Blutzoll einer "demokratischen Revolution"

Vor einem Jahr wurde Haitis Präsident Jean-Bertrand Aristide gestürzt. Heute versinkt das Land im Chaos. Trotz der UN-Truppen droht ein Bürgerkrieg

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Vor einem Jahr hat in Haiti die Demokratie gesiegt. So zumindest wurde der Sturz von Jean-Bertrand Aristide (Bärendienst für Demokratie) in der Nacht auf den 1. März 2004 in Washington dargestellt. Auch zum Jahrestag des Staatsstreiches hat sich an dieser Rhetorik nichts geändert. Die politischen und sozialen Probleme des Landes aber haben enorm zugenommen. Allein in den vergangenen vier Monaten wurden in Haiti 250 Menschen getötet. Neben der gewöhnlichen Kriminalität wächst auch die politische Gewalt. Die 7400 Soldaten der UN-Schutztruppe (MINUSTAH) sehen dieser Eskalation nicht nur zu. Sie bilden die Nationalpolizei aus, die von Menschenrechtsorganisationen selbst für zahlreiche Gewaltdelikte verantwortlich gemacht wird.

Erwartungsgemäß kam es am Montag, dem Jahrestag des Putsches, zu gewalttätigen Ausschreitungen. Als sich Anhänger der sozialreformerischen Lavalas-Bewegung des gestürzten Präsidenten Aristide in dem Armenstadtteil Bel Air der Hauptstadt Port-au-Prince zur Demonstration versammelten, eröffnete die Polizei das Feuer. Mindestens zwei Demonstranten kamen dabei ums Leben.

Nach Presseberichten hatten die Teilnehmer des Protestes die Rückkehr "ihres" Präsidenten gefordert und Parolen gegen die US-Regierung skandiert. Washington wird unter Aristides Anhängerschaft nach wie vor für dessen Sturz verantwortlich gemacht. Der gewaltsame Zwischenfall am Montag war zu befürchten, weil es in den Armenvierteln in den vergangenen zwölf Monaten immer wieder zu blutigen Konflikten zwischen Anhängern des (immer noch gewählten) Präsidenten und der neuen "Police Nationale d'Haiti" gekommen war.

Die Ursachen dafür sind durchaus eine Ermessensfrage. Während die Vertreter der Übergangsregierung die regelmäßigen Razzien in den Lavalas-Stadtteilen mit dem Vorgehen gegen "Kriminelle" und "Drogenbanden" begründen, beklagen Sprecher der Aristide-Partei Fanmi Lavalas politische Repression.

Putschumstände ungeklärt

Zur Beruhigung der Lage könnte eine Klärung der Putschereignisse beitragen. Aber auch ein Jahr nach dem Sturz Aristides ist der Ablauf ungeklärt. Fragwürdig ist, dass sich ausgerechnet die damaligen Fürsprecher des Umsturzes - die USA, Frankreich und Kanada - bis heute vehement gegen eine solche Untersuchung wenden. Aristide zumindest vertritt in seinem südafrikanischen Exil bis heute die These, dass er auf Anweisung der drei beteiligten Regierungen entführt wurde. Eine unabhängige Kommission zur Klärung des Geschehens Ende Februar 2004 wird auch von der Karibischen Staatengemeinschaft (CARICOM) und der Afrikanischen Union (AU) gefordert. Der ehemalige US-Außenminister Colin Powell jedoch hatte diese Position schon wenige Wochen nach dem Staatsstreich mit den Worten abgetan. Eine Untersuchung "würde nicht weiterhelfen", so Powell damals.

Doch gerade das ist anzuzweifeln. Die Lavalas-Anhänger fordern schließlich vehement die Rückkehr Aristides, den sie als einzig legitimes Staatsoberhaupt ansehen. Die maßgeblich von Washington und Paris installierte Übergangsregierung indes hat die Wahlen entgegen einer zunächst versprochenen Halbjahresfrist auf November dieses Jahres verschoben. In dieser Situation dürfte die Gewalt in unverminderter Härte bis zu dem Urnengang anhalten. Die Fanmi Lavalas hat bereits mit ihrem Rückzug aus dem Wahlkampf gedroht, wenn führende Mitglieder nicht aus den Gefängnissen entlassen würden.

Kritik von Menschenrechtsorganisationen

Welche Rolle kann in dieser vertrackten Situation die UN-Schutztruppe spielen? Während die ursprünglich geplante Entwaffnung aller paramilitärischen Milizen inzwischen als gescheitert angesehen werden muss und sich beide Lager in erbitterter Feindschaft gegenüberstehen, ist die MINUSTAH vor allem mit dem Aufbau der Nationalpolizei betraut. Doch gerade diese Beihilfe ist problematisch. Nicht nur, weil sie dem gewählten Präsidenten verweigert wurde, als vor einem Jahr schwerbewaffnete Milizen auf die Hauptstadt vorrückten.

Die Menschenrechtsorganisation amnesty international macht gerade die "Police Nationale d'Haiti" für einen bedeutenden Teil der Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Man sei "erstaunt", so heißt es in einer Erklärung vom vergangenen November diplomatisch, dass die Nationalpolizei Menschen zunehmend ohne rechtliche Grundlage festhalte. In dem Papier wird zudem kritisiert, dass ehemalige Armeeangehörige Polizeistationen übernommen hätten und Festnahmen durchführten. Bedenklich ist diese Entwicklung, weil die Armee von Aristide 1995 ob ihrer Verstrickungen in die Verbrechen der langjährigen Duvalier-Diktatur aufgelöst worden war. Schon im Verlauf des Putsches im Februar vergangenen Jahres war berichtet worden, dass sich die gegen Aristides Regierung vorrückenden paramilitärischen Einheiten aus ehemaligen Soldaten zusammensetzten. Nach Angaben von Eugenia Charles-Mathurin, Direktorin der Aristide-nahen Mapou-Stiftung mit Sitz in Washington, setzt die Übergangsregierung der paramilitärischen Gewalt nichts entgegen.

Diese Gruppen spielen in Haiti heute eine große Rolle, sie üben die Kontrolle über weite Teile des Landes aus. Besonders in den ländlichen Gebieten obliegt es ihrer Entscheidung, wer lebt und wer stirbt. Sie sind es, die die Regeln schaffen. Trotz der von ihnen begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen macht die Übergangsregierung unter Gerard Latortue kein Geheimnis daraus, diese Kräfte in die Polizei integrieren zu wollen.

Eugenia Charles-Mathurin im Gespräch mit Telepolis

Wie andere Menschenrechtsorganisationen fordert Charles-Mathurin eine unabhängige Beobachtermission in Haiti, von der die Lage der Menschenrechte beurteilt wird. Eine solche Forderung ist in den vergangenen zwölf Monaten aber ebenso folgenlos verhallt wie der Ruf nach einer Untersuchung des Putschgeschehens.