Indien: Das tödliche Geschäft mit dem Sand

Seite 2: Ökologische Folgen des Baumbooms, Schmiergelder und Morde

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die anschließenden Festnahmen der Täter ergaben, dass unter ihnen der Sohn eines einflussreichen Regionalpolitikers war. Alle Angeklagten wurden später aufgrund von Mangel an Beweisen freigesprochen. Für Sumaira war dies ein Grund aktiv zu werden. 2006 gründete sie die Nicht-Regierungs-Organisation Awaaz Foundation. Diese hat sich zum Ziel gesetzt, Politik und Öffentlichkeit für die dringenden ökonomischen Probleme Indiens zu sensibilisieren.

Zwei Arbeiter fahren auf einem mit Sand befüllten Anhänger vom Flussbett Richtung Bardhaman- Stadt, im indischen West Bengal. Foto: Christian Faesecke

Jedoch hat der Bedarf an Sand in den letzten Jahren stetig zugenommen. Die indische Wirtschaft boomt mit Wachstumsraten von bis zu 7,2 % im letzten Quartal 2017 und hat damit zum wiederholten Male selbst China überholt.

Der anhaltende Bauboom führt besonders in Indien zu einer Verschärfung des Sandraubs. Die Gewinnspanne, die mit dem illegalen Abbau des überall frei verfügbaren Sandes erwirtschaftet wird, öffnet Tür und Tor für Umgehung der bestehenden Gesetze. Je höher der Gewinn, umso mehr einflussreiche Entscheidungsträger können bestochen werden.

Zudem sind viele Menschen an diesem Prozess beteiligt. Da sind zum einen die lokalen Arbeiter, die für einen schmalen Lohn ihre Arbeitskraft darbieten. Baufirmen stellen schweres Gerät wie Trucks und Schaufelbagger bereit. Es braucht Initiatoren, die Arbeiter organisieren und den Ablauf koordinieren, Mittelsmänner, die den Sand später an Baufirmen weiterverkaufen, und Politiker und Polizisten, die von einigen oder allen vorher genannten ihre Schmiergelder beziehen. Damit rieselt der Sand durch viele verschiedene Hände und verwischt dabei alle Spuren.

Ein Schaufelbagger belädt einen LKW mit frischem Sand aus dem Flussbett des Flusses Subarnarekha im ostindischen Bundesstaate Orisha. Foto: Christian Faesecke

Der Bauer Paleram Chauhan aus Raipur Khadar, einem Dorf südlich von Delhi hatte den Mut, sich diesem verzweigten System entgegenzustellen. Auf den Feldern der dörflichen Kooperative begann eine Gruppe junger Männer damit, die fruchtbare Erde abzutragen, um an den darunter liegenden Sand zu kommen. Niemand traute sich gegen die aggressiv auftretenden Männer vorzugehen., die selber aus dem gleichen Dorf stammten. Paleram rief immer wieder die Polizei, die untätig blieb. Er forderte die Behörden auf zum Handeln und reichte Beschwerden bei Gericht ein. Nichts passierte.

Stattdessen wurden der 52-Jährige und seine Familie bedroht und angegangen. Anfang 2013 kam einer der Anführer der Gruppe deswegen kurzzeitig in Haft. Wenige Wochen später wurde Paleram Chauhan am helllichten Tage in seiner Wohnung erschossen. Des Mordes angeklagt kamen der Anführer, dessen Bruder und ihr Vater, in Haft, wurden jedoch wenig später auf Kaution wieder auf freien Fuß gesetzt. Der Sandraub auf dem Gebiet der Kooperative geht dagegen ungestört weiter, während sich die Anklage durch die langsamen Mühlen der indischen Justiz müht.

Die ökologischen Folgen dieses jahrelangen Raubbaus sind überall sichtbar. Der einst breite, helle Sand von Kihim Beach ist größtenteils einem grauen Lehmboden gewichen. Im ostindischen Odisha bröckelt das in Jahrhunderten geformte Ufer des Subarnarekha-Flusses und bedroht nahe Siedlungen. Trotzdem wird das Flussbett weiterhin mit leistungsstarken Pumpen zu Tage gefördert und abtransportiert. In Maharashtra stürzte eine viel befahrene Highway-Brücke zwischen Mumbai und Goa ein, nachdem es wiederholt zu Sandraub flussaufwärts der Brückenfundamente kam. Sie riss 29 Menschen mit in den Tod.

Sumaira aus Mumbai befürchtet, das auch die Vaitarna-Zugbrücke im Norden Mumbais einsturzgefährdet ist. "Beinahe jede Nacht wird hier mit Pumpschiffen Sand aus dem Flußbett gestohlen" berichtet sie. "Dabei rollen hier Tag und Nacht vollbesetzte Züge über die Brücke" ärgert sie sich über die vorhersehbare Katastrophe, "und am helllichten Tag transportieren die Trucks den Sand zu den Baustellen, vorbei an Polizeikontrollen, die die Trucks nur gelangweilt durchwinken" fährt Sumaira fort. Bei einem Einsturz wäre die Hauptstrecke zwischen Mumbai und Delhi unterbrochen.

Mehrere LKWs stehen zwischen aufgeschütteten Sandbergen im Flussbett des Flusses Subarnarekha nahe der Stadt Jaleswar im ostindischen Bundesstaat Orisha. Foto: Christian Faesecke

In Thane machen sich gegen Mittag die ersten Boote wieder auf den Weg zum Anleger. Mühsam kämpft der laute Dieselmotor gegen die Strömung. Die Boote sind randvoll mit schwarzem Sand gefüllt, der umständlich mit großen, schalenförmigen Behältnissen entladen werden muss. Über schmale Planken balancieren die Arbeiter die Ware auf dem Kopf von Bord. Radhesyam telefoniert mit seinen beiden Kindern. Anfang Juni, zu Beginn der Regenzeit, wird er wieder bei ihnen in Maharashtra sein. "Sie fragen jeden Tag, was ich ihnen aus der großen Stadt mitbringe", erzählt er schmunzelnd.

Angestiegenes Bedrohungspotenzial

Viele indische Umweltaktivisten und Journalisten beklagen längst ein angestiegenes Bedrohungspotenzial bei ihren Recherchen. Die Untätigkeit der lokalen Behörden und der Polizei bei der Verhinderung und Aufklärung der Vorfälle zeigen, dass es viele gemeinsame Verstrickungen im Sandraub gibt.

Erst im März 2018 wurde der Journalist Sandeep Sharma auf seinem Motorrad von einem mit Sand beladenen Truck überfahren. Aufnahmen aus einer Überwachungskamera zeigen deutlich, wie der Fahrer des Trucks gezielt den Motorradfahrer überfährt. Sandeep hatte angekündigt, belastendes Videomaterial über einen Bestechungsvorfall zu veröffentlichen. Darin soll ein lokaler Politiker einer Schmiergeldzahlung über illegalen Sandraub zugestimmt haben. Sandeep erhielt daraufhin mehrere Morddrohungen. Wenige Tage vor dem Vorfall wurde ihm Polizeischutz verwehrt und stattdessen seine Kamera konfisziert.

Er war bereits der vierte Journalist, der nach Recherchen und Veröffentlichungen über illegalen Sandraub getötet wurde. Bereits im Juni 2015 starb der 46-jährige Jagendra Singh aus dem Bundesstaat Uttar Pradesh an seinen Verbrennungen, nachdem er von Polizisten in seinem Haus überfallen und mit Benzin übergossen wurde. In einem letzten Video aus dem Krankenhaus beschuldigte er einen Lokalpolitiker und einen Polizeikommissar des Mordes.

Im gleichen Monat wurde der 40-jährige Sandeep Kothari entführt, erwürgt und seine Leiche verbrannt, nachdem er einen illegalen Sandabbau zur Anzeige gebracht hatte. Und im Februar 2016 wurde Karun Misra auf seinem Nachhauseweg von drei Männern auf Motorädern erschossen. Der Gebietsleiter einer überregionalen Zeitung in Uttar Pradesh hatte zuvor ausführlich über den illegalen Sandraub im östlichen Teil des Bundesstaates berichtet. Bei anschließenden Festnahmen kam ans Licht, dass zwei in dem Artikel beschuldigte Bauunternehmer insgesamt 1.500 US-Dollar an drei Männer für den Mord bezahlt hatten.

Ein Arbeiter verhüllt sein Gesicht auf einer illegalen Sandbaustelle am Ufer des Flusses Yamuna, südlich der indischen Haupstadt Delhi. Foto: Christian Faesecke

Doch der Widerstand wächst. Die Zeitungen sind weiterhin voll von Berichten über Sandraub. Politiker überbieten sich gegenseitig mit Ankündigungen, wie sie mit entschlossenem Handeln gegen den Raub an der Natur vorgehen wollen. Der Kampf um die natürliche Ressource Sand ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

"Im Grunde ist es eine Sache von Angebot und Nachfrage" sagt Sumaira. "Das Angebot des Sandes ist endlich, die Nachfrage ist es scheinbar nicht." "Aber soweit darf es nicht kommen. Wir brauchen jetzt Alternativen," unterbricht sie sich selbst und ihr Blick gleitet einen Moment über den achtlos weggeworfenen Müll neben der Straße. "Am Besten irgendwas aus Plastik", fügt sie hinzu.