Die Literatur am Abgrund der Zeit

SF als Religion und die Transformationskrise: Das Science Fiction Jahr 2001

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Gute Science Fiction müsse schockierender und unterhaltsamer als andere Literaturgattungen sein, meinte der US-Schriftsteller Robert Anton Wilson einmal. Die Lektüre von SF mache es darüber hinaus möglich, den ganzen Schutt an fehlgeleiteten Vorstellungen und Meinungen in der Kultur zu beseitigen und wieder damit anzufangen, über das "Wunder der Existenz" zu staunen. Das schafft sicher nur ein Teil der Werke. Wundern kann man sich aber auch über das ein oder andere Phänomen in der SF-Szene selbst.

Ein Höhepunkt der diesjährigen sechzehnten Ausgabe des SF-Jahrbuchs, das von Wolfgang Jeschke im Heyne-Verlag herausgegeben wird, ist der Essay "Sternschnuppenwünsche. SF als Religion" des Schriftstellers Thomas M. Disch. Dieser präsentiert in seinem stilistisch herausragenden Text einen eher dunklen Punkt der SF-Geschichte, nämlich, dass die SF neben ihren kuriosen Fandom-Aspekten - auch Nicht-Kennern der Materie dürfte mittlerweile das "Trekkie"-Phänomen geläufig sein - eine Subgeschichte als Sektenphänomen hat.

SF als Sektenphänomen

Die SF hat eine besondere Form der organisierten Literatur- und Medienbegeisterung hervorgebracht, das sogenannte Fandom, das eine eigene Welt darstellt mit Zeitschriften in Miniauflage, Veranstaltungen und sonstigen Aktivitäten (seitenlang werden in dem Jahrbuch SF-Preise aufgeführt, von deren Bedeutung außerhalb der Szene wohl niemand weiß). Fans betonen gerne die Unterscheidung zwischen SF- und bloßer "Mainstream"-Literatur. Keine Frage, dass die erstere als die überlegenere angesehen wird. Das mag sektiererisch sein, stellt aber natürlich nicht die Praxis einer sich hermetisch abschließenden Sekte dar.

Trotzdem wagt Disch eine psychosoziale Diagnose: die SF biete eine bevorzugte Spielfläche für den Typus des verkannten Genies, der an den Anforderungen des wirklichen Lebens zu scheitern droht, sich in eine Art Parallelwelt zurückzieht, in der er mit Gleichgesinnten die Geschicke bestimmt, und so seine Minderwertigkeitskomplexe kompensieren kann. Diese Form der Identitätsfindung sieht er als wesentlich an für die Religion. Es sei dahingestellt, ob diese Übertragung wirklich den Kern der Sache trifft. Wer aber schon mal auf einem Fandom-Treffen war, wird den Verdacht nicht los, dass die SF eine Literatur der gesellschaftlichen "Verlierer" ist, wie der von Disch selbst sektiererischer Umtriebe verdächtigte Autor Philip K. Dick gemeint hat.

Ein Abgrund tut sich auf, wenn Disch die SF-Inspirationen der japanischen Aum-Sekte beschreibt, die Mitte der neunziger Jahre in Tokio das Nervengas Sarin freisetzte und im ganzen Land eine Infrastruktur für die Produktion von Maschinengewehren und andere Vernichtungsmittel aufgebaut hatte. Sie steht für die apokalyptische Variante dieser Subgeschichte und wollte das Armageddon tatkräftig selbst herbeiführen. Dass dieses Vorhaben Ausfluss der literarischen Tradition innerhalb der SF ist, Katastrophenszenarien über große Bedrohungen für die Menschheit zu schreiben, ließe sich nicht von der Hand weisen, kann aber wohl nicht wirklich der SF angelastet werden. Neben dramatischen Erzählungen um die konkreten Auswirkungen von imaginären Asteroideneinschlägen oder eher surrealen Schilderungen des allmählichen Niedergangs der Kultur aufgrund nicht fassbarer Vorgänge beschreibt die SF ja die Ausrottung der ganzen Menschheit durch Viren oder ähnliches (beispielsweise auch in dem Film "Twelve Monkeys" von Terry Gilliam). Berufen hat sich die Sekte auf den berühmten "Foundation"-Zyklus von Isaac Asimov. Was die Sekte tat, wirkt wie ein schlechtes Szenario aus einem B-picture:

"Um ihre Hirnwellen mit denen des Gurus zu synchronisieren, wurden sie mit 'Elektrodenkappen' ausgerüstet, die PSI oder Perfect Salvation Initiation (Vollkommene Erlösungs-Einweihung) genannt wurden: gut sitzende batteriegespeiste Hauben, die ihre Kopfhaut in regelmäßigen Abständen Sechs-Volt-Schlägen aussetzten. Auf ihrem Höhepunkt besaß die Sekte über Japan verstreute kleine Fabriken, in denen Tausende von Arbeitern mit PSI-Helmen fleißig Maschinengewehre zusammenbauten, Nervengas produzierten, Kekse mit dem eingepressten Emblem von Aum buken und Zeremonialgewänder nähten. Willkommen in der vierten Dimension."

Ein anderes, vielleicht bekannteres Beispiel ist die Scientology-Kirche, gegründet von Ron L. Hubbard. Hubbard begann seine Karriere als nicht weiter auffallender SF-Autor und fasste irgendwann den Plan, statt der unterbezahlten Schreibarbeit für die Pulp-Magazine lieber gleich eine eigene Religion zu erfinden. Mit durchschlagendem Erfolg. Seine pseudowissenschaftliche Theorie der Dianetik stellt die Rückführung psychischer Probleme auf unterbewusste Fehlentwicklungen im Trancezustand dar - intellektuell für Disch eine Billigversion der Psychoanalyse. Ausgehend von dieser Idee - 1950 in der damals renommierten SF-Zeitschrift Astounding zum ersten Mal publiziert - entstand die Scientology-Kirche, die schnell ein Multi-Millionen-Dollar-Geschäft wurde und Hubbard zu einem reichen Mann machte. Es ging um nicht weniger als die stufenweise zu erreichende psychische Ankopplung an die verschütteten Kräfte der "Thetanen", die seit Urgedenken den Kosmos beherrschen und von denen die Menschen abstammen sollen. Klar, dass man beim Erklimmen dieser Stufenleiter eine Menge Geld los werden kann. In seinen letzten Lebensjahren lieferte er nach langer Schreibpause noch ein knappes Dutzend SF-Bände ab, darunter "Battlefield Earth", das in seiner Verfilmung John Travolta unlängst einen veritablen Kinoflop bescherte. Die Dianetik wurde am Anfang in Teilen der amerikanischen SF-Szene begrüßt - so auch von dem innerhalb der SF legendären, im letzten Jahr verstorbenen Autor Alfred E. van Vogt (er lieferte mit seiner Kurzgeschichte "Discord in Scarlet" aus dem Jahre 1939 die unerwähnte Vorlage für den "Alien"-Film), dem Rainer Eisfeld einen Nachruf im Jahrbuch widmet.

Als weiteres Beispiel nennt Disch die Sekte Heaven's Gate, die ihre ideologischen Wurzeln ebenfalls in diesem diffusen Gemisch aus SF-Motiven, Religiösität und Pseudowissenschaft hat. Zur Erinnerung: das ist die Sekte, deren Mitglieder beim Eintreffen des Kometen Hale-Bopp 1996 kollektiven Selbstmord begingen, um von diesem, von ihnen als Raumschiff erkannten Himmelskörper aufgenommen zu werden (Beam me up).

Widersprechen möchte man Dischs Einschätzung, dass der mittlerweile weit über die SF hinaus bekannt gewordene Schriftsteller Philip K. Dick beinahe zu einem Sektengründer geworden wäre. Dick lieferte die Vorlagen für Filme wie "Blade Runner", "Total Recall" und die kommende Spielberg-Produktion "Minority Report". Zwar hat auch der Zeichner Robert Crumb einen Comic mit dem Titel "Die religiöse Erleuchtung des Philip K. Dick" veröffentlicht, aber Dicks "Erscheinungen", die er in seinem Roman "Valis" verarbeitet hat, sind wohl zu sehr die Ergebnisse eines persönlichen Wahnsystems, als dass sie massentauglich gewesen wären. Disch kommt selbst zu dem Schluss, dass Dick sowohl der Sinn für die Manipulation anderer abgegangen wäre als auch die Geldgier - keine günstige Voraussetzung für die Gründung einer Sekte.

Die Krise der Kultur

Dass Gefahren durch durchgeknallte Sektenmitglieder in höherem Auftrag beileibe nicht die einzigen für die menschliche Zivilisation sind, zeigt der SF-Autor Norman Spinrad in seinem eindringlichen Essay "Die Transformationskrise" (engl. Fassung). Es handelt sich dabei um eine Natur- und Kulturgeschichte im Schnelldurchlauf vom Urknall bis zur Gegenwart. Das liest sich zuweilen wie eine Futurologie-Mischung aus Stanislaw Lem und Freeman Dyson (mit einem Schuss Robert Jungk), bleibt aber plausibel. Die Gefahr einer atomaren Vernichtung hält er für nicht gebannt; solange diese Waffen existieren, seien sie eine Bedrohung für das Überleben der ganzen Menschheit. Der Besitz dieser Waffen sei der "sichtbarste Ausdruck" für diese Transformationskrise, die er - ähnlich wie Lem - für ein Merkmal jeder kosmischen Zivilisation hält, die an einen bestimmten Punkt ihrer Entwicklung angekommen ist und an diesem scheitern kann. Und er sieht die Erfindung immer neuer Möglichkeiten der Selbstvernichtung voraus; das sei die unabänderbare Begleiterscheinung einer solchen Entwicklungsstufe.

"Die in geologischen Zeiträumen ablaufende physikalische Evolution ist von der enorm viel schnelleren kulturellen und technischen Evolution abgelöst worden, der blinde, ŽnatürlicheŽ Evolutionsprozess von bewusst getroffenen Entscheidungen. Was wir jetzt tun, bestimmt über die Zusammensetzung der Atmosphäre, die Albedo des Planeten, das Klima und die Beschaffenheit der Biomasse. (...) Das ist der Kern der Transformationskrise, einer Krise, die auf jedem Planeten eintreten muss, auf dem Bewusstsein als Krönung der Biosphäre entsteht. Das Bewusstsein muss sich über die gottähnliche, elementare Verantwortung klar werden, die solch eine gottähnliche Macht mit sich bringt, sonst wird es sterben."

Spinrad spekuliert darüber, was wohl passiert wäre, wenn es die Atomwaffentechnik schon früher gegeben hätte und Hitler in ihrem Besitz gewesen wäre. Aber er möchte die Möglichkeiten der SF nutzen und positive Visionen einer "Post-Transformationskrisen-Zivilisation" skizzieren. Eine solche Zivilisation bräuchte unerschöpfliche und saubere Energiequellen. Die fossilen Brennstoffe gehen zur Neige, und andere Energieformen wie Wind- oder Wasserkraft u.a. reichen nicht, um eine technische Zivilisation mit Milliarden von Menschen zu versorgen. Bevor aber die unermessliche Sonnenenergie direkt im Weltraum angezapft werden kann, müsse man sich auf der Erde mit der Nukleartechnik einrichten. Möglicherweise gelingt die Vervollkommnung der Kernfusionstechnik.

Eine Zivilisation, die mit einer solchen Energiereserve ausgestattet ist, werde sich über das gesamte Sonnensystem ausbreiten, Planeten terraformen und künstliche Raumhabitate bauen. Zugleich macht er sich über ihre "spirituelle" Verfassung Gedanken:

"Eins ist klar - eine solche Zivilisation wird keine Kriege führen, schon aus dem einfachen Grund, dass keine Zivilisation, die über derartige physikalische Kräfte verfügt, so ein Verhalten überleben könnte. Vorausgesetzt, es stehen unbegrenzte Energie, unbegrenzte Rohstoffe und unbegrenzter Raum für territoriale Expansion zur Verfügung, kann es überhaupt keinen rationalen Grund für Krieg mehr geben."

Das Begreifen dieser kulturellen Situation fasst als "kalte evolutionäre Notwendigkeit" zusammen - es sei die Aufgabe der heute lebenden Generationen, diese Krise zu bewältigen. Auch wenn seine spirituelle Charakterisierung dieser Kultur etwas knapp geraten ist, kann man seiner Einschätzung, was die gegenwärtige Lage betrifft, nicht widersprechen.

Dass die SF keine Zurückhaltung kennt, was das Überschreiten von Zeiträumen angeht, beweist der bekannte Autor Arthur C. Clarke ("2001") in seinem Essay "In tausend Jahren", obwohl dieser Titel auch mit einem Augenzwinkern zu verstehen ist und der Text nicht ohne eine gewisse Wehmut geschrieben ist, dass man natürlich gar nicht wissen könne, was in dieser Zukunft wirklich passieren wird. Wie Spinrad führt auch er einige Punkte an, die die Zufälligkeit der menschlichen Existenz in einem feindlichen Universum belegen. Ansonsten hält er sich nicht weiter mit der Analyse kultureller Probleme auf. Als Fortschritt in der Medienwelt erwartet er die "Einspeisung von Sinneseindrücken direkt ins Gehirn", wobei er sich nicht im klaren ist, ob die Existenz in solchen "elektronischen Sarkophagen" nun empfehlenswert sei oder nicht (er wiederholt hier nur Lems Idee der "phantomatischen Maschine"). Intelligente Maschinen können durchaus zu den Bewohnern dieses Planeten werden. Er meint, dass sich - trotz des aktuellen bescheidenen Zustands - eine Raumfahrt in den nächsten Jahrhunderten entwickelt, die das Sonnensystem erforschen und auch in den interstellaren Raum aufbrechen wird. Sein Ausblick auf ein "galaktisches Internet", aus dem die Menschheit am Ende dieses Jahrtausends das Wissen fremder Zivilisationen runterladen und so hoffentlich ihren " Eigendünkel" verlieren werde, ist wohl als milder Altersspott zu werten.

Weitere Artikel des Jahrbuches beschäftigen sich mit Werken einzelner Autoren, den Forschungszweigen der fantastischen Wissenschaft (wie der Pataphysik oder der Ochlokinetik) oder der polnischen SF in den neunziger Jahren.

Der Band bietet daneben ein umfangreiches Serviceangebot mit einer Auflistung international vergebener SF-Preise, einer Übersicht zu neuen Büchern, Filmen, Hörspielen, Computerspielen aus dem Zeitraum 99/00.

Wolfgang Jeschke (Hg.): Das Science Fiction Jahr 2001, Wilhelm Heyne Verlag, München 2001, 39,02 DM, 19,95