält.

Wie andere auch, sieht Kepel im Arbeitsleben den Schlüssel zur Integration, Ausbildung und Schule sind elementar wichtig. Wird dies allerdings nur unzureichend umgesetzt, bleibt es bei halbherzigen Versprechungen, kann die Chance in eine riskante Lage umkippen. Die größte Wut gegen die französische Gesellschaft, so stellte sich bei Kepels Studien heraus, trat bei jenen Banlieue-Bewohnern zutage, die trotz höheren Schulabschlüssen keinen Arbeitsplatz fanden.

"Für sie sind die Reden über die Republik zu Lügenreden geworden", so Kepel. Die Abweisung verstärkt den Impuls, sich in einen Islamismus zurückzuziehen, der als Substitut funktioniert ("islamisme de substitution"). Wenn Schulwissen nicht weiterhilft, wird die Schule entwertet und hat auch keine moralische Autorität mehr. Die französische Politik hat das offensichtlich noch nicht genügend begriffen, Talentsucher aus den USA und Katar (Katar investiert in die französischen Vorstädte) zeigen zumindest andere Möglichkeiten auf.

Leere Schulkantinen und Schlüsse daraus

Bereits in den Schulkantinen lasse sich die Abwertung der Schulen im Verhalten der Bewohner ablesen, beobachtet Kepel. Die Speiseräume waren oft leer. Grund dafür sei, dass die Schulkantinen kein Halal-Essen anböten, die Familien würden ihre Kinder dann lieber zuhause essen lassen.

Laut Kepel sollten Schulen ihr Angebot anpassen. Einmal weil es wichtig sei, dass die Beziehung zwischen den Schulen und den Bewohnern intakt bleibt und nicht degradiert wird. Zum anderen sieht Keppel in der Halal-Bewegung ein emanzipatorisches Projekt - in Analogie zum "Bio-Trend" oder dem Vegetarismus. Eine neue Generation würde damit einen neuen islamischen Lebensstil probieren, der wohlweislich seine Unterschiede zu den Alten bemerkbar macht.

Dass man das Kopftuch oder den Schleier am Eingang zur Schule ablegt, sei demgegenüber zur Routine geworden; aus diesem Problem sei die heiße Luft raus, auch wenn man diese Vorschrift eher befolge, als dass man sie verstanden habe. Das Problem, das die Politik in einem größeren Rahmen hat, verlegt Kepel auf das Verständnis und die politische Auslegung von Laizität. Von den Bewohnern der Banlieues werde Laizität als Kampfbegriff verstanden, der gegen den Islam gerichtet ist. Da müsse man noch einige pädagogische Arbeit verrichten, bis das Prinzip der Laizität in die Verfassung aufgenommen werden kann. Anders als 1905 gehe es nicht mehr um Trennung, sondern um Intergration. Man müsse begreiflich machen, dass Laizität dafür ein begünstigender Faktor sein kann.