Indien: Das tödliche Geschäft mit dem Sand
- Indien: Das tödliche Geschäft mit dem Sand
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Für ein volles Boot mit Sand erhält der Taucher umgerechnet 15 Euro. Auch Gegner des groß organisierten Sandraubs riskieren ihr Leben
Früh morgendlicher Dunst hängt tief über dem lang gestreckten und weitläufigen Vasai Fluss, nördlich von Mumbai. Ein Hauch von Salz des nahen Arabischen Meeres liegt in der Luft und vermischt sich mit dem Diesel der Bootsmaschinen. Nur langsam zeichnen sich erste Konturen von den gegenüberliegenden Wohn-Hochhäusern der Millionenstadt Thane ab. Sie gehört zum Großraum Mumbai, in dem 22,8 Millionen Menschen leben und der einer der am dichtesten besiedelten Metropolregionen der Welt ist.
Mit dem Einsetzen der Ebbe beginnt für die Sandtaucher ihr Arbeitstag. Mühselig wird der schwere, mit allerlei Plastikdreck und schwarzem Schlamm behangene Anker des bauchigen Holzbootes eingeholt. Andere Boote sind schon an einer geeigneten Stelle in Ufernähe in Position gebracht worden. Um die hundert Boote ankern hier in mehreren Reihen miteinander verbunden.
Lange Stahlrohre werden in den schlammigen Grund gehauen. Sie dienen den Sandtauchern unter Wasser zur Orientierung und als Halt gegen die Strömung. Schutzausrüstung gibt es nicht. Mit großen Blecheimern tauchen sie bis zu 12 Meter tief, um den dringend benötigten schwarzen Sand dem Flussbett zu entreißen.
Einer von ihnen ist Radhesyam Sahni. Für ein volles Boot mit Sand erhält der Taucher umgerechnet 15 Euro. Das ist immerhin fast das Vierfache des üblichen indischen Tagelohns und noch das Dreifache dessen, was die übrigen Arbeiter an Bord verdienen. "Unter Wasser ist alles schwarz", erklärt er, "mit meinen Beinen ertaste ich eine günstige Sandstelle und drücke anschließend den Eimer in den Sand, um ihn zu füllen".
Viele der Taucher klagen über Kopfschmerzen, Schwindelgefühle oder kaputte Trommelfelle. Verlieren sie unter Wasser das Bewusstsein, bedeutet das in dem trüben Fluss meist das Todesurteil. Die Leichen werden wegen der Strömung oft erst nach Tagen irgendwo angespült.
Im ostindischen Westbengalen schlängelt sich das ausgetrocknete Flussbett des Damodar durch eine laut Wikipedia der "wirtschaftlich fortschrittlichsten" Regionen des Bundesstaates. Was das bedeutet, kann man gut an dem Fluss ablesen. Wenn dieser den Ort Bardhaman erreicht, 100 km nordwestlich von Kolkata gelegen, ist er nur noch ein Schatten seiner selbst. Für insgesamt 5 Wasserkraftwerke sind der Damodar und seine Zuflüsse bis hierhin schon aufgestaut worden. Unzählige Industriezweige haben sich an seinen Ufern angesiedelt.
So fließen Reste aus der Kohlereinigung, des größten indischen Kohleabbaugebiets aus dem nahen Dhanbad, genauso in den Fluss wie die ungeklärten Abwässer unzähliger Stahlwerke, Düngemittelhersteller und Zementfabriken. Das brachte dem Damodar im Jahr 2003 den zweifelhaften Titel des am meisten verschmutzten Flusses Indiens ein.
Unsere ganze Zivilisation ist buchstäblich auf Sand gebaut
Auf dem weiten, sandigen Flussbett nahe Bardhaman sind unzählige Trecker mit Anhänger zu erkennen. Junge Männer aus dem benachbarten armen indischen Bundesstaat Bihar befüllen die Anhänger in Akkordzeit mit dem hellen Sand des Flussbettes. An den Ufern des verbleibenden Rinnsales werden mit Sand gefüllte Säcke von einem flachen Holzboot entladen.
Danach wird das Boot wieder in der Flussmitte verankert, um dort im hüfttiefen Wasser erneut mit Sandsäcken befüllt zu werden. Etwas flussaufwärts sind dagegen schon große Schaufelbagger am Werk, die die flachen Anhänger mit wenigen Schaufeln füllen. Die beladenen Hänger verschwinden anschließend auf den Dutzenden Baustellen der aufstrebenden Stadt, während die Löcher im Flussbett stündlich mehr und größer werden.
Unsere ganze Zivilisation ist buchstäblich auf Sand gebaut. Für jede Mauer, jede Straße, jedes Fenster, sogar für Kosmetikprodukte und für jeden Computerchip wird Sand benötigt. Er ist, neben Luft und Wasser, die meistgenutzte natürliche Ressource der Erde. Allerdings lassen sich nur Quarzsande aus der Erde oder dem Wasser verarbeiten. Wüstensand hingegen ist nicht brauchbar, da die Sandkörner durch den Wind rund geschliffen sind und sich durch die fehlenden Kanten nicht mehr verhaken können.
Durch die unzähligen Flüsse, die sich durch den indischen Subkontinent schlängeln und die 7.000 km lange Küste ist Indien zu einem Hauptexportland für den Rohstoff Sand geworden. Der Großteil wird allerdings im eigenen Land gebraucht. Hat Premierminister Narendra Modi doch selbst den ehrgeizigen Plan ausgegeben, dass im Jahr 2030 die Hälfte der indischen Bevölkerung in Städten wohnen soll.
In der frühen Abenddämmerung beginnen drei Schaufelbagger am Ufer des Yamunas, im Bundesstaat Uttar Pradesh, mit ihrer Arbeit. Zäh und sämig ist das tiefschwarze, stinkende Wasser hier, nachdem es die indische Hauptstadt Delhi durchquert hat. Der Strom ist wie viele andere Flüsse Indiens eher eine fließende Müllhalde. Über die Hälfte des gesamten Stadtmülls landet in dem Fluss, während im Hintergrund die modernen Neubauten der Metropolregion in den Himmel wachsen.
Die Bagger sind indes damit beschäftigt, das schwarz sandige Ufer auf großer Breite aufzubaggern. Gut gekleidete junge Männer haben hier das Sagen, deren teure Geländewagen so gar nicht in diese Landschaft passen. Geräumige Zelte mit Teppichen sorgen für angenehmen Schutz vor der Sonne. Doch Besucher sind hier schnell unerwünscht, zumal wenn sie eine Kamera bei sich führen. "Rede auf keinen Fall mit der Polizei", warnt einer von ihnen zum Abschied.
Die Bilder ähneln sich in ganz Indien. Hauptsächlich in der regenfreien Zeit, wenn die Flüsse nicht so viel Wasser führen, werden Sandbänke und Flussbetten ausgebaggert und abgetragen. Leistungsstarke Pumpen befördern mancherorts gleich das komplette Flussbett in bereitstehende Anlagen, wo Sand und Kieselsteine sauber voneinander getrennt werden.
Der südlich von Mumbai gelegene Kihim Beach, nahe der Stadt Alibag ist dagegen schon lange ein beliebtes Wochenendziel der Mittelschicht Mumbais. Privatvillen und Hotels verstecken sich hier zwischen dichten, tiefgrünen Palmen- und Nadelwäldern. Ein Sandstrand lädt zum Baden im Arabischen Meer ein.
Im Mai 2004 bemerkte die aus Mumbai stammende Umweltaktivistin Sumaira Abdulali zum ersten Mal, dass Sand vom Kihim Beach entfernt wurde. Als sie eines Nachts wieder die Motoren der Trucks hörte rief sie die Polizei und fuhr mit ihrem eigenen Auto zum Strand. Doch die Polizei ließ auf sich warten.
Dafür empfingen sie einige junge Männer, die schnell handgreiflich wurden. "Sie zerrten mich aus dem Auto, und schlugen mich zu Boden. Anschließend zerstörten sie die Scheiben meines Autos und drohten mir, falls ich weiter Ärger machen sollte", berichtet Sumaira.