Krieg macht depressiv – auch an der Heimatfront

Symbolbild: Daniel Reche auf Pixabay (Public Domain)

Psychische Erkrankungen in Russland nehmen seit dem Ukraine-Krieg zu. Vor allem bei Menschen, die Empathie für die Angegriffenen haben. Hinzu kommen Familien, die sich darüber zerstreiten.

Dass das Jahr 2022 viele Russen depressiv gemacht und persönliche Krisen ausgelöst hat, kann selbst die zensierte Inlandspresse nicht verschweigen. So berichtet auch die regierungsnahe Nachrichtenagentur Tass darüber, dass die Ausgaben für Antidepressiva zwischen Januar und September 2022 um 70 Prozent gestiegen sind, wobei der höchste Pro-Kopf-Verbrauch auf die Metropolen Moskau und St. Petersburg, das nordische Karelien und die ukrainische Nachbarregion Rostow entfiel.

Mehr Antidepressiva und psychologische Behandlungen

Die Nachfrage nach psychologischer Behandlung in Russland stieg laut einem Bericht der Zeitung Kommersant 2022 landesweit um elf Prozent. Den höchsten regionalen Anstieg verzeichneten mit Kursk (plus 99 Prozent) und Rostow (plus 64 Prozent) unter anderem zwei Grenzgegenden zur Ukraine.

Bereits vor dem Krieg war 2021 die Zahl der Drogentoten um 37 Prozent angestiegen. Da es der zweite Anstieg in Folge war, gab es innerhalb von zwei Jahren eine Verdopplung. All das, obwohl, wie die exilrussische Zeitung Meduza berichtet, das tatsächliche Ausmaß des russischen Drogenkonsums sehr schwierig zu erfassen ist. Vor allem fehlt es an Langzeitstudien.

Der Alkoholismus befindet sich laut dem Fachportal Protiw Raka und einem Bericht aus dem vergangenen Monat in Russland ebenfalls auf einem anhaltend besorgniserregenden Niveau. Ein Viertel der Russen sterbe durch die direkten oder indirekten Auswirkungen von Alkoholmissbrauch, obwohl die Weltgesundheitsorganisation die offizielle Anti-Alkoholpolitik der letzten Jahre positiv bewertet.

Starke Ängste in der Gesellschaft

All das sind Indikatoren, die vor allem in ihrer Kombination auf zunehmende gesellschaftliche Probleme hinweisen, vor allem eine gestiegene Angst. Die Gesamtzahl der von Angst geplagten Russen lag gemäß einer Studie des Meinungsforschungsinstituts FOM im Herbst 2022 höher als auf dem Höhepunkt der Coronavirus-Pandemie im April 2020. Mit 70 Prozent ist nun ein Rekordwert in der Geschichte der Beobachtung erreicht.

Dies äußere sich auch durch die häufigere Inanspruchnahme der Dienstleistungen etwa von Notaren, berichtet Kommersant. Dieser Berufsstand habe mehr als sechsmal so viel Kundschaft wie normal – Menschen, die ihre Angelegenheiten regelten, bevor sie in den Krieg ziehen oder ins Ausland gingen.

Einen großen Anteil an der depressiven Stimmungslage schreibt Kommersant der Mobilmachung im September 2022 zu, als der Feldzug in der benachbarten Ukraine in Form von zwangsweise eingezogenen Soldaten in jeder russischen Kleinstadt spürbar wurde. Die Psychologin Tamara Petscherer gibt dazu an, viele Menschen benötigten ihre Hilfe aktuell vor allem, weil sich Familien darüber entzweit hätten, wie sie zu diesem Krieg stehen.

Vor allem bei Teenagern erfasse sie eine Zunahme vom Depressionen und Panikattacken. Jüngere Russen würden sich auch in eine Scheinwelt flüchten, gerade junge Männer voll und ganz in einem Universum aus Computerspielen aufgehen.

Wer gegen den Krieg ist, leidet oft mehr

Was Petscherer bei der aktuellen Pressezensur nicht öffentlich ergänzen kann, ist, dass es vor allem die jungen Russen sind, die gegen den Krieg eingestellt sind. Deshalb kommt bei ihnen noch ein weiterer krank machender Umstand infrage: Sie leiden psychisch darunter, dass durch die eigenen Landsleute Kriegsverbrechen begangen werden, von denen sie über inzwischen illegale Onlinemedien oder aus Sozialen Netzwerken erfahren.

Die Empathie für die Opfer der russischen Regierungspolitik kann in Verbindung mit Ratlosigkeit und Ohnmachtsgefühlen ebenfalls psychisches Leid verursachen – das natürlich nicht mit dem vergleichbar ist, was die Kriegsopfer selbst durchmachen.

Dennoch leiden viele mit – die fehlende Empathie, die bei den Russen immer wieder beklagt wird, ist kein Phänomen der jüngeren Generation. So häufen sich in der oppositionellen Online-Presse, die vor allem von den Jüngeren und anderen Nichteinverstandenen gelesen wird, Ratgeberartikel – etwa zum Umgang mit den ständigen schlimmen Bildern in den Nachrichten oder darüber, was von Selbsthilfeliteratur zur Angstbekämpfung zu halten ist.

Währenddessen bezieht die Mehrheit der älteren Generation geschönte Nachrichten aus den klassischen Medien. Sie stellt die eigene Kriegführung seltener in Frage und wird von ihr gesundheitlich auch weniger aus der Bahn geworfen. Dennoch ist die Lebenserwartung in Russland 2021 zum zweiten Mal in Folge gesunken - laut Protiw Raka wegen des recht sorglosen Umgangs der Russen mit der Coronavirus-Pandemie.

All diese Indikatoren können jedoch nur eine Momentaufnahme bieten. Sie schließen die bekannten schweren Langzeitfolgen von Kriegseinsätzen nicht ein – etwa Rückkehrer mit körperlichen und seelischen Verletzungen, etwa posttraumatischen Belastungsstörungen.

Wie auch immer der Ukraine-Krieg ausgeht: Auch die Gesundheit vieler Russen wird auf der Verliererseite sein. So fügt jeder Monat des Krieges nicht nur dem ukrainischen, sondern auch dem russischen Volk Schaden zu.