Boykott, das heißt … ?

Bild: Martin Abegglen/CC BY-SA-2.0

Was mit dem extrem strittigen und polarisierenden Begriff überhaupt gesagt wird, scheint in der politischen Debatte niemanden zu interessieren

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0.1 "Boykott" - kaum ein Begriff sorgt derzeit für mehr Furore. Speziell wenn es um die BDS-Bewegung geht (BDS für: Boycott, Disinvestment, Sanction). Während die BDS-Befürworter auf die Verteidigung der Menschenrechte auch für Palästinenser hinweisen, berufen sich die BDS-Gegner auf Antisemitismus - und schon machen sich deutsche Städteverwaltungen (u.a. in München und Frankfurt) die Hosen voll und verbieten in ihren Räumen Veranstaltungen, in denen Thesen und Forderungen dieser Boykott-Bewegung auch nur - vielleicht ja sogar kritisch! - thematisiert werden. Diskurs-Ethik? Wenn es um "Boykott" geht: pure Sonntags-Reden-Rhetorik.

Kurz: "Boykott", ein typisch politischer Begriff: wertbeladen, extrem strittig und polarisierend - und notorisch unklar. Und letzteres offenbar mit Bedacht. Jedenfalls fliegen in den diversen Boykott-Debatten nur so die Fetzen; aber was mit der Verwendung dieses Begriffs überhaupt gesagt wird und was nicht, das interessiert in dieser Debatte bisher offenbar niemand.

0.2 Dass in der politischen Auseinandersetzung Klarheit oft gar nicht erwünscht ist, ist nichts Neues. Aber es überrascht doch sehr, wie erschreckend wenig man sich bisher auch in der ganzen angeblich theoretischen (sozial- und politikwissenschaftlichen wie historischen) Boykott-Debatte um diesen Streit-Begriff gekümmert hat. Ist die Furcht, mit einer zu klaren politischen Rede seine Karriere aufs Spiel zu setzen, wirklich immer noch bzw. schon wieder so groß? Feigheit - auch für Akademiker erste Bürgerpflicht?

Eine echte Herausforderung also für jene Art Philosophie, der begriffliche Klarheit am allerwichtigsten ist: der Analytischen. Diese sieht in der Boykott-Debatte nicht ein Arsenal für die Produktion weiterer politischer Totschlagargumente, vielmehr stellt sie, ehe sie sich auf die heiße Bewertung diverser Boykott-Aktionen (i.F. auch kurz: B-Aktionen) einlässt, zuerst einmal klipp und klar die Frage, worum es bei solchen Aktionen überhaupt geht.

0.3 Genau wann ist eine Aktion eine B-Aktion? Nur um diese Definitionsfrage geht es in dieser Skizze. Auf die Frage, wie es um die moralische Bewertung einer so definierten B-Aktion (und dann auch speziell einer BDS-Aktion von der-und-der Art) steht, zu dieser ganz anderen Frage demnächst erneut an dieser Stelle.

1.1 Richten wir also die Frage, wann ein Tun als eine B-Aktion gelten soll, wieder einmal einfach an uns selbst. Unsere vorläufige Arbeits-Definition:

B-0 Boykott-Aktionen sind vorsätzliche Unterlassungshandlungen, mit denen der Boykott-Akteur X den Boykott-Adressaten Y zu einer Verhaltensänderung, nämlich ebenfalls zu einer Unterlassung bewegen will.

Beispiele? Es gibt Abertausende. Überall: vom Kindergarten über den Supermarkt bis zum UN-Sicherheitsrat.

1.2 Schon diese erste grobe Bestimmung zeigt: B-Aktionen sind ein soziales Handeln, d.h. ein Handeln, das mindestens zwei Subjekte (X und Y) betrifft. Zugleich sind B-Handlungen auch instrumentelle Handlungen, d.h. ein Tun, mit denen der Akteur etwas zu erreichen bzw. zu bewirken beabsichtigt.

Die involvierten Subjekte können auch bei B-Handlungen höchst verschiedenartige sein: Individuen, Gruppen und Institutionen. Ein weites Feld.

1.3 Diese beiden Aspekte zusammen - B-Aktionen als instrumentelle Handlungen, mit denen der Akteur (X) bei einem Anderen (Y) etwas bewirken will - ermöglichen eine erste Lokalisierung von B-Handlungen auf der Landkarte des Instrumentellen Sozialen (=IS) Handelns. Diese Karte unterscheidet, ob (a) das, was der IS-Akteur X tut, eine Handlung im normalen Sinne ist, oder ob er selbige bewusst nicht tut (d.h. unterlässt) und zudem auch, ob (b) auch das , was beim Anderen Y bewirkt werden soll, darin besteht, dass dieser etwas tut, was er sonst (ohne Intervention von Seiten des Akteurs) nicht getan hätte, oder darin, dass er, was er sonst getan hätte, infolge dieser Intervention nicht mehr tut, d.h. es daraufhin unterlässt. Die Kombination dieser Unterscheidungen ergibt folgende Matrix:

Die IS-Matrix

Diese Matrix hat zwei Lesarten: eine objektive, wonach das Tun bzw. Unterlassen von X (= X's Tun von f oder von non-f) das Tun bzw. Unterlassen von Y (Y's Tun von g oder von non-g) tatsächlich bewirkt; und eine subjektive, wonach der Akteur X eben dies zumindest glaubt. Eine IS-Handlung ist nur dann erfolgreich, wenn sich diese beiden Aspekte decken, d.h., wenn der Glaube des Akteurs X auch ein Wissen ist.

1.4 Was ist der logische Ort von B-Handlungen in der obigen Matrix? Ganz offensichtlich: Der Bereich (iv). B-Handlungen sind Unterlassungen (ein non-f-Tun) mit denen der B-Akteur X auch auf Seiten des B-Adressaten Y eine Unterlassung (ein non-g-Tun) herbeiführen will. Damit, dass ich nicht länger in die Rüstungsfirma RF investiere, will ich erreichen, dass RF nicht länger seine Waffen an das Land SA liefert.

1.5 Zur Erinnerung: Terroristische Akte (T-Akte) gehören zum Bereich (i). Der T-Täter will mit seinem T-Akt bewirken, dass sein Adressat Y etwas tut, was er ohne diesen T-Akt nicht tun würde; und Abschreckungs-Akte (die Zwillinge von T-Akten) gehören zum Bereich (ii). Der Abschreckende will mit seinem Akt bewirken, dass der Abzuschreckende etwas unterlässt, was er ohne diesen Abschreckungs-Akt tun würde.

2.1 Mit dieser logischen Verortung von Boykott-Akten in der IS-Matrix ist aber noch nicht die interne Logik der (intendierten) Wirkungsweise solcher B-Akte erfasst. Wie die T-Akte und die Abschreckungs-Akte sind auch die Boykott-Akte nicht nur durch ihre Ziele charakterisiert, vielmehr auch - wenn nicht gar primär - durch ihre Strategie, durch die Art und Weise, wie diese Ziele erreicht werden sollen. Diese Strategie ist - jedenfalls aus der Sicht ihrer Akteure - auch bei den B-Akten eine Konsequenzen-basierte: Wenn der Adressat nicht so reagiert, wie vom Akteur intendiert, wird das für ihn Konsequenzen haben, die er selber nicht wollen kann. M.a.W.: Aus der Sicht des Akteurs X ist die intendierte Reaktion auf Seiten des Y letztlich - und das ist der Hauptwitz (= die zentrale Präsupposition) von Boykott-Aktionen - in desseny eigenem Interesse. Die mit Boykott-Aktionen intendierten Verhaltensänderungen auf Seiten des Y sollen aus X's Sicht also aus entsprechenden (kognitiven und/oder voluntativen) Einstellungsänderungen resultieren.

2.2 Eine tiefer gehende Erklärung von B-Aktionen wäre daher diese:

B-1 Eine von X unternommene Aktion ist eine an den Y gerichtete Boykott-Aktion mit dem Ziel, dass Y non-g tut (g unterlässt) gdw. X's Aktion eine vorsätzliche Unterlassungshandlung (X etwa non-f tut) ist, mit der Y zu der Einsicht gebracht werden soll, dass fürderhin die Unterlassung seines bisher gezeigten Verhaltens g (d.h. non-g zu tun) eher in seinemY Interesse ist als sich einfach weiterhin so zu verhalten wie bisher (weiterhin g zu tun).

Der Stopp meiner Investitionen in die Firma RF ist also eine Boykott-Aktion gegenüber RF mit dem Ziel, dass RF nicht länger Waffen an SA liefert genau dann, wenn ich mit diesem Stopp die RF-Firma dazu bringen will, dass sie nicht länger Waffen an SA liefert - und zwar deshalb nicht, weil RF infolge meines Investitionsstopps zu dem Schluss kommt, dass nicht-länger-Waffen-an-SA zu liefern eher in ihrem Interesse ist, als weiterhin Waffen an SA zu liefern.

2.3 Wie bei instrumentellen Handlungen generell, so ist auch bei Boykott-Handlungen zwischen Handlungen im weiteren Sinne (von Boykott-Versuchen) und Handlungen im engeren Sinne (Boykott-Erfolgen - Erfolgreichen Boykott-Versuchen) zu unterscheiden. In der Definition B-1 geht es um Boykott-Versuche. Erfolgreich sind solche Versuche genau dann, wenn der Akteur X nicht nur sein primäres Boykott-Ziel erreicht (dass Y g unterlässt), dieses Ziel vielmehr genau in der von ihmX erwarteten Weise erreicht, nämlich eben dadurch, dass X's Unterlassung von f den Y zur Einsicht bringt, dass er, wenn er g unterlässt, besser fährt als wenn er weiterhin an der g-Praxis festhält.

2.4 Diese Unterscheidung - Boykott-Versuch vs. Boykott-Erfolg - fehlt in der bisherigen (ohnehin kaum existenten) Boykott-Semantik, in den Boykott-Begriffs-Erklärungen, völlig. Diese Semantik ist bisher ausschließlich an der (schon nicht mehr nur rein begrifflichen) inhaltlichen Erfolgsfrage orientiert. Dies erklärt, warum in der bisherigen Begriffs-Debatte auf der Akteur-Seite die Individuen und auf der Aktions-Seite mehr oder weniger isolierte Individual-Handlungen bzw. Unterlassungen völlig unter den Tisch fallen. Es sind diejenigen Fälle, die in der Realität am wenigsten erfolgsversprechend sind. Um solche großen Tanker wie Waffenproduktionszweige zu bewegen, braucht es die langfristige und gut organisierte Kooperation von Vielen. Die betreffende Boykott-Strategie ist dann eventuell die einer globalen Bewegung.

2.5 Trotzdem bzw. gerade deshalb: Wir insistieren auch bei Boykott-Handlungen auf der simplen Unterscheidung zwischen Versuch und Erfolg; und plädieren dafür, auch die singulären Individual-Fälle (auf der Aktions- wie auf der Akteur-Ebene) nicht völlig auszublenden. Nur so lässt sich eine trennscharfe Unterscheidung zwischen begrifflichen versus inhaltlichen Fragen aufrechterhalten, und so erst recht eine ebenso scharfe Trennung zwischen begrifflichen Fragen einerseits und Fragen der moralischen Bewertung andererseits.

2.6 Auch wenn Boykott-Versuche und Erfolgreiche Boykott-Versuche zwei Paar Stiefel sind, eine enge begriffliche Verbindung besteht zwischen beiden Handlungsaspekten trotzdem. Keine Unterlassung kann ein Boykott-Versuch sein, wenn deren Akteur den Erfolg dieses Versuchs nicht einmal für möglich halten sollte. M.a.W.: Kein Möchtegern-Boykotteur darf/kann rationaliter selber vom Misserfolg seines Boykott-Versuches überzeugt sein. (Wie stark sein Glaube an den Erfolg sein muss, das ist natürlich eine der vielen strittigen - und sicher nicht ohne Kontext-Bezug lösbaren - Fragen an der Grenze zwischen Begriffen und Sachfragen.)

2.7 Je nachdem, auf welcher Ebene die jeweilige Boykott-Aktion angesiedelt ist, lässt sich (freilich nicht trenn-scharf) zwischen einem ökonomischen, politischen, sportlichen, kulturellen etc. Boykott-Handeln unterscheiden. Der Interessenkalkül des Boykott-Adressaten, in den eine Boykott-Handlung zum Zwecke einer Interessen-Änderung einzugreifen beabsichtigt, muss also kein bloßer wirtschaftlicher (ökonomischer) Interessenkalkül sein.

2.8 Von Boykott-Handlungen sind Aufrufe zu solchen Handlungen zu unterscheiden. Auch wenn eine großangelegte Boykott-Aktion ohne Aufrufe nicht auskommen dürfte, notwendig für das Vorliegen eines Boykott-Versuchs ist ein solcher Aufruf nicht. Auch nicht für den Erfolg eines solchen. Aufrufe zu einem Boykott sind Aufforderungshandlungen, d.h. eine spezielle Art von Kommunikationsversuchen.

Auf Kommunikation angewiesen bzw. per Kommunikation optimierbar sind aber auch Boykott-Handlungen ohne vorangegangene bzw. sie unterstützende Boykott-Aufforderungen. Dies ergibt sich schon daraus, dass Boykott-Aktionen offene Eingriffe in den Interessenkalkül des Boykottierten sind bzw. sein sein sollen.

2.9 Auf einen weiteren interessanten kommunikativen Aspekt von Boykott-Handlungen macht die Philosophin Martha Nussbaum aufmerksam (Against Academic Boycotts, in: DIssent, 54/3, 2007, 30-36). Dieser zufolge sollten wir zwischen Interessen-bezogenen Boykott-Handlungen einerseits und rein kommunikativen Boykott-Handlungen andererseits unterscheiden. (Nussbaum nennt erstere zwar "ökonomische Boykott-Handlungen", aber es ist klar, dass sie mehr als nur ökonomische Interessen im Blick hat.)

Bei ersteren ist - siehe nochmal 2.6 oben - ein vom Akteur selbst für chancenlos gehaltenes Boykott-Handeln ein Ding der logischen (begrifflichen) Unmöglichkeit; nicht hingegen bei letzteren. Denn bei den rein kommunikativen Boykott-Handlungen gehe es den Akteuren selbst gar nicht um eine intendierte Interessen-Änderung auf Seiten der Boykottierten, vielmehr nur noch darum, das vom Boykottierten bisher praktizierte Verhalten offen zu missbilligen. Kurz: Solche Boykott-Handlungen seien einfach eine spezielle Form des öffentlichen Protests. Eines Protestes, der, wie man auch sagen könnte, nur seiner Form nach eine Boykott-Handlung sei.

2.10 Was uns an eine eventuell vergleichbare Parallele vom 14. Februar 2003 erinnert, jenem Tag, an dem weltweit so viel Menschen wie noch nie in der ganzen Geschichte der Menschheit unter dem Banner "Stop the War! - No War on Iraq!" auf die Straße gegangen waren. Auch die beiden Autoren dieses Beitrags. Damals in Leipzig. Und dies, obwohl wir felsenfest davon überzeugt waren, dass es für ein Stoppen dieses Krieges längst zu spät war. Trotzdem marschierten wir mit. Aber unser eigentliches Banner trug die Aufschrift "Not in our Name!"

2.11 Ist diese Parallele ein gutes Argument für die Nussbaumsche Boykott-Distinktion? Trägt deren Distinktion wirklich zur Klärung der semantischen Boykott-Frage bei? Oder macht sie die längst überfällige ethische Debatte solcher IS-Aktionen nur noch problematischer?

Klar, auch das sind nicht länger rein begriffliche Fragen.

Georg Meggle ist Analytischer Philosoph und Herwig Lewy einer seiner Doktoranden, der sich im Rahmen seiner Dissertation Künstlerische Freiheit gerade mit kulturellen Boykott-Problemen befasst. Von Georg Meggle sind zuletzt im mentis-Verlag erschienen: "Kommunikationstheoretische Schriften" und "Facetten des Sozialen".