Die Romantik einer Revolution

Der Popsommer 1982 jährt sich zum zwanzigsten Mal - eine Reminiszenz an bessere Zeiten

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Vor etwa zwanzig Jahren musste man noch nicht blöd, karrieregeil oder homosexuell sein, um Popstar werden zu können. Gruppen wie ABC, Soft Cell oder Depeche Mode machten mit hedonistischem Zitatpop die frühen Achtziger zu einer Zeit, die durchaus erträglich war - im Gegensatz zu aktuellen Charts, Revivals und TV-Rückblicken wie der heutigen 80er-Show auf RTL.

"I can`t help myself" (Four Tops, 1965) "Just like the Four Tops, I can`t help myself" (Edwyn Collins/Orange Juice, 1982) "I want to go back there again" (Chris Clark, vergessene Motown-Sängerin, 1967)

Die grauenhaften Achtziger. Wer wüsste das besser als RTL, selbst ein Kind der vorletzten Dekade. Die samstäglichen 80er-Shows mit Oliver Geißen, der immer so schaut, wie die Doofis, denen man in der großen Pause gerne mal vors Schienbein getreten hat, waren ein erstklassiger Beweis. Heute wird der Käse wegen des krassen Quotenerfolgs noch einmal als Best-Of-Zusammenschnitt aufgewärmt.

Natürlich wird auch wieder der Fun nicht zu kurz kommen, wie schon in den ganzen Sendungen zuvor. Schon wahnwitzig lustig, wie z.B. in der 1982-Sendung die radebrechende Premiere-Kappe Axel Schulz mit dem durch Alkohol erodierten Trio-Drummer Peter Behrens "Da da da" brachte. Endlose 60 Sekunden lang stammelt der dümmlich grinsende und einen Casio schwingende Schulz "Da da da" auf der Bühne und es hört nicht auf und Stoiker Behrens scheint sich zu denken "Hau bloß ab" und Schulz macht einfach weiter den Deppen. Bis das johlende Publikum endlich den Abgang bejubeln darf. Die unvermeidliche Feldbusch, obgleich vor 20 Jahren gerade mal ein 14-jähriges Teenie-Schmalspurmodell mit größerer Nase, darf herumquieken, stark geschminkt und gequält auf Teenie gestylt und von der Farbe ihres Höschens erzählend, und man ahnt: Die Frau wird bald existenzielle Probleme kriegen.

Wirklich witzig ist als Abwechslung von der TV-Runde, die über brüllend-lustige Onanie-Anekdoten aus Schulzens DDR-Jugend feixt, wieder einmal nur der DDR-Einspieler: ein originaler staatlicher Fernsehspot, der den Ost-Jugendlichen nahebringt, dass man mit seinem Personalausweis nicht sorglos umgehen darf (und sogar einen blanken Busen blitzen lässt). Ein Ausweis bleibt auf dem Sitz in der Straßenbahn liegen und der Off-Kommentar lautet "(...) beim Bus- oder Bahnfahren, überall besteht die Gelegenheit, seinen Personalausweis zu verlieren!". Hier nahm ein Staat noch auf die Bedürfnisse seiner Bürger Rücksicht! Ebenfalls wunderbar die Discoszene, in der ein anonymer Turnschuhfuß (mit den superhippen zwei Streifen) sanft auf den am Boden liegenden Ausweis drauftritt.

Aber damit genug von Spaß und Aufklärung, denn die RTL-Musikauswahl ist erwartungsgemäß dumpf-deutschnational auf die letzten Zuckungen der sogenannten Neuen Deutschen Welle fixiert. Selbst ostdeutschen Zombiebands wie Karat wird noch mehr Platz eingeräumt als Dexy`s Midnight Runners und Soft Cell, von denen je ein kurzer Videoschnipsel zu sehen war. Die einzigen Momente, wo der durchschnittliche Fernsehzuschauer vielleicht hätte ahnen können, dass die frühen Achtziger doch nicht ganz so schlimm waren.

Denn 1982 war schließlich ein absolut hervorragender Jahrgang, der sogenannte Pop-Sommer, in 1981 verwurzelt und mit Ausläufern bis in 1983 hinein. Allerdings wäre es für diese Erkenntnis nötig gewesen, über den BRD-Tellerrand hinauszuschauen. Großbritannien war nämlich das Land, aus dem (fast) alles Gute kam. Rückblende: die Welle (Wave) sogenannter neuer Musik die ab Anfang 1977 aus UK und USA auch nach und nach in den Helmut-Schmidt-Wehrbezirk einsickerte, ebbte zu Anfang der 80er stark ab. Punk begann komisch zu riechen und sich mit den ursprünglich verhassten Hippies bei den Demos gegen Atomkraft und den NATO-Doppelbeschluss zu verbrüdern. Die New Waver mochten nicht mehr bloß dumpf und depressiv und gitarrenlärmig sein. Ian Curtis, die Joy-Division-Ikone, war auch schon etwas tot. Man suchte nach neuen Ausdrucksformen, die die sogenannte schwarze Musik (abgesehen von Reggae/Ska) nicht mehr kategorisch ausschloss.

Auch die technologische Entwicklung hinterließ ihre Spuren. Industrial hatte zwar schon den Gebrauch von Synthesizer und Drumcomputer eingeführt, Pop war das aber, abgesehen von Ausnahmen wie der legendären ersten Mute-Single "Warm Leatherette/T.V.O.D." von The Normal, noch nicht. Kraftwerk brachten 1978 mit "Das Modell" auf der "Mensch-Maschine"-LP wohl das erste Synthipop-Stück mit klarer Popsongstruktur im 3-Minuten-Single-Format heraus. Das sollte Folgen haben.

Eine der Bands, die begeistert Kraftwerk gehört hatten und es vorzogen, von vornherein ohne Rock`nŽRoll-Gitarren zu musizieren, waren die Human League aus der Industriestadt Sheffield. "Reproduction" von 1979 war noch eine uneinheitliche Platte, wo düstere, experimentelle Tracks neben einer Coverversion des gigantischen 1965er Righteous-Brothers-Hits "You`ve lost that loving Feeling" stand. "Travelogue" von 1980 enthielt den Dancefloor-Klassiker "Being boiled", der bis heute gern auf Wave-Feten gespielt wird. Danach spaltete sich die Gruppe wegen der berühmten musikalischen Differenzen auf.

Die beiden Synthi-Programmierer Martyn Ware und Ian Craig Marsh gründeten Heaven 17 (der Begriff stammt aus Kubricks "Clockwork Orange"), Sänger Phil Oakey und Videomann Adrian Wright holten sich zwei neue Musiker plus zwei Sängerinnen/Tänzerinnen aus der örtlichen Disco und gingen mit Buzzcocks-Produzent Martin Rushent ins Studio. Das Ergebnis war "Dare!", eines der besten Synthipop-Alben aller Zeiten. Hier kommt der Journalist Andreas Banaski ins Spiel, der unter dem Pseudonym Kid P. für die damals führende deutsche Musikzeitschrift SOUNDS schrieb. Wie er mehrfach betonte, war er anscheinend der erste Deutsche, der Ende 1981 in London "Dare!" in Händen hielt. Warum war SOUNDS führend? In erster Linie wegen Banaski. Kein anderer konnte so witzig und pointiert auf den Punkt bringen, was den Popsommer 82 auszeichnete, auch nicht der damals als SOUNDS-Chefredakteur noch nicht von Kunstszene und Feuilleton korrumpierte Diedrich Diederichsen.

Kid P.`s Artikel wurden entweder geliebt und gehasst, dazwischen gab es nichts. Er vermengte Klatsch, bösen Witz, Charme, Geschichtsbewusstsein und seine stilbildende Apodiktik ("Tempo" wäre ohne ihn nicht denkbar gewesen) zu einer umwerfenden Melange. Der intellektuelle Überbau, der dem Pop-Treiben aufgesetzt wurde, bestand aus der Idee, dass expliziter Protest, wie er sich etwa im Punkrock der Clash oder Bots äußerte, weitgehend wirkungslos blieb, weil er von der Gegenseite zu leicht identifiziert und bekämpft werden konnte.

Subversion durch Affirmation war stattdessen ein Schlagwort von 1982 gegen die herrschende alternativ-linke Gesinnung. Ein einzigartiger Hit dieser Szene war der Ostermarschierer-Schlager Sonne statt Reagan von Joseph Beuys. Einer der damaligen Chefdenker, Green Garthside von Scritti Politti, verwies in Interviews darauf, dass ja bereits allein der Rhythmus der populären Musik, wie sie mit Elvis Presley Mitte der 50er eingeführt wurde, die Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft untergrabe.

Es war also für das Richtige Leben im Falschen offensichtlich nicht notwendig, ständig "Bullenschweine" zu brüllen und im selbstgewählten Subkulturghetto wie aus der Mülltonne gekrochen herumzukrebsen. Man durfte Spaß am Leben haben, obwohl immer noch der rheinische, von SPD und FDP verwaltete Kapitalismus regierte. Man durfte jung, verliebt, narzisstisch und genusssüchtig sein. Man durfte modisch sein und darauf hoffen, dass gute Stücke in die Hitparaden kamen, um die Menschen und ihre Verhältnisse zu verbessern. Die Hippies, sofern sie nicht bereits in der Regierung saßen, kandidierten als Grüne fürs Parlament und predigten Jute statt Plastik. Und die verhaschten, eingerosteten Alt-68er in der Kneipe schimpften wie die Eltern zuhause über die Jugend und unterstellten denen, die kurze Haare hatten und "maschinelle" Musik hörten, rechte Gesinnung.

Diese Erkenntnisse griffen viele aus der Generation der zwischen 1957 und 1967 Geborenen begierig auf. Teenage als Idee wurde von denen über 20 übrigens besser verkörpert als von den Teenies selbst. Tina Hohl z.B., die bei SOUNDS Redaktionsassistentin und Nesthäkchen war, schrieb ziemlich schlechte und dilettantische Plattenkritiken. Kid P. verliebte sich (trotzdem) in sie und machte das - der Zeit entsprechend - in seinen letzten SOUNDS-Artikeln und Plattenkritiken publik. Das Private war vom Politischen eben nicht so leicht zu trennen, wie die Altvorderen dachten, die sich abgeschlafft aufs Matratzenlager zurückgezogen hatten.

Zurück zur Musik: neben den Human League tauchten Anfang der 80er plötzlich einige weitere Pop-Bands in den Hitparaden auf, die ohne Gitarren und Schlagzeuger auskamen. Die ehemaligen Kollegen von Heaven 17 schockierten die britische Öffentlichkeit mit ihrer ersten Single "Fascist Groove Thang". Vordergründig ein herkömmlicher Protestsong, aber eben nicht stumpf, sondern leichtfüßig-ironisch gespielt. Eben so, dass auch der Gegner dazu tanzt. Das folgende Album "Penthouse and Pavement" war das erste Produkt der "British Electric Foundation"/B.E.F. Heaven 17 bildeten darin den Nukleus. Moderne, international agierende UND sozialistische Businessman-Typen wollten sie sein und als Geschäft die Veröffentlichung guter Popwerke betreiben. Der Yuppie im guten Sinne. "Music of Quality and Distinction" war das erste B.E.F-Projekt, das 1982 fertig wurde. Diverse Künstler coverten hierauf Klassiker aus den 60er und 70er Jahren wie Lou Reeds "Perfect Day", "You keep me hanging on" von den Supremes oder "Suspicious Minds" von Elvis in modernisiertem Gewand. Mit allerdings zwiespältigen Ergebnissen.

Depeche Mode machten mit "Speak and Spell" eine Debütplatte, die laut POP-Rocky "Zahnspangen zum Glühen" brachte. Wichtel Vince Clarke, der darauf alle Hits (z.B. "Just can`t get enough") geschrieben hatte, wollte aber eigentlich gar kein Popstar sein. Er verließ die Gruppe und gründete Yazoo mit der vollschlanken Bluessängerin Alison "Alf" Moyet. Bestimmt Pech für ihn, dass er damit auch wieder sofort den massiven Pop-Erfolg ("Only you"!) hatte.

Soft Cell wiederum schockierten Paul Weller und die konservativen Mods dieser Welt mit ihrer "Tainted Love"-Version und die bürgerlichen Tugendwächter mit ihrem schwülen Image und Albumtitel "Non Stop Erotic Cabaret". "Torch" oder "What" sind und bleiben Meisterwerke. Über Marc Almond gibt es weiter kaum etwas zu sagen, was noch nicht gesagt wäre. Außer, dass er letztendlich mit der Popstar-Rolle auch nicht zurechtkam und jetzt tatsächlich wieder mit seinem alten Partner Dave Ball als Soft Cell auftritt.

Die Human League ließen "Dare!" 1982 als "Love and Dancing" unter dem Alias "League Unlimited Orchestra" (in Bezug auf Barry Whites Love Unlimited Orchestra) remixen. Hits wie "Don`t you want me" wurden auf instrumentale Maxilänge gestreckt. Clara Drechsler verriss damals die Platte in SPEX: "Dazu hebt nicht einmal ein Hund sein Bein". FALSCH! Soft Cell brachten mit "Non Stop Ecstatic Dancing" ebenfalls eine Remixplatte heraus. Schöner Synthipop ist auch noch die zweite Depeche Mode "A Broken Frame", auf der neben einigen Songs im Vince-Clarke-Stil bereits schwermütigere Stücke sind, die die spätere Depeche-Art ankündigen. Daneben liefen noch ein paar Zweitliga-Synthi-Bands wie Orchestral Manoeuvres in the Dark (OMD), Tears for Fears oder Blancmange mit.

Im zweiten Teil: Compact, ABC und Dexys als Primusse einer überdurchschnittlichen Klasse und das Ende einer großen Affäre